Impulse des Europäischen Parlaments für eine sozial gerechtere Europäische Union

Handlungsempfehlungen

  1. Für viele Bürger:innen sind die europäischen Institutionen und deren Arbeitsweise schwer verständlich. Anstatt dies populistisch auszunutzen, sollte auf zugängliche und objektive Weise über die EU informiert werden.
  2. Dem Europäischen Parlament kommt hier eine besonders wichtige Aufgabe zu. Darüber hinaus sollte seine Rolle insgesamt aufgewertet werden – insbesondere durch ein Initiativrecht im Gesetzgebungsprozess.
  3. Die Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union bedarf der angemessenen Berücksichtigung diverser Interessen – in Verhandlungen, die auf Augenhöhe geführt werden.

Zusammenfassung

Das Europäische Parlament spricht stellvertretend für alle Bürger:innen der Europäischen Union (EU). Als einzig direkt gewähltes Organ genießt es damit eine besondere Rolle in der demokratischen Legitimation allen Handelns der EU. Dennoch wird dem Europäischen Parlament faktisch eine bloß untergeordnete Rolle im Verhältnis zum Rat der EU (idF: der Rat) und der Europäischen Kommission zugesprochen. So wird dem Europäischen Parlament insbesondere nach wie vor kein Initiativrecht im Gesetzgebungsprozess überlassen. Dies, obwohl wesentliche Impulse, vor allem in Richtung einer sozialeren und nachhaltigeren Form des Wirtschaftens, aus dem Europäischen Parlament kommen. Damit präsentiert sich das Europäische Parlament nicht nur als handlungsaktives, zukunftsorientiertes Organ im Gefüge der EU, sondern leistet darüber hinaus als Stimme der europäischen Bürger:innen auch ein wesentliches und wichtiges Gegengewicht zu jener der Mitgliedstaaten im Rat. In Verhandlungen nimmt der Rat zwar eine sehr viel dominantere Position als das Europäische Parlament ein. Diesem Ungleichgewicht zum Trotz konnte das Europäische Parlament dennoch vieles im Sinne einer sozialeren und gerechteren Institution für alle bewegen. In diesem Policy Brief sollen angesichts der demnächst abzuhaltenden Wahl zum Europäischen Parlament Schlaglichter auf ausgewählte Themen der vergangenen Legislaturperiode geworfen werden.

****************************

Impulse des Europäischen Parlaments für eine sozial gerechtere Europäische Union

Zur institutionellen Rolle des Europäischen Parlaments

Aufgrund des in der Vergangenheit vielfach kritisierten vermeintlichen „Demokratiedefizits“ der Europäischen Union (EU) im Hinblick auf die bloß eingeschränkten Kompetenzen des Europäischen Parlaments wurden zwar die Kompetenzen desselben schrittweise ausgebaut und dessen Rolle gestärkt. Als einzig direkt gewähltes Organ der EU spielt es aber im Kräfteverhältnis der EU-Organe nach wie vor eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Insbesondere jüngste Erfahrungen, in denen erreichte Kompromisse im Trilog von einzelnen Mitgliedern des Rats der Europäischen Union (idF: der Rat) wieder zerschlagen wurden (so bspw. beim EU-Lieferkettengesetz, der Richtlinie zur Plattformarbeit sowie dem EU-Renaturierungsgesetz), stellen nicht nur einen demokratiepolitisch bedenklichen Schritt dar, wird doch damit das wechselseitige Vertrauen der Institutionen in den Gesetzgebungsprozess auf EU-Ebene untergraben. Es zeugt überdies von einer vorherrschenden Missachtung[1] im Rat gegenüber den gewählten EU-Parlamentarier:innen. Dies behindert nicht nur ein konstruktives Arbeiten der EU, sondern stellt überdies einen Widerspruch zum Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Organen[2] dar.

Das Europäische Parlament konnte in der vergangenen Legislaturperiode Initiativen anstoßen und im Sinne einer vorausschauenden Politik mitgestalten.

Doch auch wenn dem Europäischen Parlament kein Initiativrecht zum Vorschlag neuer Richtlinien und Verordnungen zugesprochen wird, auch wenn die Interessen des Rats seit jeher wesentlich dominanter und bestimmender in den finalen Kompromiss einfließen: Das Europäische Parlament konnte in der vergangenen Legislaturperiode dennoch Initiativen anstoßen und im Sinne einer vorausschauenden Politik mitgestalten. Insofern stellte das Europäische Parlament in der vergangenen Legislaturperiode für progressive, europäische Kräfte einen wichtigen Bündnispartner dar, der um eine wirksame Lösungsfindung im langfristigen, gesamteuropäischen Sinn bemüht ist. Die aktuellen Prognosen sagen eine Erstarkung der bekennend EU-skeptischen Kräfte voraus – und zwar in einem Maß, wie es das Europäische Parlament bislang noch nicht erlebt hat. Eine in diesen Prognosen durchscheinende, durchaus von österreichischen Entscheidungsträger:innen mitbefeuerte EU-Skepsis in der Bevölkerung[3] ist jedoch häufig mangelndem Wissen über die europäischen Institutionen geschuldet,[4] weshalb man dieser konstruktiv begegnen könnte und sollte.

Angesichts solcher Bedenken und der bevorstehenden Europawahl gibt es Anlass dazu, sich einmal mehr Erfolge des Europäischen Parlaments ins Gedächtnis zu rufen und aufzuzeigen, inwieweit diese zu mehr sozialer Gerechtigkeit in der EU verhalfen. In diesem Policy Brief sollen in Anbetracht der demnächst abzuhaltenden Europawahl Schlaglichter auf ausgewählte Themen der vergangenen Legislaturperiode geworfen werden.

Sozial gerechte Arbeitsbedingungen

Während der COVID-19-Krise wurde die gesellschaftliche Bedeutung der in den letzten Jahren entstandenen Plattformökonomie ebenso sichtbar wie das ausbeuterische Potential dieser Vermittlungs- und Beschäftigungsform, in der bis 2025 EU-weit rund 43 Millionen Personen beschäftigt sein werden.[5] Plattformen dieser sogenannten „Gig Economy“ (z. B. Lieferando) behaupten jedoch vehement, dass die bei ihnen beschäftigten Personen selbstständig seien. Gewerkschaften und Arbeitnehmer:innen-Vertretungen kritisierten seit jeher die Umgehung des Arbeits- und Sozialrechts sowie der Steuergesetze. Neben prekären Arbeitsbedingungen und Löhnen steht mittlerweile fest, dass plattformbasiertes Arbeiten bestehende soziale Ungleichheiten, Gender-Segregationen und wirtschaftliche Abhängigkeiten verstärkt.[6] Dass die Europäische Kommission ihren Vorschlag im Dezember 2021 überhaupt vorgelegt hat, ist auch der zuvor ergangenen Entschließung[7] des Europäischen Parlaments zu verdanken, die faire und transparente Arbeitsbedingungen für Plattformbeschäftigte forderte. Durch die nun ausverhandelte Richtlinie wird eine Beweislastumkehr zugunsten eines Arbeitsverhältnisses bei Plattformen eingeführt. Plattformen müssen also den Beweis erbringen, dass kein (unselbstständiges) Arbeitsverhältnis vorliegt. Dies stellt einen ersten, wichtigen Schritt zur Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit in diesem Bereich dar.

Durch den Einsatz des Europäischen Parlaments wurde der enge Fokus der Gesetzesinitiative auf gesetzliche Mindestlöhne um eine starke kollektivvertragliche Komponente erweitert.

Menschen sollten für ihre Arbeit einen Lohn erhalten, der nicht nur ihre Existenz sichert, sondern ihnen auch ein Leben in der ihnen zustehenden Würde ermöglicht. Selbst in der EU waren 2018 jedoch fast 10 % der Erwerbstätigen armutsgefährdet.[8] Die vorangetriebene, gesamteuropäische Regelung eines angemessenen Mindestlohns stellt daher eine der wichtigsten sozialpolitischen Initiativen der EU dar und wird richtigerweise als maßgeblicher Schritt sozialen Fortschritts gewertet.[9] So kann ihre Umsetzung vielen Arbeitnehmer:innen in EU-Mitgliedstaaten zu Gute kommen, in denen die Abdeckung durch Kollektivverträge derzeit zu niedrig ist[10] oder gesetzliche Mindestlöhne bestehen, deren Höhe zu gering ist, wie insbesondere in Osteuropa.[11] Besonders die Stärkung der Lohnfindungssysteme in anderen EU-Mitgliedstaaten durch die in der Richtlinie zementierte Verpflichtung, eine zunehmende Abdeckung der Arbeitnehmer:innen von Kollektivverträgen (auf zumindest 80 %) zu fördern, ist insofern ausdrücklich zu begrüßen. Durch den Einsatz des Europäischen Parlaments wurde der enge Fokus der Gesetzesinitiative auf gesetzliche Mindestlöhne um eine starke kollektivvertragliche Komponente erweitert.

Auch in anderen Bereichen setzte sich das Europäische Parlament für eine sozial gerechtere Arbeitswelt ein: so wurde eine effektive Lohntransparenz eingefordert, um das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu bekämpfen. Österreich rangiert hier auf Platz zwei der am schlechtesten abschneidenden EU-Mitgliedstaaten.[12] Mehr als zwei Drittel der Differenz lässt sich auf „unerklärbare Faktoren“ zurückführen, die schlichte Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellen.[13] Eben dieser kann mit der nunmehr erreichten Transparenz begegnet werden, da sich Frauen vor Gericht künftig besser gegen Lohndiskriminierung wehren können. Durch den Begriff „gleichwertige Arbeit“ wird zudem sichergestellt, dass Teilzeitarbeitende durch die Regelungen nicht schlechter gestellt werden.

Auch in anderen Bereichen setzte sich das Europäische Parlament für eine sozial gerechtere Arbeitswelt ein: so wurde eine effektive Lohntransparenz eingefordert, um das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu bekämpfen.

Ebenso wurde ein Grundrecht auf Nicht-Erreichbarkeit gefordert, da sich im Zuge der COVID-19-Pandemie der Einsatz von Home-Office rasant verbreitet hat. Im Home-Office verschwimmen jedoch oft die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit, weshalb das Europäische Parlament auf Unionsebene ein Grundrecht darauf einführen möchte, nicht rund um die Uhr erreichbar sein zu müssen. Gleichzeitig forderte das Europäische Parlament Mindestanforderungen für die Telearbeit hinsichtlich der Arbeitsbedingungen sowie der Ausgestaltung von Arbeits- und Ruhezeiten.[14]

Mit breiter, parteiübergreifender Unterstützung hat das Europäische Parlament im Juni 2023 ein Verbot unbezahlter Praktika eingefordert.[15] Damit wird vor allem eine Gleichstellung über soziale Schichten hinweg vorangetrieben: Berufliches Weiterkommen davon abhängig zu machen, ob sich die betroffene Person ein unbezahltes Arbeiten „leisten“ kann, verstärkt dagegen Ungleichheiten – insbesondere vor dem Hintergrund immer weiter steigender Lebenserhaltungskosten. Die EU-Kommission scheint darauf reagiert zu haben, hat jedoch angekündigt, den vorbereiteten Vorschlag aufgrund der bevorstehenden Wahl an die nächste Kommission weiterzugeben.[16] Es bleibt zu hoffen, dass die nächste EU-Kommission dieser Aufgabe auch nachkommt.

Überdies machte sich das Europäische Parlament für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Pflegesektor stark, der angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft wichtiger denn je ist und werden wird. So sollen im Zuge des EU-Pflegepakets mehr Menschen – und vornehmlich Männer – für den Pflegesektor gewonnen werden. Derzeit wird Pflegearbeit zu 90 % von Frauen verrichtet.[17] Wiederkehrende Pflegeskandale[18] dürfen nicht die Regel bleiben, stehen sie doch stellvertretend für tiefer liegende Probleme und Überlastungen im derzeitigen Pflegesystem. Pflege muss leistbar sein, für alle Menschen in guter Qualität zugänglich gemacht werden und muss dabei auch die Lebensrealitäten der Pflegenden berücksichtigen und wertschätzen. Investitionen in die Pflege erlauben nicht nur ein gemeinsames Altern in Würde, sondern zahlen sich im Übrigen aus: so fließen für jeden investierten Euro in die Langzeitpflege wieder rund 70 Cent in das System zurück.[19]

Überdies machte sich das Europäische Parlament für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Pflegesektor stark, der angesichts einer immer älter werdenden Gesellschaft wichtiger denn je ist und werden wird.

Eine gerechtere Weltwirtschaft

Nach Jahren politischer Verhandlungen soll das EU-Lieferkettengesetz künftig große Unternehmen dazu verpflichten, die Einhaltung von Menschenrechten entlang der Lieferkette für alle Produkte und Dienstleistungen zu überprüfen. Die neuen Regeln werden sowohl für in Europa als auch in Drittstaaten ansässige Unternehmen gelten. Auch letztere müssen saubere Lieferketten vorweisen, wenn sie im EU-Binnenmarkt einen bestimmten Umsatz erzielen. Dadurch sollen Wettbewerbsnachteile für europäische Unternehmen vermieden werden. Eine im Herbst 2023 von der Arbeiterkammer in Auftrag gegebene Studie zeugte von positiven Nettoeffekten für die europäische Wirtschaft und einem deutlich positiven wirtschaftlichen Wohlfahrtseffekt für den Globalen Süden.[20]

Dass das EU-Lieferkettengesetz nun beschlossen wurde, ist auch dem Druck des Europäischen Parlaments, der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft zu verdanken.

Im Sinne der Wirksamkeit forderte das Europäische Parlament auch eine Inkludierung des Finanzsektors und einen weiteren Anwendungsbereich der Richtlinie durch niedrigere Schwellen der betroffenen Unternehmen, echte Umweltsorgfaltspflichten sowie strengere Sanktionen. Gegen diese Forderungen sprachen sich gemeinsam mit dem Rat insbesondere die Wirtschaftsverbände aus, die Schreckensbilder wie „Bürokratiemonster“[21] oder „Bürokratielawinen“ heraufbeschworen.[22] Die Europäische Kommission legte ihrem Vorschlag wiederum eine Folgenabschätzung vor, wonach für große Unternehmen mit Mehrkosten von 0,005 % des jährlichen Umsatzes gerechnet wird.[23] Aufgrund dieses vehementen Widerstands wurden im finalen Kompromiss die Schwellenwerte massiv erhöht, eine lange Umsetzungsfrist vorgesehen und materielle Umweltsorgfaltspflichten aus der Richtlinie gestrichen. Dass das EU-Lieferkettengesetz nun beschlossen wurde, ist auch dem Druck des Europäischen Parlaments, der Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft zu verdanken.

Kürzlich wurde von der EU die Verordnung über ein Verbot von in Zwangsarbeit hergestellten Produkten verabschiedet.[24] Nun, fast 100 Jahre nach der Unterzeichnung der Konvention 29[25] der Internationalen Arbeitsorganisation gegen Zwangsarbeit wurde damit erstmals auch auf EU-Ebene ein Instrument zur Eindämmung von Zwangsarbeit geschaffen, von der weltweit in etwa 28 Millionen Menschen direkt[26], indirekt jedoch etwa 50 Millionen Menschen (bspw. als Hausbedienstete in erzwungenen Ehen) betroffen sind.[27] Aber auch innerhalb der EU betrifft Zwangsarbeit nach wie vor weit mehr Menschen[28] als herkömmlich angenommen – z. B. Erntehelfer:innen in der Landwirtschaft.[29] Die Situation der in Zwangsarbeit lebenden Menschen hat sich zuletzt im Zuge der COVID-19-Pandemie zusätzlich verschärft.[30] Vor dem Hintergrund dieses verheerenden Ausmaßes an modernen Formen von Sklaverei[31] wird die Maßnahme ausdrücklich begrüßt. Im Gegensatz zum Rat, der vor allem die Wirtschaftsakteure vor strengen Regulierungen schützen wollte, drängte das Europäische Parlament auf eine wirksame Regulierung: So forderte es insbesondere Wiedergutmachung für Betroffene, da ansonsten keine Verbesserung für diese eintritt.[32] Darüber hinaus wurde eine Beweislastumkehr verlangt, wonach Unternehmen selbst nach einem begründeten Anfangsverdacht nachweisen müssen, dass keine Zwangsarbeit vorliegt, da für Behörden ein Sammeln von notwendigen Beweisen nicht immer möglich ist.[33] Sowohl eine Wiedergutmachung als auch eine Beweislastumkehr wurden jedoch vom Rat vehement abgelehnt.

Mehr Demokratie und Handlungsfähigkeit der EU

Gründe zur Reform der EU gibt es viele. Insbesondere neue geopolitische Herausforderungen haben eine mangelnde Handlungsfähigkeit der EU zutage gefördert. Im Zuge der Konferenz zur Zukunft Europas wurde im November vergangenen Jahres eine Entschließung angenommen, die in diversen Themen Lösungsvorschläge anbietet.[34] So soll u. a. von der Notwendigkeit der Einstimmigkeit im Rat dort abgegangen werden, wo es aus Sicht des Europäischen Parlaments nicht zwingend erforderlich ist. Dem Europäischen Parlament soll nicht nur ein Initiativrecht in Gesetzgebungsprozessen zugesprochen werden, sondern auch die Sozialpartner sollen stärker eingebunden werden. Die von den EU-Mitgliedstaaten sich selbst auferlegte Sparpolitik soll überwunden werden, um Investitionen in die Verwirklichung von wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Zielen zu ermöglichen. Schließlich soll den Verträgen ein Protokoll über den sozialen Fortschritt beigefügt werden. Damit würde sichergestellt werden, dass Grundrechte sowie arbeits- und sozialrechtliche Bestimmungen im Konfliktfall nicht länger unternehmerischen Freiheiten des EU-Binnenmarkts zu weichen haben. Damit würde vor allem die derzeitige Judikatur des Europäischen Gerichtshofes endlich korrigiert werden, der aus Diskriminierungsverboten für wirtschaftliche Marktfreiheiten absolute Beschränkungsverbote erschaffen hat – auf Kosten von individuellen oder kollektiven Arbeitsrechten. Sollte dieser Vorschlag des Europäischen Parlaments aufgegriffen werden, wäre also die Gewichtung verschiedener Freiheiten und Grundrechte – und damit der EU-Binnenmarkt – künftig von einer sozialen Ausrichtung getragen.

Im Zuge der Konferenz zur Zukunft Europas wurde im November vergangenen Jahres eine Entschließung angenommen, die in diversen Themen Lösungsvorschläge anbietet.

Fazit

Die EU, gerne als homogene Gesamtheit betrachtet, hat in Österreich ein ambivalentes Ansehen. In diesem Sinne hilft es wenig, dass von erheblichen Teilen der politischen Öffentlichkeit EU-feindliche oder zumindest EU-skeptische Botschaften gestreut werden. Die oft schwer verständlichen und komplexen Institutionen der EU[35] lassen sich dabei innerhalb der österreichischen Bevölkerung leicht als Feindbild instrumentalisieren. Durch die Übernahme dieser ursprünglich am extremen parteipolitischen Rand angesiedelten Strategie wird dabei geholfen, eine generelle EU-Skepsis wieder in die Mitte der Gesellschaft zu rücken.[36] So plädierten zuletzt fast ein Viertel der Befragten Österreicher:innen für einen Austritt aus der EU,[37] trotz desaströser Folgen wie im Vereinigten Königreich seit dem Brexit sichtbar ist.[38] Anstatt hier eine breit angelegte Informationsarbeit zu leisten, wird jedoch eben diese Uninformiertheit populistisch im Rahmen von verzerrten oder einseitig formulierten Botschaften ausgenutzt.[39]

Eine stärkere Beachtung und Einbeziehung der Vorschläge des Europäischen Parlaments wären ein Schritt hin zu einer sozial gerechteren und ökologisch verantwortlicheren EU.

Eine stärkere Beachtung und Einbeziehung der Vorschläge des Europäischen Parlaments wären ein Schritt hin zu einer sozial gerechteren und ökologisch verantwortlicheren EU. Dies liegt jedoch nicht in aller Interesse. So wurde das Verhalten der nationalen Minister:innen im Rat zuletzt  zunehmend erratisch. Daraus ließe sich schließen, dass Unternehmens- und Konzernlobbys in jenen Initiativen, in denen sie sich im Europäischen Parlament nicht durchsetzen konnten, ihren Druck in der Folge direkt gegen Entscheidungsträger:innen der EU-Mitgliedstaaten gerichtet haben. Diesem Druck wurde seitens der nationalen Regierungen zu wenig entgegengesetzt.

Die derzeitigen Herausforderungen rufen mehr denn je nach überstaatlichen Bündnissen sowie handlungsfähigen und -willigen Institutionen.

Die multiplen Krisen der vergangenen Jahre haben sich klar negativ auf die Lebensbedingungen der Bevölkerung ausgewirkt. Getroffen hat dies vor allem jene, deren Stimme selten bis gar nicht gehört wird. Ungleichheiten haben weiter zugenommen und das politische Klima hat sich zunehmend erhitzt. Zeitgleich findet generell auf globaler Ebene eine Diskursverengung statt: Wir beschäftigen uns immer weniger mit anderen Meinungen, sondern suchen lediglich nach Bestätigung unserer eigenen Ansichten.[40] Vor diesem Hintergrund wäre ein Erstarken des Europäischen Parlamentarismus und ein konstruktives Arbeiten über Parteipolitik oder Individualinteressen hinweg dringend geboten. Die derzeitigen Herausforderungen rufen mehr denn je nach überstaatlichen Bündnissen sowie handlungsfähigen und -willigen Institutionen. In diesem Sinne muss die Relevanz der Europawahl in Erinnerung gerufen werden, die in Österreich am 9. Juni stattfinden werden. Mit den Worten von Roberta Metsola, Präsidentin des Europäischen Parlaments: „Lassen Sie nicht zu, dass jemand anderes für Sie entscheidet. Ihre Stimme entscheidet über das Europa, das Sie sich wünschen.“[41]

[1] So Lara Wolters (S&D), EU-Lieferkettengesetz fällt politischer Kehrtwende zum Opfer – Euractiv DE abgerufen am 30. April 2024.

[2] Art. 13 Abs. 2 EUV.

[3] Die steigende EU-Skepsis zeigt ein Versagen aller Parteien – Thomas Mayer – derStandard.at › Diskurs abgerufen am 30. April 2024.

[4] Europäische Union: Feuer unterm Dach | ZEIT ONLINE abgerufen am 30. April 2024.

[5] EU rules on platform work – Consilium (europa.eu) abgerufen am 30. April 2024.

[6] A&W-Blog | Wie prekär ist digitale Plattformarbeit? – Arbeit&Wirtschaft Blog (awblog.at) abgerufen am 30. April 2024.

[7] Angenommene Texte – Gerechte Arbeitsbedingungen, Rechte und soziale Sicherung für auf Online-Plattformen beschäftigte Arbeitnehmer – Neue Beschäftigungsformen im Zusammenhang mit der digitalen Entwicklung – Donnerstag, 16. September 2021 (europa.eu) abgerufen am 30. April 2024.

[8] https://evelyn-regner.at/wp-content/uploads/Factsheet_EU-Mindestlohn.pdf abgerufen am 30. April 2024.

[9] Die Europäische Mindestlohn-Richtlinie: Paradigmenwechsel für ein soziales Europa | Arbeiterkammer Wien abgerufen am 30. April 2024.

[10] etui.org/sites/default/files/2023-03/Benchmarking Working Europe 2023_Towards sustainable resilience_2023.pdf abgerufen am 30. April 2024.

[11] European statutory minimum wage map | etui abgerufen am 30. April 2024.

[12] Factsheet_EU-Pay-Transparency-EN.pdf (evelyn-regner.at) abgerufen am 30. April 2024.

[13] A&W-Blog | Gender Pay Gap: Gleichstellung noch Lichtjahre entfernt! – Arbeit&Wirtschaft Blog (awblog.at) abgerufen am 30. April 2024.

[14] Parlament: Recht auf Nichterreichbarkeit soll in der EU Grundrecht werden | Aktuelles | Europäisches Parlament (europa.eu) abgerufen am 30. April 2024.

ps2id id=’15’ target=”/][15] EU-Parlament will unbezahlte Praktika verbieten – Euractiv DE abgerufen am 30. April 2024.

[16] EU-Abgeordnete: EU sollte unbezahlte Praktika abschaffen – Euractiv DE abgerufen am 30. April 2024.

[17] Factsheet_Care.pdf (evelyn-regner.at) abgerufen am 30. April 2024.

[18] Nach Pflegeskandal bei SeneCura: Neuanfang für Beschäftigte (arbeit-wirtschaft.at) abgerufen am 30. April 2024.

[19] Eine große Pflegereform wird es nicht geben – Seite 2 von 2 – Arbeit&Wirtschaft (arbeit-wirtschaft.at) abgerufen am 30. April 2024.

[20] Expected economic effects of the EU Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) – Portal der Arbeiterkammern und des ÖGB Verlags abgerufen am 30. April 2024.

[21] WKÖ-Kopf zu Lieferkettengesetz: EU lässt Bürokratiemonster von der Leine – WKO abgerufen am 30. April 2024.

[22] BusinessEurope-Chef kritisiert jahrelange Wachstumsschwäche – Euractiv DE abgerufen am 30. April 2024.

[23] Study on due diligence requirements through the supply chain – Publications Office of the EU (europa.eu) abgerufen am 30. April 2024.

[24] Vorschlag der Europäischen Kommission: EUR-Lex – 52022PC0453 – EN – EUR-Lex (europa.eu) abgerufen am 30. April 2024.

[25] ILOLEX: English display cgi abgerufen am 30. April 2024.

[26] wcms_854733.pdf (ilo.org) abgerufen am 30. April 2024.

[27] 50 Millionen Menschen leben in Zwangsarbeit – news.ORF.at abgerufen am 30. April 2024.

[28] wcms_184975.pdf (ilo.org) abgerufen am 30. April 2024.

[29] Essential but Exploitable: Migrant Agri-Food Workers in Italy and Spain in: European Journal of Migration and Law Band 24 Ausgabe 2 (2022) (brill.com) abgerufen am 30. April 2024.

[30] 50 Mio. Zwangsarbeiter: Pandemie schuf mehr „moderne Sklaven“ – news.ORF.at abgerufen am 30. April 2024.

[31] Slavery Is Not Gone, It Has Just Moved Out to Sea | The Outlaw Ocean Project abgerufen am 30. April 2024.

[32] Menschenrechtsinstitut begrüßt politische Einigung zur Zwangsarbeitsverordnung | Institut für Menschenrechte (institut-fuer-menschenrechte.de) abgerufen am 30. April 2024.

[33] What does the Xinjiang Production and Construction Corps do, aside from forced labor? – The China Project abgerufen am 30. April 2024.

[34] Die Zukunft der EU: Vorschläge des Parlaments zur Änderung der Verträge | Aktuelles | Europäisches Parlament (europa.eu) abgerufen am 30. April 2024.

[35] Europäische Union: Feuer unterm Dach | ZEIT ONLINE abgerufen am 30. April 2024.

[36] “Inside Brüssel” ORF III: EU-Skepsis in keinem anderen Land so groß wie in Österreich (7.12.2023) – Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (oegfe.at) abgerufen am 30. April 2024.

[37] https://www.oegfe.at/umfragen/zwei_monate_vor_europawahlen/ abgerufen am 30. April 2024.

[38] https://www.ft.com/content/7a209a34-7d95-47aa-91b0-bf02d4214764 abgerufen am 30. April 2024.

[39] Die steigende EU-Skepsis zeigt ein Versagen aller Parteien – Thomas Mayer – derStandard.at › Diskurs abgerufen am 30. April 2024.

[40] https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2022/05/social-media-democracy-trust-babel/629369/ abgerufen am 30. April 2024.

[41] Roberta Metsola: Europa ist keine Selbstverständlichkeit – Kommentare der anderen – derStandard.at › Diskurs abgerufen am 30. April 2024.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die die Autor arbeitet, überein.

Schlagwörter

Europawahl, Demokratie, Europäisches Parlament, Soziales Europa

Zitation

Mayr, F. (2024). Impulse des Europäischen Parlaments für eine sozial gerechtere Europäische Union. Wien. ÖGfE Policy Brief, 02’2024

Felix Mayr

Felix Mayr ist Jurist und arbeitet als Referent für europarechtliche Angelegenheiten in der Abteilung EU und Internationales der AK Wien.