Warum der Euroraum nach der Krise mehr Arbeitskräftemobilität braucht

Handlungsempfehlungen

  1. Nach der Krise braucht der Euroraum mehr Arbeitskräftemobilität, um Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit zu entlasten und Ungleichgewichte abzubauen.
  2. Eine höhere Mobilität kann sowohl mit flexibleren Stellen als auch mit einer EU-weiten Arbeitsvermittlung erreicht werden.
  3. Arbeitskräftemobilität alleine reicht nicht, sondern muss durch weitere Ausgleichsmechanismen ergänzt werden.

Zusammenfassung

Die Instabilität des Euroraums bleibt ein Problem. Wenn Arbeitskräftemobilität als Stoßdämpfer nach asymmetrischen Schocks greifen soll, müssen die politischen Möglichkeiten dafür besser ausgeschöpft werden. Dazu braucht es Reformen auf nationaler und europäischer Ebene in drei Bereichen: Erstens müssen die Bedingungen für mobile Arbeitsplätze verbessert werden. Zweitens muss ein europäischer Arbeitsmarkt  mit effektiver Vermittlung von Ausbildungsplätzen und freien Stellen geschaffen werden. Drittens brauchen wir zusätzliche Ausgleichsmechanismen, um die Arbeitskräftemobilität zu ergänzen.

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Warum der Euroraum nach der Krise mehr Arbeitskräftemobilität braucht

Warum Arbeitskräftemobilität Fluch und Segen zugleich sein kann

Braucht die Eurozone mehr Arbeitskräftemobilität oder nicht? Diese Frage beschäftigt die Wirtschaftswissenschaften und die Politik seit Beginn der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Der Euroraum ist von Anfang an kein optimaler Währungsraum gewesen. Es gibt eine einheitliche Geldpolitik, aber keine gemeinsame Fiskalpolitik. Da es keine direkten Fiskaltransfers gibt und der reale Wechselkurskanal nicht einwandfrei funktioniert, müssen makroökonomische Ungleichgewichte anders ausgeglichen werden. Hier könnte Arbeitskräftemobilität helfen.[1]
Arbeitskräftemobilität kann makroökonomische Ungleichgewichte reduzieren: Nämlich dann, wenn ArbeitnehmerInnen aus strukturschwachen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit in dynamische Regionen umziehen und dort bessere Arbeitsbedingungen und höhere Gehälter vorfinden. Dadurch sinkt die Arbeitslosigkeit in strukturschwachen Regionen und die Sozialkassen werden entlastet. Mit Hilfe von Überweisungen an Verwandte und Freunde in strukturschwachen Regionen steigt dort die Kaufkraft wieder.

Arbeitskräftemobilität kann zwei gegensätzliche Effekte haben: sie kann Ungleichgewichte verkleinern oder auch vergrößern.

Zu viel Mobilität kann aber auch makroökonomische Ungleichgewichte verstärken. Die Abwanderung der jungen und besser qualifizierten Bevölkerung kann einen asymmetrischen Schock verstärken. Diese Entwicklung würde die Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion gefährden. Arbeitskräftemobilität kann also zwei gegensätzliche Effekte haben: sie kann Ungleichgewichte verkleinern oder auch vergrößern.

Arbeitskräftemobilität nach der Krise: Das sagen die Zahlen

Was wissen wir über die Rolle der Arbeitskräftemobilität nach der Krise? Seit Beginn der Großen Rezession 2008 gab es eine Umkehr der Nettomigrationsströme: Bis 2007 zogen viele EU-BürgerInnen in den boomenden Süden der Währungsunion. Dort fanden die meisten Jobs in arbeitsintensiven Sektoren wie Tourismus, Bauindustrie und Pflege. Nach dem Platzen der Immobilienblase und dem wirtschaftlichen Kollaps versiegte der Strom der EU-ArbeiterInnen in diese Länder schnell. Stattdessen gingen viele nach Deutschland, Österreich und in andere nördliche Länder.
Diese Trendwende wurde jedoch nicht von Arbeitssuchenden der südlichen Krisenländer eingeleitet, sondern vielmehr durch die Umleitung der Ost/West-Ströme.[2] Anstatt nach Spanien und Italien zu gehen, zog es Migranten aus Osteuropa nach der Krise hauptsächlich nach Deutschland, Österreich und in die Niederlande. Arbeitssuchende aus Osteuropa reagierten damit deutlich auf die neue Arbeitsmarktlage.
Ein vergleichbarer Trend lässt sich von Süden nach Norden nicht feststellen. Vielmehr deuten die Daten darauf hin, dass viele junge Leute in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit wieder bei ihren Eltern wohnen, um Miete zu sparen. Das vergrößert den Fiskaldruck und erhöht die Diskrepanz zwischen vorhandenen und geforderten Qualifikationen: Die Chancen, eine Arbeit zu finden, verschlechtern sich weiter. Viele junge Menschen sind für ihren Job überqualifiziert. Diese Effekte kommen besonders in Spanien und Italien zum Tragen, wo mehr als 30 Prozent der ArbeitnehmerInnen keine passende Stelle gefunden haben.[3]
Die fehlende Arbeitsmarktmobilität lässt sich deutlich am Beispiel Deutschlands zeigen, wo trotz der Krise die Arbeitslosenquote stetig gefallen ist. Nach der Stoßdämpfer-Logik sollte es viele ArbeitnehmerInnen aus der Eurozone anziehen. Das Land wurde tatsächlich zum attraktivsten Zielland für EU-BürgerInnen der letzten Jahre (zusammen mit dem Vereinigten Königreich), aber die überwiegende Mehrheit von EU-ArbeiterInnen kam aus den neuen Mitgliedsstaaten. Trotz eines stetigen Anstiegs von ArbeiterInnen aus Spanien, Griechenland und Italien (obgleich auf niedrigem Niveau), hat sich die Anzahl von ArbeiterInnen aus alten EU-15 Ländern (einschließlich Vereinigtes Königreich, Schweden und Dänemark) in Deutschland seit 1999 nur um 150.000 vergrößert.[4] Allein die Anzahl neuer Arbeitskräfte aus Polen ist höher gewesen als die von allen südlichen Krisenländern zusammen. Nettomigration nach Deutschland betrug 3.000 aus Griechenland, 24.000 aus Italien, 4.000 aus Portugal und 11.000 aus Spanien zwischen 2010 und 2014. In der gleichen Zeit kamen 73.000 Menschen aus Polen und 93.000 aus Rumänien.[5]

Grafik 1: Nettowanderungen von EU-27 BürgerInnen in der Eurozone, 2006,2013, Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen, Nordeuropa = Belgien, Deutschland, Niederlande, Österreich, Südeuropa = Griechenland, Irland[6], Italien, Portugal, Spanien.
Die Migration von Südeuropa nach Nordeuropa lässt sich vermutlich auf die Unterschiede in der Arbeitslosigkeit zurückführen, aber sie sind vergleichsweise gering. Das deutet darauf hin, dass im Binnenmarkt Lohndifferenzen eine größere Rolle als Unterschiede in der Arbeitslosigkeit spielen. Gerade der Ausgleich der Arbeitslosenquoten ist aber für die Stabilität des Euroraums wichtig.

Drei Strategien für eine höhere und effizientere Arbeitskräftemobilität

Fakt bleibt, dass die Arbeitskräftemobilität bisher zu gering war, um als ein echter ökonomischer Stoßdämpfer zu fungieren.

Fakt bleibt, dass die Arbeitskräftemobilität bisher zu gering war, um als ein echter ökonomischer Stoßdämpfer zu fungieren. Was sollte die Politik also tun? Da alternative Anpassungsmechanismen fehlen, kann höhere Arbeitskräftemobilität nur von Vorteil sein. Wir brauchen für dieses Ziel drei komplementäre Strategien:

1. Arbeitsplätze sollten mobiler werden

Für viele Tätigkeiten ist es nicht zwingend notwendig umzuziehen. Mittlerweile können viele Arbeitsschritte von zuhause oder einem beliebigen Arbeitsplatz aus erledigt werden. Pendeln ist leichter und billiger geworden. Der Umzug in ein anderes Land dagegen ist teuer. Die Politik sollte sich deshalb auf Infrastrukturinvestments konzentrieren, die mobile Arbeitsbedingungen schaffen, ohne einen Wohnortwechsel vorauszusetzen.
Hier spielt die Digitalisierung der Arbeitswelt eine große Rolle. Viele spezialisierte Aufgaben können an Selbständige übergeben werden, die flexible Arbeitsorte haben. Ein Beispiel aus der EU für den Ausbau der digitalen Infrastruktur sind Investitionen in Breitbandverbindungen, die im Juncker-Plan im Rahmen der Digitalen Agenda vorgesehen sind.
Flexiblere Arbeitsarrangements ohne tatsächlichen Umzug zu ermöglichen ist eine effiziente Strategie. Die Frage ist allerdings, ob es alleine reichen kann. Viele Tätigkeiten, besonders im stetig wachsenden Dienstleistungssektor, sind weiterhin auf eine permanente Präsenz am Arbeitsplatz angewiesen. Es kann daher nur einen Teil der Lösung darstellen.

2. Der Arbeitsmarkt sollte europäischer werden

Mehr Mobilität muss auch durch den Ausbau von bereits bestehenden europäischen Netzwerken wie EURES erreicht werden, welches auf lange Sicht zu einer europäische Arbeitsagentur werden könnte. EURES hat allerdings ein Geld- und Bekanntheitsproblem: Die Vermittlungsleistung könnte verbessert werden, wenn es mehr Öffentlichkeitsarbeit gäbe und ein größeres Budget zur Verfügung stünde. Bis heute haben nur 15 Prozent der Europäer von diesem Netzwerk gehört. Dazu könnten die nationalen Agenturen Vermittler für Arbeitssuchende in der ganzen Union werden, indem sie mehr Arbeitsangebote austauschen und europäische Datenbanken aufbauen.
Your first EURES Job (YSEJ), ein Programm, das 2012 von der EU-Kommission ins Leben gerufen wurde, verbindet das EURES Netzwerk und nationale Partneragenturen, um Arbeits- oder Ausbildungsplätze für junge arbeitslose Europäer (zwischen 18 und 35) zu schaffen.[7] YSEJ bietet dazu nicht nur die Rückerstattung von Reisekosten an, sondern unterstützt auch den Bewerbungsprozess.
Logistische Hilfe und größere Kooperation allein werden wahrscheinlich nicht genug sein, um die hohe Arbeitslosigkeit in der EU, besonders unter jungen Leuten, zu bekämpfen. Sie brauchen gezieltere Unterstützung. Da es bislang keinen echten europäischen Arbeitsmarkt gibt, sind besonders europäische Programme vielversprechend, die die Ausbildung und Schulung junger Menschen in einem anderen europäischen Land fördern. Hier können duale Ausbildungsplätze mit europäischer Hilfe geschaffen werden.
Diese Idee wird von Erasmus Pro: Für eine Million junge Europäische Auszubildende bis 2020 aufgegriffen.[8] Der Vorschlag für eine EU-weite Initiative setzt den Fokus auf Ausbildungsberufe. Erasmus Pro möchte bis 2020 jedes Jahr bis zu 200.000 jungen Menschen helfen, einen Berufsabschluss in einem anderen europäischen Land zu erlangen. Nationale Regierungen, ArbeitgeberInnen und die EU würden dabei gemeinsam die Kosten des Auswahlverfahrens, der Vorbereitung, und Ausbildung tragen. Erfolgreiche AbsolventInnen hätten nicht nur eine professionelle Qualifikation erworben, sondern auch neue Sprachkenntnisse. Sie können damit sowohl in ihrem Herkunftsland als auch in ihrem Gastland nach Arbeitsplätzen suchen. Die Initiative löst drei Probleme auf einmal: Sie hilft die Jugendarbeitslosigkeit zu reduzieren, vergrößert den Pool von BewerberInnen für Unternehmen, die Arbeitskräfte suchen und vermittelt zusätzliches Sprachtraining (und kulturelles Wissen). Alle drei Effekte stärken den europäischen Arbeitsmarkt.

3. Ausgleichsmechanismen unbedingt als Ergänzung

Die Arbeitskräftemobilität muss durch weitere Ausgleichsmechanismen ergänzt werden. Viele Vorschläge liegen auf dem Tisch. Die Vor- und Nachteile sind hinreichend bekannt.[9] Allen gemein sind Elemente eines zyklischen Anpassungsmechanismus, der nach einem asymmetrischen Schock in der Währungsunion zum Tragen käme. Ein zyklischer Anpassungsmechanismus trägt dazu bei, Länder besser gegen asymmetrische Schocks abzusichern und die Kosten gleichmäßiger zu verteilen. Um Moral Hazard zu umgehen, könnte der Versicherungsschutz an vorherige Reformen gebunden werden. Einige Reformvorschläge setzen allerdings eine Änderung der Europäischen Verträge voraus und sind deshalb nicht schnell umzusetzen.

Ein zyklischer Anpassungsmechanismus trägt dazu bei, Länder besser gegen asymmetrische Schocks abzusichern und die Kosten gleichmäßiger zu verteilen.

Ein zyklischer Anpassungsmechanismus ist eine Möglichkeit, um besonders Ungleichgewichte in der WWU zu entschärfen. Indem Geld von Regionen und Ländern mit hoher Beschäftigung und Wachstum in strukturschwache Regionen geleitet wird, stabilisiert sich die Nachfrage im Abschwung und stabilisiert den regionalen Arbeitsmarkt.[10]

Arbeitskräftemobilität bleibt wichtig für Reformprogramm in der WWU

Der zuletzt sprunghaft angestiegene Zustrom von Flüchtlingen aus Krisenregionen bindet im Moment viel politische Aufmerksamkeit und Ressourcen. Die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt hat zu Recht höchste Priorität. Dieses Ziel und eine allgemein höhere Arbeitskräftemobilität in der EU sollten sich aber nicht gegenseitig ausschließen. Sie könnten vielmehr komplementäre Ziele sein: Von einem echten europäischen Arbeitsmarkt profitieren alle.

Mehr Mobilität kann die Arbeitslosigkeit mindern und helfen die Eurozone zu stabilisieren. Beides ist in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage wichtig.

Wir haben dazu drei sich ergänzende Strategien präsentiert. Optimal wäre, sie alle gleichzeitig anzugehen. Mehr Mobilität kann die Arbeitslosigkeit mindern und helfen die Eurozone zu stabilisieren. Beides ist in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage wichtig.

[1] Zum Beispiel A. Arpaia, A. Kiss, B. Palvolgyi und B. Turrini, „Labour mobility and labour market adjustment in the EU“, Europäische Kommission Economic Paper 539, Brüssel (2014).
[2] Dawn Holland und Pawel Pachlukowski, „Geographical labour mobility in the context of the crisis“, European Employment Observatory (2013).
[3] OECD, Survey of Adult Skills, OECD: Paris, 2012.
[4] Eurostat und Autorenkalkulation.
[5] Statistisches Bundesamt, Ausländisches Zentralregister (2015).
[6] Irland wird in dieser Grafik zum „Süden“ hinzugezählt (gemäß dem Konzept der PIIGS-Länder).
[7] „Your first EURES Job“, Homepage: http://www.yourfirsteuresjob.eu/en/home
[8] Jacques Delors, Henrik Enderlein, Pascal Lamy, Enrico Letta, François Villeroy de Galhau, António Vitorino, Jean-Michel Baer und Sofia Fernandes,  Erasmus Pro: for a million „young European apprentices“ by 2020 (2015)
[9] Zum Beispiel Bertelsmann Stiftung (Hg.), A European Unemployment Benefit Scheme, Verlag Bertelsmann Stiftung: Gütersloh (2014); Miroslav Beblavý und Ilaria Maselli, „An Unemployment Insurance Scheme for the Euro Area“, CEPS Special Report 98 (2015), S. 1-74; Grégory Claeys, Zsolt Darvas und Guntram B. Wolff, „Benefits and Drawbacks of European Unemployment Insurance“, Bruegel Policy Brief 06 (2014), S. 1-8; Henrik Enderlein, Lucas Guttenberg und Jann Spiess, „Blueprint for a cyclical shock insurance in the euro area“, Notre Europe Studies & Reports 100 (2013), S. 1-97.
[10] Laszlo Andor, Fair Mobility in Europe, Social Europe Occasional Paper (Januar 2015), Berlin: Friedrich Ebert Stiftung

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die die Autoren arbeiten, überein.
Schlagworte
Euroraum, Integration, Arbeitskräftemobilität, Krise, Ungleichgewichte, Arbeitslosigkeit
Zitation
Auf dem Brinke, A., Dittrich, P.J. (2016). Warum der Euroraum nach der Krise mehr Arbeitskräftemobilität braucht. Wien. ÖGfE Policy Brief, 11’2016
Hinweis
Dieser Policy Brief ist in gekürzter Form in der Wiener Zeitung erschienen.

Dr. Anna auf dem Brinke

Dr. Anna auf dem Brinke ist Wissenschaftlerin am Jacques Delors Institut - Berlin und arbeitet zur Reform der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion. Sie hat einen PhD vom Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und zuvor Wirtschaftswissenschaften in London studiert.

Paul-Jasper Dittrich

Paul-Jasper Dittrich ist Wissenschaftler am Jacques Delors Institut - Berlin. Neben den europäischen Arbeitsmärkten beschäftigt er sich vor allem mit der digitalen Transformation der europäischen Volkswirtschaften und dem Digitalen Binnenmarkt. Er hat einen M.A. in Political Economy von der Berlin School of Economics and Law.