Zur Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung Europas: Mehr Budgetspielraum gefragt

Handlungsempfehlungen

  1. Die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen muss tatsächlich in den Mittelpunkt der Economic Governance gerückt und Entscheidungen demokratischer werden.
  2. Der budgetpolitische Spielraum sollte erweitert werden, indem das Fiskalregelwerk durch einen einzigen indikativen länderspezifischen Richtwert für die mittelfristige strukturelle Ausgabenentwicklung ersetzt wird.
  3. Die österreichische Bundesregierung soll auf europäischer Ebene Möglichkeiten für öffentliche Investitionen in den sozial-ökologischen Umbau unterstützen.

Zusammenfassung

Die Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung könnte mehr budgetpolitischen Spielraum für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen bringen: Der Ukraine-Krieg und die Klimakrise verdeutlichen, wie wichtig umfassende Investitionen in einen sozial-ökologischen Umbau sind, um die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern rasch zu reduzieren. Unterstützend wirkt zudem die relativ erfolgreiche Erfahrung mit expansiver Budgetpolitik zur Linderung der wirtschaftlichen Pandemiefolgen im Vergleich zur restriktiven Ausrichtung bis 2015, die eine zweite Rezession und einen schrumpfenden Kapitalstock nach sich gezogen hatte.
Die überwiegende Mehrheit der Ökonom:innen und europäischen Politiker:innen ist heute für eine investitions- und nachhaltigkeitsfördernde Reform. Sie sollte aber auch demokratischere und transparentere Entscheidungen mit institutionalisiertem Fokus auf das übergeordnete Ziel der nachhaltigen Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in Europa bringen. Wie weit sie gehen wird, wird nicht zuletzt auch davon abhängen, wie lange die österreichische Bundesregierung an der Illusion der raschen Einhaltung der 30 Jahre alten Schuldenstandziele festhält.

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Zur Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung Europas: Mehr Budgetspielraum gefragt

Mit der Wirtschafts- und Währungsunion wurde auch die Wirtschaftspolitik sukzessive europäisiert. Zwar blieb sie weitgehend auf nationalstaatlicher Ebene, doch wurden mit den Maastricht-Kriterien Grenzen gesetzt, die die Mitgliedstaaten einzuhalten hatten, um dem Euroraum beizutreten. Die Regelobergrenzen für die Budgetpolitik von 3 % des BIP für die Neu- und 60 % für die Gesamtverschuldung bildeten in Folge den harten Kern europäischer Wirtschaftspolitik, verstetigt im sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt. Ergänzende Leitstrategien und -linien, wirtschaftspolitische Grundsätze in den europäischen Verträgen und der Austausch in den Ratsformationen bzw. der informellen Euro-Gruppe bildeten die relativ unverbindliche Erweiterung dessen, was unter „Economic Governance“ – also der wirtschaftspolitischen Steuerung – verstanden wird.

Krise als Reformimpuls

Noch vor der durch COVID-19 ausgelösten Wirtschaftskrise startete die Europäische Kommission eine breit angelegte Evaluierung der Economic Governance. Sie sollte unter anderem zum Anlass genommen werden, um aus den Fehlern der Krisenbearbeitung ab 2010 Lehren zu ziehen[1] und zu prüfen, ob das Setting noch zeitgemäß ist. Zwar wurden Verbesserungsmöglichkeiten in der begleitenden Mitteilung[2] angedeutet, die Stoßrichtung blieb jedoch weitgehend offen. Ausgespart blieb das grundsätzliche Problem der Economic Governance, nämlich die Ausrichtung auf zu vermeidende Entwicklungen in Mitgliedstaaten, die auch für andere Länder zu einem Problem werden könnten, anstelle von positiv definierten Zielen, die man gemeinsam erreichen will. Dabei gab es sowohl auf internationaler wie auch europäischer Ebene in den letzten 15 Jahren durchaus ein gewachsenes Problembewusstsein.[3]

Heute besteht weitgehend Einigkeit, dass es erst zu einer Reform der Vorkrisen-Governance kommen soll, ehe sie wieder regulär zur Anwendung kommt.

Die Pandemie stoppte nicht nur das Vorhaben, sondern auch die Anwendung der Economic Governance. Stattdessen kam es neuerlich ad hoc zu einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel, allen voran mit dem schuldenfinanzierten „Krisenfonds“ Recovery and Resilience Facility (RRF).[4] Heute besteht weitgehend Einigkeit, dass es erst zu einer Reform der Vorkrisen-Governance kommen soll, ehe sie wieder regulär zur Anwendung kommt. Zu diesem Zweck startete die Europäische Kommission im Oktober des Vorjahres neuerlich eine Konsultation, an der sich u. a. die Bundesarbeitskammer beteiligte.[5] Ein Vorschlag soll im Frühjahr vorgelegt, eine Einigung bis Jahresende erzielt werden.

Ein neuer wirtschaftspolitischer Konsens?

Es gibt viele gute Gründe für eine neuerliche Reform der europäischen wirtschaftspolitischen Steuerung, insbesondere die Veränderungen und Ereignisse der letzten 30 Jahre:

  • Finanzkrise, Pandemie und jüngst der russische Angriffskrieg haben gezeigt, dass mit tiefgehenden länderübergreifenden Krisen auch im 21. Jahrhundert noch zu rechnen ist – die besser auch auf europäischer Ebene bearbeitet werden.
  • Ähnliches gilt für die heute sehr viel deutlicher gewordene Bedrohung durch die globale Erderhitzung.
  • Eine auf internationalen Wettbewerb, Deregulierung und Entstaatlichung fokussierte Wirtschaftspolitik ist kein Konzept zur nachhaltigen Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen,[6] sondern führt zu Problemen wie insbesondere wachsende Disparitäten innerhalb und zwischen Regionen – mit entsprechenden politischen Konflikten.
  • Deutlich niedrigere Zinssätze verbessern die Schuldentragfähigkeit erheblich[7].
  • Eine gegenüber den USA und China großteils restriktivere Budgetpolitik beflügelte weniger die wirtschaftliche Entwicklung, sondern schwächte vielmehr die – insbesondere öffentlichen – Investitionen:

Aus diesen Punkten speist sich ein neuer (weitgehender) Konsens bei der Reform der Fiskalregeln, der sich auch im Ergebnis der Konsultation widerspiegelt:[8]

  • Öffentliche Investitionen – vor allem solche, die den sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft vorantreiben, um die fatalen Folgen der Erderhitzung einzudämmen – sind auszuweiten und dürfen nicht von den Fiskalregeln gebremst werden.
  • Das Problem hoher Staatsschulden wird nicht mehr so relevant bzw. als Trade-off mit anderen Zielen gesehen.
  • In Krisenzeiten wird die Budgetpolitik für die Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage sehr viel relevanter eingeschätzt als noch bei der Gründung der Währungsunion.[9]
  • Die Vielzahl an nebeneinander bestehenden Detailregeln mit noch ausführlicheren Ausnahmen sollte reduziert und vereinfacht werden, indem man sich auf die mittelfristige Staatsausgabenentwicklung konzentriert.

Dieser neue Konsens ist in Brüssel angekommen. Das ist nicht nur in der Mitteilung der Europäischen Kommission zum Neustart der Governance-Konsultation zu erkennen, sondern auch in ihrer „Fiscal Guidance“[10] für 2023: So zielen ihre Empfehlungen auf die Einschränkung des Wachstums der laufenden Ausgaben in Hochschuldenstaaten, während Investitionen explizit ausgenommen sind; zudem stellt sie klar, dass eine Verletzung der surrealen Schuldenabbauregel keinerlei Konsequenzen haben wird.

Dieser neue Konsens ist in Brüssel angekommen.

Gleichzeitig sind sich die Regierungen der vier großen Euroländer so einig wie noch nie (wenngleich Differenzen bestehen bleiben). Selbst in den Niederlanden ist die Austeritätsorientierung weniger ausgeprägt, seitdem die neue Finanzministerin eine pragmatische pro-Europäerin ist. Gemeinsam mit ihrer spanischen Kollegin unternahm sie nun sogar einen überraschenden Vorstoß für eine Reform entlang des neuen Konsenses.[11] Lediglich der österreichische Finanzminister sperrt sich nach wie vor gegen jede Weiterentwicklung, die als budgetpolitische Lockerung wahrgenommen werden könnte – obwohl selbst im aktuellen Regierungsprogramm zumindest Investitionsausnahmen angedeutet sind,[12] der kleinere Koalitionspartner auf mehr Spielraum für Klimainvestitionen[13] und die Bundesländer ihrerseits auf allgemeine[14] Änderungen drängen.

Gleichzeitig sind sich die Regierungen der vier großen Euroländer so einig wie noch nie (wenngleich Differenzen bestehen bleiben).

Für eine aktivere, ausgewogenere, koordiniertere und demokratischere Economic Governance

Die kommende Reform sollte die haushaltspolitische Steuerung samt ihren Grundlagen umfassend adressieren – ausgehend von der zentralen Frage, ob die Steuerungsarchitektur der Erreichung der übergeordneten wirtschaftspolitischen Ziele dient. Vor allem die französische Regierung scheint um Antworten bemüht. So sollte der informelle Sondergipfel das „Europäische Wachstums- und Investitionsmodell für 2030“ behandeln, zumindest implizit ausgehend vom Bericht einer hochrangigen internationalen Expert:innenkommission[15] zu den großen wirtschaftlichen Herausforderungen der Zukunft. Auch wenn diese Frage aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine vorerst in den Hintergrund gerückt ist – eine neuerliche Reform der Economic Governance sollte die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen klar in den Mittelpunkt stellen und mit einer Stärkung der sozialen Dimension Hand in Hand gehen.

Statt nur für sich sollten die Mitgliedstaaten als Teil des europäischen Ganzen behandelt werden, sprich die Summe der länderspezifischen Empfehlungen muss zumindest für den Euroraum insgesamt kohärent sein.

Diesen Grundsatz gilt es zu konkretisieren und tatsächlich steuerungsrelevant werden zu lassen – insbesondere in der länderspezifischen Phase im Europäischen Semester, etwa indem der Fortschritt bei den UN-Entwicklungszielen gemessen an geeigneten Indikatoren ins Zentrum der Analyse gerückt werden. Zielabweichungen gegenüber den zu erwartenden Entwicklungen bis 2030 sowie Zielkonflikte bzw. -synergien gilt es zu analysieren und bei der politischen Prioritätensetzung zu berücksichtigen. Das gilt sowohl für die europäische Ebene als auch für die Länderberichte und -empfehlungen, wobei zuerst europäische Problembereiche identifiziert werden sollen, die dann in der länderspezifischen Phase gemeinsam mit länderspezifischen Herausforderungen zu adressieren sind. Statt nur für sich sollten die Mitgliedstaaten als Teil des europäischen Ganzen behandelt werden, sprich die Summe der länderspezifischen Empfehlungen muss zumindest für den Euroraum insgesamt kohärent sein. Das gilt insbesondere für die fiskalpolitischen Empfehlungen, aber auch für die CO2-Reduktionsziele, die lohnpolitische Koordinierung – durch die Sozialpartner und unter voller Wahrung der Tarifautonomie der Kollektivvertragspartner – oder die Rückführung des aggregierten Leistungsbilanzsaldos.

Wohlstandsorientierte Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes

Eines der wichtigsten Hindernisse für eine nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen im Euroraum sind die in die Jahre gekommenen Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Als Beitrag für eine günstige Finanzierungsmöglichkeit auf den Kapitalmärkten ist die Vermeidung übermäßiger Haushaltsdefizite – als eines unter vielen Zielen – zwar durchaus sinnvoll, allerdings darf es nicht mit absoluter Priorität losgelöst von aktuellen ökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen betrachtet werden, die in der Regel mehr öffentliche Ausgaben erfordern.[16] Fragen, wie die Euro-Mitgliedsstaaten in einer Wirtschaftskrise gegensteuern oder wie sie durch Einnahmen- und Ausgabengestaltung die nachhaltige und konvergente Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen koordinieren könnten, müssen mehr Aufmerksamkeit bekommen. Beispielsweise ist auf ausreichende öffentliche Investitionen zu achten: Die Europäische Kommission schätzt den zusätzlichen Investitionsbedarf für den ökologischen und digitalen Umbau auf 6.420 Mrd. Euro (2021-2030),[17] das Bruegel-Institut den öffentlichen Anteil auf zumindest ein Fünftel,[18] also mehr als 100 Mrd. Euro pro Jahr – je mehr davon zu Beginn getätigt wird, desto besser für den Klimaschutz. Dem steht ein struktureller Konsolidierungsbedarf von über 300 Mrd. Euro gegenüber.[19] Wird nun der raschen Konsolidierung regelbasiert abermals der Vorrang gegeben, ist es kaum möglich die öffentliche Infrastruktur so zu erweitern und zu erneuern, dass die Ziele des Green Deals erreicht werden können. Ganz im Gegenteil, die Klimakrise würde dadurch im wahrsten Sinne angeheizt.

Fragen, wie die Euro-Mitgliedsstaaten in einer Wirtschaftskrise gegensteuern oder wie sie durch Einnahmen- und Ausgabengestaltung die nachhaltige und konvergente Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen koordinieren könnten, müssen mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Damit die Budgetpolitik ihrer Rolle als zentrales Instrument einer ausgewogenen wohlstandsorientierten Wirtschaftspolitik im Allgemeinen und der wirtschaftlichen Stabilisierung im Speziellen einnehmen kann, sollten die bisherigen Regeln durch einen einzigen indikativen länderspezifischen Richtwert für die mittelfristige strukturelle Ausgabenentwicklung ersetzt werden. Die goldene Investitionsregel[20] berücksichtigend sollten Ausgaben über diesen Richtwert hinaus nur für Investitionen erfolgen – oder wenn sie durch zusätzliche öffentliche Einnahmen zumindest im gleichen Ausmaß gedeckt sind. Dieser länderspezifische Richtwert sollte in der öffentlichen Debatte mit guten Argumenten vehement verteidigt, aber nicht sanktioniert werden, da dies in einer Demokratie die Aufgabe der Wähler:innen ist. Geplante Unterschreitungen, die für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen auch ein Problem darstellen, sollten ebenfalls thematisiert werden. Von der Androhung von Finanzstrafen ist abzusehen, da sie eine ehrliche und qualifizierte Debatte konterkarieren und letztlich nur wenig zu einem tatsächlichen Politikwechsel beitragen. Wie das Beispiel Italien Ende 2018 gezeigt hat, schwächen sie vielmehr das „national Ownership“ und befeuern nationale Mobilisierungsversuche zur Abwehr des angedrohten Schadens „durch die EU“, die national zumeist wirkungsmächtiger sind als die Sanktionsdrohung selbst.

Für eine solch umfassende Reform der Economic Governance bräuchte es jedoch eine Vertragsänderung. Da diese langwierig und schwer durchsetzbar ist, sollte man sich im Zuge der Reform zumindest pragmatisch annähern. So sollte insbesondere die fiskalische Nachhaltigkeit nicht länger primär am willkürlichen und zu restriktiven Referenzwert für den Bruttoschuldenstand von 60 % des BIP gemessen werden. Vielmehr war es ein Kardinalfehler der letzten Governance-Reform, dass mit der sogenannten 1/20-Regel diese Regelgrenze sogar noch aufgewertet wurde. Weitere Flexibilisierungsschritte[21] können beispielsweise einen besseren Umgang mit Investitionen umfassen, indem generell nur mehr die Abschreibungen eingerechnet werden; auch weniger „Outputlücken-Nonsens“[22] wäre zielführend.

Darüber hinaus sind die fiskalpolitischen Handlungsspielräume auf europäischer Ebene auszuweiten. Aufbauend auf dem neuen „Krisenfonds“ RRF sollten Formen der gemeinsamen Finanzierung gemeinsamer Ziele und Projekte gefunden werden – zum Teil verknüpft mit neuen gemeinschaftlichen Einnahmen mit wirtschaftspolitischen Zusatznutzen (z. B. gerechte Verteilung oder Klimaschutz). Sinnvoll wäre etwa ein neuer Investitionsfonds im Rahmen des EU-Haushalts, der dauerhaft öffentliche Investitionen zur Förderung einer nachhaltigen und konvergenten Entwicklung von Wohlstand und Wohlbefinden mit Schwerpunkt auf Klimaschutz fördert – umso mehr, je weniger die Fiskalregeln diese Funktion abdecken. Die RRF selbst sollte insofern verstetigt werden, als dass ein solches Instrument bei ähnlich schweren Krisen wieder zur Verfügung steht – und zwar schneller abrufbar, mit weniger politischen Konflikten.

Aufbauend auf dem neuen „Krisenfonds“ RRF sollten Formen der gemeinsamen Finanzierung gemeinsamer Ziele und Projekte gefunden werden – zum Teil verknüpft mit neuen gemeinschaftlichen Einnahmen mit wirtschaftspolitischen Zusatznutzen.

Transparentere Entscheidungen auf breiterer Basis

Die Economic Governance sollte vor allem einen ehrlichen und gut informierten Diskussionsprozess über die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen fördern. Je breiter der Prozess organisiert wird und je mehr unterschiedliche Interessen zu einem mehrheitsfähigen Gesamtpaket gebündelt werden, desto erfolgreicher wird das Ergebnis sein. Sämtliche Bereiche der europäischen Wirtschaftspolitik – einschließlich der einzelnen Prozessschritte des Europäischen Semesters – sollten vom Europäischen Parlament bzw. einer Form von Euroraum-Parlament mitentschieden werden. Das würde die Legitimität der Entscheidungen verbessern und für mehr Transparenz sorgen. Ehe die vertraglichen Grundlagen der EU-Wirtschaftspolitik entsprechend geändert werden, sollte sich die Europäische Kommission informell verpflichten, ihre Empfehlungen an den Entschließungen des EU-Parlaments auszurichten. Bestehende Expert:innengremien wie Fiskalräte und Produktivitätsausschüsse sollten zu Räten für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen zusammengeführt und thematisch entsprechend erweitert werden.

Die Economic Governance sollte vor allem einen ehrlichen und gut informierten Diskussionsprozess über die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen fördern.

Um den Diskussionsprozess wirksamer zu gestalten, braucht es mehr europäische Stimmen in den nationalen öffentlichen Debatten, gut begründete Entscheidungen unter Einbeziehung der nationalen Parlamente und der Sozialpartner bzw. anderer zivilgesellschaftlicher Akteure sowie verstärkte Debatten über nationale Schwerpunktsetzungen auf europäischer Ebene selbst. Umgekehrt sollten europäische Debatten transparenter stattfinden, um auf nationaler Ebene bereits vor der Entscheidung eine öffentliche Debatte zu ermöglichen: Vorarbeiten der sogenannten Arbeitsgruppe „Euro-Gruppe“ sind zumindest teilweise zu veröffentlichen, damit die Positionen der einzelnen Minister:innen im ECOFIN bzw. in der Euro-Gruppe nachvollziehbar und damit rechenschaftspflichtig werden.

Schlussfolgerungen

Die nun angestoßene Grundsatzdebatte über die wirtschaftspolitische Steuerung in der EU sollte für eine Reform genutzt werden, die auf die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen abzielt. Dafür müssen insbesondere öffentliche Investitionen für einen sozial-ökologischen Umbau gestärkt und die Fiskalregeln entsprechend entschärft werden – ein weiteres weitgehend verlorenes Jahrzehnt ist auch geopolitisch nicht mehr länger eine Option. Mit dem Green New Deal und der RRF hat die Kommission bereits Meilensteine in diese Richtung gesetzt und mit dem für Mai zu erwartenden Entwurf für die Governance-Reform wird hoffentlich ein weiterer folgen. Es liegt an den Staatsspitzen und Finanzminister:innen der Mitgliedstaaten, ihren Schlussfolgerungen zur Ökonomie des Wohlergehens[23] nun Taten folgen zu lassen – auch jenen in Österreich, die nicht länger klimabewusstere künftige Generationen vorschieben können, um eine Erweiterung des gesamteuropäischen finanziellen Spielraums zu blockieren.

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Photographer: Mauro Bottaro
© European Union, 2018
Source: EC – Audiovisual Service

[1] Heimberger (2016): https://awblog.at/austeritaetspolitik-eurozone-schuss-ins-knie

[2] Europäische Kommission (2020): https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX%3A52020DC0055

[3] Siehe ausführlicher Feigl/Soukup (2020): https://www.oegfe.at/wp-content/uploads/2020/03/PB06_2020-1.pdf

[4] Schaller/Schmidt (2021): https://www.oegfe.at/wp-content/uploads/2021/03/PB-032021-4.pdf und Feigl/Templ (2021): https://awblog.at/was-kann-der-eu-krisenfonds-rrf

[5] https://www.akeuropa.eu/de/economic-governance-review

[6] Feigl (2020): https://www.fes.de/themenportal-bildung-arbeit-digitalisierung/artikelseite/die-nachhaltige-entwicklung-von-wohlstand-und-wohlergehen-in-den-mittelpunkt-der-economic-governance-ruecken

[7] Blanchard (2019): https://www.aeaweb.org/articles?id=10.1257/aer.109.4.1197

[8] Vgl. https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/economy-finance/swd_2022_104_2_en.pdf

[9] Ausführlicher siehe Bayer (2022): https://www.oegfe.at/wp-content/uploads/2022/03/PB06-2022.pdf

[10] Europäische Kommission (2022): https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/economy-finance/com_2022_85_1_en_act_en.pdf

[11] https://www.politico.eu/newsletter/brussels-playbook/orban-wins-in-hungary-dutch-spanish-axis-war-crimes-in-ukraine/?hc=1#dutch-spanish-fiscal-proposal

[12] So heißt es auf S. 69: „Unabhängig davon [dem wirtschaftspolitischen Ziel, die Schuldenquote der Republik weiter in Richtung Maastricht-Ziel von 60% zu senken], werden die notwendigen Klima- und Zukunftsinvestitionen sichergestellt“.

[13] https://energynewsmagazine.at/2021/11/10/gruene-lockerere-eu-schuldenregeln-fuer-gruene-investitionen

[14] https://twitter.com/ma_radov/status/1446404189656080388

[15] Blanchard/Tirole (2021): https://www.strategie.gouv.fr/english-articles/major-future-economic-challenges-olivier-blanchard-and-jean-tirole

[16] Rund um diese Kernforderung schlossen sich hunderte Wissenschafter:innen und NGOs zur Initiative #fiscalmatters zusammen: https://www.finance-watch.org/publication/manifesto-ngos-academics-reform-europe-fiscal-rules

[17] EU Kommission (2022): https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52022DC0083

[18] Tagliapietra/Wolff/Zachmann (2022): https://www.bruegel.org/2022/02/greening-europes-post-covid-19-recovery/

[19] Eigene Berechnung basierend auf der November-Prognose der EU-Kommission, also noch vor Kriegsbeginn.

[20] Truger (2015): https://emedien.arbeiterkammer.at/viewer/resolver?urn=urn:nbn:at:at-akw:g-498240

[21] Álvarez et al. (2019): https://www.etui.org/publications/working-papers/towards-a-progressive-emu-fiscal-governance

[22] Zugespitzte Formulierung für die sehr technische, aber budgetpolitisch relevante Debatte um das sogenannte Konjunkturbereinigungsverfahren, das anhand methodisch fragwürdiger und revisionsanfälliger Schätzmodelle den regelkonformen Budgetspielraum bestimmt vgl. Heimberger (2021): https://awblog.at/budgetkuerzungen-durch-outputluecken-nonsens

[23] https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2019/10/24/economy-of-wellbeing-the-council-adopts-conclusions/

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Schlagwörter

Economic Governance, wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik, Stabilitäts- und Wachstumspakt, Euroraum, Recovery and Resilience Facility, Fiskalpolitik, Fiskalregeln

Zitation

Feigl, G. (2022). Zur Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung Europas: Mehr Budgetspielraum gefragt. Wien. ÖGfE Policy Brief, 09’2022

Georg Feigl

Georg Feigl (@GeorgFeigl) ist Referent für öffentliche Haushalte und europäische bzw. wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik in der AK Wien. Zudem ist er Redakteur des Blogs „Arbeit & Wirtschaft“ und Mitorganisator des europäischen TUREC-Netzwerks gewerkschaftsnaher Ökonom:innen. Er studierte Volkswirtschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien.