Zeitenwende für die EU-Wirtschaftspolitik: Mehr als ein Gedankenexperiment

Handlungsempfehlungen

  1. Als wirtschaftliche Großmacht und politische Mittelmacht sollte die EU verstärkt eine globale Führungsposition in der Standardsetzung (wie z. B. bei der Datenschutz-Grundverordnung) und eine Pionierrolle bei der auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Transition der Wirtschaft einnehmen.
  2. Die Wirtschaftspolitik sollte sich statt am Wirtschaftswachstum an einem breiteren, an der Wohlfahrt der Bürger:innen ausgerichteten Zielbündel orientieren und die Instrumente der makroökonomischen Steuerung mittels Aufwertung der gemeinsamen Fiskalpolitik durch eine Fiskalkapazität ergänzen sowie die Bedeutung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zurückdrängen. Primäres Objekt der Wirtschaftspolitik sollten die EU und Eurozone insgesamt werden, aus der sich die einzelnen Länderpolitiken, sowohl in der Konjunktursteuerung als auch im strukturellen (mittelfristigen) Bereich, ergeben.
  3. Die vereinbarten Ziele der Klimapolitik sollten alle Bereiche der Wirtschaftspolitik erfassen und nicht als „add-on“ sich nur auf einzelne Teilbereiche, vor allem in der Energieversorgung, beziehen. Auch Ge- und Verbote sollten einen größeren Teil der Klimapolitik einnehmen.

Zusammenfassung

Die wirtschaftspolitische Steuerung von Eurozone und Europäischer Union (EU) zeigt sich seit mehreren Jahren den neuen Herausforderungen nicht mehr adäquat gewachsen. Durch die Vielzahl an Krisen, von der Finanzkrise über die Pandemie und deren Bekämpfung, der sich immer stärker manifestierenden Klimakrise bis hin zu der durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine verstärkten Energie- und damit Inflationskrise, wurden ihre Mängel verstärkt sichtbar. Auf alle diese Krisen haben die EU und die Eurozone mit neuen Instrumenten reagiert, die nicht immer den Anforderungen entsprachen.

Eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik sollte sich sowohl auf deren Inhalt als auch eine positive Zielsetzung zur Verbesserung der Lebenssituation der EU-Bevölkerung mit den passenden Instrumenten, territorial auf die EU und Eurozone insgesamt statt auf die einzelnen Mitgliedstaaten, konzentrieren.

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Zeitenwende für die EU-Wirtschaftspolitik: Mehr als ein Gedankenexperiment

Einleitung

Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union (EU) nicht mehr mit den althergebrachten Mechanismen die anstehenden Probleme lösen kann, sie ist nicht mehr (wenn sie es je war) „fit for purpose“. Diese Dysfunktionalität ist schon länger sichtbar und wurde durch die Krisen der letzten Jahre noch deutlicher. Sie hat eine territoriale und eine mehrfache inhaltliche Dimension.

Die Finanzkrise 2008 hat deutlich die Grenzen im Finanzsektor aufgezeigt, wie die zu hohe Risikobereitschaft oder die Unfähigkeit, vor allem der Rating Agenturen, die unterschiedlichen Risikopositionen der Länder der Eurozone „richtig“ einzuschätzen sowie in einer angemessenen Weise mit den grenzüberschreitenden Kreditgewährungen umzugehen. Die viel stärker als die Wirtschaftsleistung gestiegenen Aktienkurse, auch der kürzlich erfolgte Wertverlust der Tech-Aktien, sind nur Beispiele für die Volatilitäten entfesselter Finanzmärkte. Die Pandemie hat Schwächen im gemeinsamen Handeln aufgezeigt, die finanziellen Asymmetrien bei der Bewältigung der Lockdowns offengelegt und damit die Verschuldungsraten der einzelnen Länder sowie die sehr unterschiedlichen fiskalischen Spielräume bzw. deren je unterschiedliche Einschätzungen durch die Finanzbehörden, sichtbar gemacht, wodurch vielfach die Grundsätze „gemeinsamer“ Wirtschaftspolitik in einer Währungszone ad absurdum geführt wurden. Die sozialen Folgen dieser beiden Krisen, verstärkt durch die hohe Inflation und das Fehlen einer gemeinsamen diversifizierten Energiepolitik, haben die politische Landschaft in der EU nach rechts verschoben und gefährden zunehmend den gesellschaftlichen und politischen Zusammenhalt. Die Versuche, die Klimakrise einigermaßen in den Griff zu bekommen, bleiben derzeit, bis auf einige signifikante Ausnahmen, aufgrund starker beharrender politisch einflussreicher Kräfte und der Überlagerung durch die Pandemie, die Energiekrise und nunmehr der Krieg Russlands gegen die Ukraine, unbefriedigend. Als Resultat verkünden zunehmend Politiker:innen und Autoren:innen[1], dass die international vereinbarten Ziele ohnedies nicht zu erreichen wären und fordern, anstatt den Klimawandel zu bekämpfen, sich auf Anpassungsstrategien zu fokussieren.

Auf alle diese Krisen hat die EU als Institution verspätet und oft unzureichend reagiert, obwohl eine ganze Reihe wichtiger Krisenbekämpfungsversuche unternommen wurden: die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus in der Finanzkrise, die Schaffung der sehr gewichtigen (800 Mrd. €) Aufbau- und Resilienzfazilität nach der Pandemie mit der erstmaligen gemeinsamen Schuldenaufnahme, der (nicht sehr erfolgreiche) gemeinsame Einkauf von Corona-Ausrüstungen und -Impfstoffen, die diversen Stränge des Europäischen Green Deal (1 Bio. € NextGenerationEU, der Mechanismus für einen gerechten Übergang etc.), die geplante Lockerung der Beihilferegeln zur Subventionierung Grüner Investitionen (auch als Teil der Reaktion auf den 369 Mrd. $ schweren US Inflation Reduction Act, der fälschlicherweise so benannt wird), der angedachte European Sovereignty Fund zur Finanzierung einer Grünen Industriepolitik der EU, Ansätze zu einer gemeinsamen EU-Energiestrategie, und vieles mehr. Dazu sind sicher auch die Lieferungen humanitärer Hilfsgüter und Waffenlieferungen an die Ukraine zu zählen, wenn auch hier eine strategische Zieldefinition dieser Unterstützungen bisher ausgeblieben ist.

Die „Exzesse“ und Volatilitäten des Finanzsektors wurden nicht eingehegt und die Koordinierung von Fiskal- und Geldpolitik wurde nicht so optimiert, dass die Wohlfahrt der EU-Bürger:innen geschützt und erhöht wurde.

Es bleibt ein Faktum, dass die EU (ebenso wie ihre Mitgliedstaaten) auf all diese Krisen nicht vorbereitet war und die unterschiedlichen Interessenlagen der EU-Länder eine gemeinsame Willensbildung erschwert haben sowie ihre Bereitschaft gemeinsame europäische Lösungen zu finden aufgrund der jeweiligen innenpolitischen Situationen abgenommen hat, auch weil in Krisenzeiten eher von nationalen als von gesamteuropäischen Behörden Lösungen erwartet werden.

Darüber hinaus zeigt sich zunehmend, dass die Wirtschaftspolitik vor den Krisen mit ihrem überwiegenden Fokus auf Budgetkonsolidierung, verkörpert durch den „unseligen“ Stabilitäts- und Wachstumspakt, die EU weit hinter ihren Möglichkeiten, für ihre Bevölkerung ein „gutes Leben für alle“ zu erreichen, zurückgelassen hat. Weder ist die Armuts-Gefährdungsrate in den reichen Ländern gefallen, noch wurden Emissionsziele erreicht und die Klimakatastrophe verhindert oder an der EU-Volksgesundheit ausgerichtete Maßnahmen in der Pandemie durchgesetzt. Die „Exzesse“ und Volatilitäten des Finanzsektors wurden nicht eingehegt und die Koordinierung von Fiskal- und Geldpolitik wurde nicht so optimiert, dass die Wohlfahrt der EU-Bürger:innen geschützt und erhöht wurde.

Grundsätzlich sind die in den EU-Verträgen genannten Ziele der Wirtschaftspolitik breit genug, um auch Krisen und neue Entwicklungen zu bewerkstelligen.

Die Vielzahl der unterschiedlichen Finanzinstrumente für verschiedene, oft einander widersprechende, manchmal einander überlappende Ziele, die mühsamen und langwierigen Antrags-  und Bewilligungsverfahren, das Fehlen eines länderübergreifenden Konsenses über die wirtschaftspolitische Ausrichtung – all das kann den immanenten Schwierigkeiten einer 27 Länder, mit jeweils unterschiedlicher Geschichte, Ausprägung und Entwicklungsgrad, umfassenden Gruppierung zugeordnet werden. Dies hilft jedoch nicht, wenn es um die Effektivität und notwendige Raschheit der Mechanismen geht. Grundsätzlich sind die in den EU-Verträgen genannten Ziele der Wirtschaftspolitik breit genug, um auch Krisen und neue Entwicklungen zu bewerkstelligen. Allerdings zeigt z. B. die intensive Diskussion um die Inklusion klimapolitischer Zielsetzungen in die Kalküle der Europäischen Zentralbank (EZB) ebenso wie auch die derzeitige Diskussion unter den Finanzministern über die mögliche Reform des bis Ende 2023 existierenden Stabilitäts- und Wachstumspaktes, dass jede geplante Änderung langwierige Diskussionen hervorruft. Folglich werden im besten Fall Verzögerungen bei der Anwendung verursacht, was im schlechtesten Fall zu keiner Lösung führt und der Status quo als Rückfalllösung weiter besteht[2].

Denkansätze

1. Das geopolitische Umfeld

Die EU ist, wie Ewald Nowotny in einer rezenten EU-Strategie richtig feststellt[3], eine zwar wirtschaftlich große, geopolitisch jedoch nur mittlere Macht. Sie verfügt nicht über die ihrem ökonomischen Gewicht entsprechende politische Machtposition. In der Organisation der Vereinten Nationen, im Internationalen Währungsfonds (IWF), in der Weltbank und anderen internationalen Institutionen sind zwar ihre Mitgliedstaaten vertreten, nicht jedoch die EU selbst als Institution. Dies ist dem Eigensinn ihrer dort vertretenen Mitgliedstaaten geschuldet, die an ihren Sitzen und Stimmrechten, die sie noch in der Zeit vor der EU-Gründung erhalten haben, festhalten. (Besser vertreten ist die EU in den „informellen“ Gremien, wie den G-7 und den G-20, wo sie neben ihren Mitgliedstaaten Sitz und Stimme hat.) Dies schwächt die EU als Ganzes in diesen Gremien, da oft auch keine informelle Koordination der Länderpositionen im Sinne eines gemeinsamen EU-Votums möglich ist[4].

Die EU verfügt nicht über die ihrem ökonomischen Gewicht entsprechende politische Machtposition.

Die geopolitischen Governance Strukturen der Zukunft werden sich erst in den nächsten Jahren herausbilden. Derzeit sichtbares Faktum ist, dass die Vereinigten Staaten von Amerika / United States of America (USA) und China hier führende Rollen spielen werden, wobei die Rolle großer bzw. machtvoller anderer Länder, etwa die Mitglieder der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) und anderer, vor allem auch kleiner Länder, sowie deren mögliche Zuordnung zu „Blöcken“ noch vollkommen unklar ist. Die derzeitigen sehr kontroversen Beziehungen zwischen China/Russland und den USA sowie die in Hegemonialkämpfe in Zentralasien, im Mittleren Osten, in Osteuropa und Ostafrika verstrickten Länder können den Wunsch nach konsensualer Problemlösung bei globalen Problemen derzeit nicht erfüllen. Dadurch sind gesamthafte Global Governance Strukturen[5], die sich gezielt solcher Probleme annehmen könnten, aus heutiger Sicht außer Betracht. Allerdings ist es vorstellbar, dass in einzelnen, spezifischen Bereichen Gruppen von „Gleichgesinnten“ sich um Problemlösungen bemühen – und eventuell später dazukommende Länder mit aufnehmen. Dies würde eine äußerst unübersichtliche internationale Struktur nach sich ziehen und möglicherweise eine je nach Sachgebiet unterschiedlich gestaltete Zusammensetzung der Welt-Unordnung ergeben. Übereinkommen wie jenes von Paris 2015 über Klimaziele, dem alle Mitglieder der Vereinten Nationen zustimmten (auch wenn die Implementierung zu wünschen lässt) scheinen aus heutiger Sicht illusorisch, sollten aber dennoch angestrebt werden. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass China im IWF und in der Weltbank derzeit trotz mehrerer, weitgehend vom Westen verhinderter, Versuche Stimmgewichte von nur etwa 6 % hat, während die etwa die gleich große Wirtschaft der USA in beiden Institutionen ein Veto-Gewicht von fast 17 % ausübt. Auch hier haben die EU-Länder eine sehr restriktive Rolle gespielt, da ein größerer China-Anteil eine Reduktion ihrer eigenen Anteile und Stimmgewichte nach sich gezogen hätte. Dies hat u. a. dazu geführt, dass China (gemeinsam mit anderen) eigene Entwicklungsfinanzierungs- und Finanzinstitutionen aufgebaut hat und nur mehr schwer, wenn überhaupt in gemeinsame Finanzaktivitäten, wie z. B. den geforderten Schuldenerlass afrikanischer Länder, einzubinden ist.

Auch wenn dieser Überfall Russlands Ressourcen massiv reduziert (sowohl menschliche als auch finanzielle), wird Russland aufgrund seiner Nuklearwaffen dennoch in Zukunft geopolitisch eine Rolle spielen.

Der Ukraine-Krieg hat jedenfalls die geopolitische Position Russlands verändert. Während der völkerrechtswidrige Überfall im Westen einhellig verurteilt und eine folgende Isolation Russlands vorausgesagt wurde, haben die meisten anderen Länder der Welt sich weder den Sanktionen angeschlossen, noch verurteilen sie die Invasion. Auch wenn dieser Überfall Russlands Ressourcen massiv reduziert (sowohl menschliche als auch finanzielle), wird Russland aufgrund seiner Nuklearwaffen dennoch in Zukunft geopolitisch eine Rolle spielen. Inwieweit diese bei der Lösung globaler Probleme konstruktiv sein wird, wird auch von der Position Chinas abhängen.

Die politisch relativ schwache Position der EU muss kein Nachteil sein. Die EU muss stark genug sein, um sich nicht einseitig von einer der möglichen Konfliktparteien abhängig zu machen, auch wenn ihre Position bezüglich Völkerrecht und Menschenrechten unabdingbar bleiben muss.

In wirtschaftlichen Fragen sollte die EU vorrangig die ihrer Bevölkerung dienenden Positionen vertreten, anstatt sich in die Hegemonialkämpfe der Großen (USA und China) hineinziehen zu lassen. Dabei sollte sie vor allem in Fragen der Standardsetzung und Regulierung ihre wirtschaftliche Macht auch als Vorreiter zu ihren Gunsten einsetzen. Gute Beispiele dafür sind die Datenschutz-Grundverordnung, ihre Vorreiterrolle bei Grünen Standards („Taxonomy“) sowie der Einsatz ihrer wettbewerbspolitischen Möglichkeiten zur Eindämmung von überhandnehmenden ausländischen Plattform-Dominanzen und ihrer Steuerleistungen. Auch in der Frage des möglichen Schutzes inländischer systemrelevanter Produktionen sollte sie einen eigenen Weg gehen. In der Frage des Exports von Hochtechnologie an Wirtschaftsrivalen ist der Schutz bestehender Lieferketten zu beachten.

In wirtschaftlichen Fragen sollte die EU vorrangig die ihrer Bevölkerung dienenden Positionen vertreten, anstatt sich in die Hegemonialkämpfe der Großen (USA und China) hineinziehen zu lassen.

2. Inhaltliche Ausrichtung der Wirtschaftspolitik

Im Folgenden wird nicht die gesamte Wirtschaftspolitik analysiert, also keine konsistente Gesamtstrategie für die EU entwickelt, sondern werden einige besonders wichtige Teilbereiche angesprochen. Dabei wird die politische Durchsetzbarkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen angenommen. Es geht um die geografische und die inhaltliche Neuausrichtung der EU- Wirtschaftspolitik. Die folgenden Ausführungen dienen als Diskussionsanreiz.

a) Stärkung der Binnenorientierung der Wirtschaftspolitik

Die Orientierung der EU-Wirtschaftspolitik sollte sich in Zukunft viel stärker auf interne Kreisläufe, sprich den Europäischen Binnenmarkt[6] und seine vielfältigen Möglichkeiten, als auf die Gewinnung ausländischer Marktanteile und die damit zusammenhängende Fokussierung auf externe Wettbewerbsfähigkeit richten. Vom EU-Bruttoinlandsprodukt 2022 im Ausmaß von 16.6 Bio. € wurden nur weniger als 3 Bio. € außerhalb der EU abgesetzt (16.6 %), also 83 % der in der EU produzierten Güter und Dienstleistungen innerhalb der Union nachgefragt.

Eine stärkere Binnenorientierung impliziert einerseits eine Orientierung weg von Arbeitsproduktivität und -kosten als die wichtigsten Indikatoren für von der traditionellen Wirtschaftspolitik fetischisierte „Wettbewerbsfähigkeit“, andererseits eine Orientierung hin zu einem Produktivitätsbegriff, der auch Umwelt- und Materialproduktivität einbezieht. Natürlich spielt die in der EU von den Arbeitnehmer:innen in den Unternehmen erzeugte Gesamtproduktivität (dies geht über den traditionellen Begriff der „total factor productivity“ durch Einbeziehung der Umwelt- und Materialproduktivität hinaus, zusätzlich zum dadurch gemessenen technischen Fortschritt) relativ zu jener in den ausländischen Export- und Konkurrenzmärkten eine Rolle, aber eben nur zu etwas mehr als einem Sechstel. Damit fällt eine „moderate“ Lohnentwicklung als wichtiger Kostenfaktor und wirtschaftspolitisch relevante Beschränkung zum Teil weg, da durch höhere im Inland erzeugte Nachfrage (z. B. durch angemessene Lohnentwicklungen) internen Kreisläufen eine größere Rolle zugewiesen wird als bei der, derzeit als Damoklesschwert immer wieder verkündeten, sich verlangsamenden Arbeitsproduktivität und den steigenden „unit labor costs“.

Doch zeigen die riesigen Investitionserfordernisse bei der Bekämpfung der Klimakrise und bei weiteren notwendigen Integrationsschritten zur Verbesserung der gemeinsamen Infrastruktur die Notwendigkeit öffentlicher Anreize und Finanzierungen auf.

Dies spricht nicht gegen Exporte, deren Erlöse notwendig sind zur Deckung von Importen (dazu die Diskussion um globalisierte Wertschöpfungsketten) sowie auch die ausländischen Impulse zu Innovation und technischem Fortschritt, die über traditionelle Kapitalausstattung und Produktionsprozesse hinausgehen und dem gesellschaftlichen Fortschritt innerhalb der EU zugutekommen sollen[7]. Allerdings muss die EU bei künftigen Handelsabkommen viel stärker soziale, umwelt- und klimarelevante Schutzbedingungen in die Abkommen aufnehmen sowie die Klagemöglichkeiten von Unternehmen gegen umwelt- und sozialpolitische Politiken verhindern.

Mit dem Funktionieren eines einheitlichen Wirtschaftsraums wie dem EU-Binnenmarkt sind Steuer- und Subventionswettbewerb nicht vereinbar. Dennoch spielen sie in der EU eine wichtige Rolle. Der Steuerwettbewerb, vor allem bei Körperschaftsteuern feiert „fröhliche Umstände“, seine Bekämpfung (auch im Rahmen der OECD organisierten Arbeitsgruppen, denen 134 Staaten im Grund zustimmten) scheitert bisher weniger an nationalen Egoismen und dem Prinzip der Einstimmigkeit in Steuerfragen innerhalb der EU als an den USA. Dennoch war es ein langer Kampf innerhalb der EU, Länder wie Ungarn oder Irland zur Zustimmung zu einer weltweiten Mindeststeuer bei der Körperschaftsteuer zu bewegen. Weitere EU-Fortschritte werden jedoch blockiert. Den Subventionswettbewerb versucht die Europäische Kommission durch die von ihr zu verantwortenden Wettbewerbsregeln, die ein grundsätzliches Subventionsverbot enthalten, durchzusetzen, gewährt jedoch zunehmende Ausnahmen im Rahmen der Krisenbekämpfung. Innerhalb eines einheitlichen Wirtschaftsraumes ist es für die Gesamtentwicklung schädlich durch Steuer-  oder Subventionsgeschenke einander Investitionen und Unternehmen abjagen zu wollen. Doch zeigen die riesigen Investitionserfordernisse bei der Bekämpfung der Klimakrise und bei weiteren notwendigen Integrationsschritten zur Verbesserung der gemeinsamen Infrastruktur die Notwendigkeit öffentlicher Anreize und Finanzierungen auf. Diese müssen jedoch auf abgestimmten EU-weiten Zielsetzungen und damit Regeln basieren, und sollen nicht zur Verstärkung von Ungleichgewichten zwischen EU-Ländern beitragen. Gemeinsame Finanzierungen sollen die „natürlichen“ Unterschiede zwischen großen Ländern mit fiskalischem Spielraum und kleinen hoch verschuldeten Ländern ausgleichen. So wie es ansatzweise bei der Aufbau- und Resilienzfazilität – nach schwierigen internen Verhandlungen – gelungen ist.

b) Die gesamte Eurozone und EU-Wirtschaft als Fokus der Wirtschaftspolitik

Derzeit richtet sich der Fokus der EU-Wirtschaftspolitik auf die einzelnen Mitgliedstaaten. Alle Verfahren sind darauf fokussiert, die Mitgliedstaaten auf Budgetkonsolidierungskurs zu bringen, welcher gemeinhin von der orthodoxen Ökonomie, die von den EU-Gremien vertreten wird, als wachstumsfördernd gesehen wird, und damit den Kernindikator für „optimale Wirtschaftspolitik“ darstellt (siehe die lang andauernde, immer wiederkehrende Diskussion um Verschärfungen und Flexibilisierungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts).

Ein gemeinsamer Währungsraum, wie die Eurozone ihn darstellt, sollte jedoch das primäre Ziel der wirtschaftspolitischen Aktivitäten sein. Für die EU insgesamt gilt dies auch, wenn auch in schwächerem Ausmaß. Die Wirtschaftsentwicklung der Eurozone kommt jedoch in den Diskussionen über adäquate Wirtschaftspolitik nur am Rande vor, hauptsächlich dann, wenn es um die Abstimmung der beiden makropolitischen Akteure, der EZB mit den Finanzministern der Eurozone geht. In früheren Jahren wurde der Dialog zwischen diesen beiden eher einseitig geführt, da die EZB auf ihre im Vertrag garantierte „Unabhängigkeit“ pochte, zwar die Finanzminister über ihre (EZB-)Einschätzungen unterrichtete (und erwartete, dass sich die Fiskalpolitik an die Geldpolitik anpasste), aber ihrerseits keine „Einmischung“ akzeptierte. Dennoch produzierte die Europäische Kommission damals noch Grafiken zum „optimalen makroökonomischen Policy-Mix“, der geld- und fiskalpolitische Position gemeinsam darstellte. Da war das „Zielobjekt“ die Eurozone. Diese Grafiken gibt es nicht mehr.

Die Wirtschaftsentwicklung der Eurozone kommt jedoch in den Diskussionen über adäquate Wirtschaftspolitik nur am Rande vor, hauptsächlich dann, wenn es um die Abstimmung der beiden makropolitischen Akteure, der EZB mit den Finanzministern der Eurozone geht.

Durch das von den Finanzministern selbst gewählte Korsett der Budgetkonsolidierung als überragendes Ziel der Wirtschaftspolitik gefesselt, musste (?) die EZB seit der Finanzkrise 2008 zunehmend die makropolitische Steuerung der EU und Eurozone übernehmen („koste es was es wolle“, quantitative Lockerung und andere neue Instrumente), bis zur Pandemie und den Kosten bzw. deren Finanzierung, die spezifischer von den Budgets zu leistenden Ausgabenkategorien bedurften. Die Energie- und Inflationskrise haben dann zusätzlich zu massiven Ausgabensteigerungen der EU-Mitgliedstaaten geführt, die jedoch weniger der Konjunktursteuerung als der Kompensation von, durch staatliche Maßnahmen bzw. die Energiepreissteigerung erzeugten, Kosten dienten.

In Zukunft sollte die Eurozone das erklärte und überragende Ziel der EU-Wirtschaftspolitik sein. Fiskal- und Geldpolitik sollten gemeinsam deren gesellschaftliche Ziele (Wohlfahrt, Wachstum, Volksgesundheit, Verteilung, Umwelt/Klima) definieren und sich daran ausrichten. Das Herunterbrechen dieser Ziele auf die einzelnen Mitglieder der EU und Eurozone sollte indikativ geschehen und durch die je eigenen wirtschaftspolitischen Ziele der Mitgliedstaaten ergänzt werden. Damit wird ein Top-Down- und Bottom-Up-Design der wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten möglich wie es bereits jetzt bei einigen der EU-Instrumente üblich ist.

Diese Vorgangsweise bedarf eines fiskalpolitischen Gegenparts zur gemeinsamen EZB-Politik, also eines „Finanzkommissars“ der Eurozone (Fiskalkapazität), die/der auch mit einem Budget, als Teil des EU-Budgets ausgestattet ist. Nur so kann sie/er sich mit dem EZB-Präsidium auf Augenhöhe zur Herstellung des notwendigen Makro-Policy-Mix verständigen. Ob es sich dabei um eine Einzelperson oder um ein Steuerungsgremium à la dem Direktorium der EZB handelt ist weiteren Diskussionen überlassen. Ziel ist es jedenfalls, die Eurozone einer gemeinsamen wirtschaftspolitischen Steuerung zu unterwerfen, aus der sich dann, wie in anderen föderalen politischen Strukturen, die Steuerung der einzelnen Mitgliedstaaten ergibt – und nicht umgekehrt wie derzeit, wo sich das wirtschaftliche Ergebnis der Eurozone quasi als „Nebenprodukt“ der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten ergibt.

Die derzeitige Situation, in der eine expansive Geldpolitik mit einer restriktiven Fiskalpolitik (2008 bis 2021) kombiniert ist oder umgekehrt seit Beginn der Corona-Krise, verhindert bessere Wirtschaftsentwicklungen. Im besten Fall sollen die beiden Stränge der Makropolitik in dieselbe Richtung wirken, da sie sonst die Wirkung der anderen Institution schwächen oder ganz aufheben – ein klarer Fall von Politikversagen!

c) Ersatz des restriktiv wirkenden Stabilitäts- und Wachstumspaktes

Im November 2022 hat die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Neuformulierung des seit Corona sistierten Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) vorgelegt[8], der statt auf den Budgetsaldo (in seinen verschiedenen Konstruktionen) auf den Ausgabenpfad, der politisch besser steuerbar ist, abzielt und statt allgemeiner Regeln länderspezifische Entwicklungspfade, die von den Mitgliedstaaten selbst vorgeschlagen werden, vorgibt, die dann mit einem „Referenzpfad“ der Kommission verglichen und bewertet werden sollen.

Bei Einführung der gemeinsamen Währung sollte ein SWP (60 % Schuldenquote und 3 % Budgetquote als Zielgrößen) sicherstellen, dass die einzelnen Länder der Eurozone die von den Finanzmärkten geforderte „Glaubwürdigkeit“ ihrer Budgetpolitik unter Beweis stellen und damit eine den Geldwert des Euro hochhaltende Geldpolitik unterstützten. Der Pakt wurde viele Male reformiert, seine Sanktionen nie angewandt, und von seinen vehementesten Befürworter:innen gebrochen. Sein Hauptproblem war jedoch, dass er Fiskalpolitik in eine grundsätzlich restriktive Richtung gedrängt und damit ihre positive Wirkung auf die Konjunktursteuerung stark eingeschränkt hat. Die derzeit sich abzeichnenden hohen Erfordernisse öffentlicher Investitionen für die Bekämpfung der Klimakrise, der Folgen der Pandemie und der Abfederung der hohen Inflation (sowie der Zusagen vieler Länder, ihre Militärausgaben als Antwort auf den Ukraine-Krieg zu erhöhen) machen das Festhalten an einer grundsätzlich restriktiven Fiskalpolitik noch problematischer. Im Kommissionsvorschlag wird zwar auf diese Investitionserfordernisse eingegangen, ihnen wird jedoch nicht adäquater Spielraum eingeräumt, d. h. auch hier bliebe die restriktive Grundausrichtung erhalten.

Die Politik der Mitgliedstaaten der EU und Eurozone muss jedoch nicht das „Vertrauen“ der Finanzmärkte erringen, sondern jenes der Bevölkerung, die die Folgen der Politik zu tragen haben.

Neu ist, dass beim Kommissionsvorschlag die „Schuldentragfähigkeit“ das Haupt-Zielkriterium ist, also wieder ein Begriff, der der Bewertung durch die Finanzmärkte und deren „Befriedung“ nachkommt. Die Politik der Mitgliedstaaten der EU und Eurozone muss jedoch nicht das „Vertrauen“ der Finanzmärkte erringen, sondern jenes der Bevölkerung, die die Folgen der Politik zu tragen haben[9]. Hier ist ein „Wertewechsel“ mehr als angebracht.

Es ist richtig und wichtig, einen Koordinationsmechanismus für die Abstimmung und Einhaltung eingeschlagener Makrosteuerung der Mitgliedstaaten einzuführen, jedoch falsch, diesen auf die Fiskalpolitik, noch dazu in strukturell restriktiver Weise, zu beschränken[10]. Sinnvoll wäre es, ausgehend von einem neu zu definierenden Zielbündel, quasi einem „magischen Ziel-Fünfeck“ (Wohlstandssteigerung, Klimarettung, Umweltverbesserung, gerechtere Einkommens- und Vermögensverteilung, Nachhaltigkeit) die hauptrelevanten wirtschaftspolitischen Instrumente, die von den Nationalstaaten beeinflusst werden können, auf ihre Wirksamkeit und Übereinstimmung mit den Zielen und Instrumenten der Eurozone und EU zu überprüfen. Diese Instrumente sind Steuern, öffentliche Ausgaben, besonders öffentliche Investitionen, deren Zusammensetzung und Effizienz der Verwaltung. Dabei sind natürlich historische und kulturelle Unterschiede, der Entwicklungsstand, geografische Besonderheiten zu berücksichtigen, deren „Einebnung“ durch einheitliche Regeln erleichtert wäre, aber dem sinnvollen EU-Grundsatz „Vielfalt in Einheit“ widerspricht.

Diese länderspezifischen und von bisherigen einfachen Regeln abweichenden Koordinierungsmechanismen nehmen jedenfalls Zeit und Aufwand in Anspruch, entsprechen aber der Notwendigkeit, je Land die konjunkturelle und die strukturelle Dimension in der Ausformung der Wirtschaftspolitik zu berücksichtigen, die für die Zustimmung von Regierung und Bevölkerung zur Erreichung einer gesamteuropäischen positiven Entwicklung unerlässlich ist. Zeitpunkte und Frequenz der Koordinierung der Wirtschaftspolitik der EU und Eurozone müssen verhandelt werden.

Der ökonomisch nie stringent begründbare SWP mit seiner restriktiven Tendenz würde also durch einen laufenden Koordinierungsmechanismus, der die kurz- und mittelfristigen wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten erfüllt und ökonomischen Kriterien entspricht, ersetzt.

d) Zur Rolle der Finanzmärkte

Die hohen und durch die Krisen der letzten Jahre stark gestiegenen öffentlichen Verschuldungsraten der EU-Mitgliedstaaten stehen im öffentlichen Fokus. Für die Eurozone (93 % des BIP) und die EU (85 %) liegen die öffentlichen Verschuldungsquoten deutlich höher als vor der Pandemie. Die höchsten Quoten weisen derzeit Griechenland (178 %) und Italien (147 %) auf, die niedrigsten Estland (16 %) und Bulgarien (23 %)[11]. Weniger Beachtung findet in der wirtschaftspolitischen Diskussion die Verschuldung des Privatsektors (private Haushalte und Unternehmen), die im Euroraum etwa doppelt so hoch ist wie jene der Öffentlichen Hand[12]. Relevant sind die Schuldenquoten, weil hohe Verschuldung bei hohen und/oder steigenden Zinsen sowohl in öffentlichen als auch in privaten Budgets große Löcher reißen kann, und zudem Finanzinstitutionen je nach perzipiertem Risiko höhere Zinsen verlangen werden oder den Zufluss zu Krediten überhaupt stoppen können. Dadurch ausgelöste Volatilitäten haben bei hohen Quoten deutlich größeren Einfluss auf die „reale“ Wirtschaftsentwicklung, wie z. B. die gravierenden Effekte auf die griechische Wirtschaft und Gesellschaft im Krisenjahr 2014 und folgende Krisen nahelegen.

Die säkular hohen und stark gestiegenen Verschuldungsraten sind nicht nur auf die Kreditnachfrage der öffentlichen und privaten Institutionen zurückzuführen, sondern liegen im Interesse des immer größer und politisch einflussreicher werdenden Finanzsektors, der damit hohe Gewinne durch Zinsspannen, Gebühren und Bewertungsgewinne erzielt.

Die in den westlichen Wirtschaften, damit auch in der EU, dominante Ablehnung von genügend hohen Steuern und Abgaben, um die notwendigen öffentlichen Ausgaben zu finanzieren, treibt die öffentlichen Verschuldungsquoten nach oben ebenso wie Kapitalmarktinstrumente wie „Leveraged Buyouts“, wobei den zu übernehmenden Unternehmenseinheiten die Kosten der Übernahme über Erhöhung ihrer Schuldenquoten überantwortet werden.

Verfolgt man die EU-Diskussionen über eine „Kapitalmarktunion“, die vehement geführt wird und die den Finanzmarktakteuren mehr Geschäft, den Unternehmen manchmal auch mehr Effizienz für Außen- und Innenfinanzierung bringen würde, sowie die täglich neuen Finanzprodukte die auf den Markt kommen, kann man legitimer weise fragen, warum die offizielle Wirtschaftspolitik den Finanzmärkten so viel an Einfluss überlässt, ja die Wirtschaftspolitik primär nach deren Interessen ausrichtet[13]. Vergleicht man dies mit den Kursbewegungen im Kapitalmarkt, mit der hohen Volatilität, mit den immer wieder in schweren Finanzkrisen zutage tretenden Dysfunktionalitäten, legt dies den Schluss nahe, dass eine Zurückdrängung der Marktaktivitäten und des Einflusses vieler Finanzmarktakteure sehr wohl im Interesse einer gedeihlichen Entwicklung der EU-Wirtschaft wäre.

Es ist offensichtlich, dass die Mär vom „perfekten Markt“ auf den Finanzmärkten, wo angeblich eine Myriade Nachfragender und Anbietender durch ihre Handelsaktivitäten sekündlich „Marktpreise“ bestimmen, nicht zutrifft, sondern dass vielfach von großen Fonds und von Events getriebene Marktbewegungen, oftmals ohne Referenz auf die zugrundeliegenden Entwicklungen in Unternehmen oder Staaten, zu krisenhaften Erscheinungen führen, die auf die Realwirtschaft zurückwirken.

Die notwendige Finanzierung von Unternehmen, auch von privaten Haushalten ebenso von Staaten sollte grundsätzlich aus Ersparnissen bzw. Steuererträgen erfolgen. Die für Unternehmen so notwendige Fristentransformation bei nur langfristig rentierenden Investitionen, die notwendige Vorfinanzierung von Betriebsmitteln sowie Löhnen in Landwirtschaft und Industrie ebenso wie bei öffentlichen Investitionen muss natürlich sichergestellt sein. Das gilt auch für die Abwicklung des Zahlungsverkehrs im In- und Ausland. Cashflow-Finanzierungen in größerem Ausmaß sind allerdings nur möglich, wenn die Dividenden- und Aktienrückkaufspolitiken, also die gesamte Ausschüttungspolitik an die Kapitaleigner, in die Weise überdacht wird, dass den langfristig den Unternehmenswert steigernden Investitionen in Maschinen, Dienstleistungen und Beschäftigten deutlich mehr Gewicht eingeräumt wird. Konkret bedeutet dies, dass die hypertrophen Renditeerwartungen der Finanzmärkte wieder auf ein Maß zurückgeschraubt werden, welches langfristigen Unternehmens- und Gesellschaftszielen entspricht.

All diese Finanzgeschäfte können traditionelle Banken erledigen, bei denen die Risiko- und Erfolgsbeurteilung des jeweiligen Geschäftserfolges nicht wie auf den Finanzmärkten quasi anonym erfolgt, sondern durch ausgebildete Bankmitarbeiter:innen, die auch die Bonität von Privaten wie dies ja für Haushalts- und Wohnkredite erfolgt, beurteilen können. Geschäftsbeziehungen von Person zu Person würden zu mehr Rationalität und Argumentation führen. Die „Rückkehr“ zu viel mehr Bankenfinanzierung würde cet. par. die gesamte Kreditnachfrage reduzieren, da die vielen derzeit finanzierten Spekulationsgeschäfte durch Personenberatung zurückgedrängt würden und der Druck auf Selbstfinanzierung größer würde.

Eine Stärkung der Bankenfinanzierung würde auch die stockende „Bankenunion“ wiederbeleben und deren Erfolg erfordern, damit EU-Banken wirklich im gesamten EU-Raum und in der gesamten Eurozone ihre Dienste anbieten könnten und den sogenannten „Teufelskreis“ – die fast exklusive Finanzierung von öffentlichen Krediten durch je „eigene“ Banken – aufbrechen, der die Risiken, die im öffentlichen Sektor auftreten, nahtlos in den privaten Sektor transferiert und verstärkt.

Es wäre auch denkbar, die Risikobeurteilung von Staaten, weg vom Finanzsektor und den Rating Agenturen, hin zur EZB zu verlagern – ein Geschäft, welches die EZB derzeit, im Rahmen des Aufkaufs von Staatsanleihen beim „Quantitative Easing“ bzw. der quantitativen Lockerung, ohnedies durchführt. Damit würde auch eine dem privaten Gewinnkalkül unterliegende und als „objektiv“ in der Öffentlichkeit verkaufte Staatsrisikobewertung in die Hände einer öffentlichen Institution überantwortet, auch wenn diese nicht direkt einer demokratischen Kontrolle unterliegt.

e) Baustein zu einer neuen EU-Industriepolitik[14]

Es ist bemerkenswert, dass die rezenten Krisen überall im Westen, aber auch in der EU, zu einer deutlich größeren, allgemein akzeptierten Rolle der Öffentlichen Hände in die Wirtschaft geführt haben. Ob dies „nachhaltig“ ist, darf bezweifelt werden. Man erinnere sich nur an die Jahre der Finanzkrise als plötzlich die gesamte Wirtschaftspolitik hinausposaunte „we are all Keynesians now“[15]. Zwei Jahre später, vor allem in der Ausprägung der tatsächlichen Wirtschaftspolitik, war von einer grundlegenden Änderung dieses Paradigmas nichts mehr zu sehen.

Nachdem sogar der Terminus „Industriepolitik“ jahrzehntelang als ökonomisch „falscher“ Eingriff in die Wirtschaft verpönt war, hat die Europäische Kommission im Februar 2023 als Antwort auf den US-amerikanischen fehlbenannten Inflation Reduction Act, welcher 369 Mrd. $ (auf zehn Jahre) für Grüne Investitionen lockermachte, einen eigenen Industrieplan für den Grünen Deal (Green Industrial Plan) vorgelegt. Dieser soll ein Gegengewicht zur befürchteten Abwerbung europäischer Firmen und zum gefürchteten Hintertreffen der EU bei Grünen Investitionen darstellen. Mit einem rasch wirksamen Bündel an Steuergutschriften, Subventionen und vor allem exklusiv auf nordamerikanische Unternehmen zugeschnittenen Maßnahmen ist den USA damit ein wirklicher Sprung hin zu Grünen Investitionen gelungen.

Während die USA sich auf ihre eigenen Unternehmen konzentrieren, steht der neue Industrieplan für den Grünen Deal unter der Ägide der externen Wettbewerbsfähigkeit im grünen Bereich, die es zu erhalten und steigern gelte.

Damit haben die USA insbesondere einen zeitnah wirkenden Vorsprung vor der EU für US-amerikanische Unternehmen im grünen Bereich. Die den EU-Unternehmen im Rahmen des Green Deal zur Verfügung stehenden Finanzmittel sind in etwa gleich hoch, ihre Aktivierung allerdings viel mühsamer und zeitraubender[16]. Während die USA sich auf ihre eigenen Unternehmen konzentrieren, steht der neue Industrieplan für den Grünen Deal unter der Ägide der externen Wettbewerbsfähigkeit im grünen Bereich, die es zu erhalten und steigern gelte. Wie schon oben ausgeführt, geht es hier nicht um Wettbewerbsfähigkeit, sondern primär um die Bekämpfung der Klimakatastrophe und den EU-Beitrag hierzu.

Der Industrieplan, der erst verhandelt und beschlossen werden muss, hat einige sehr positive Ansätze, so vor allem die Arbeitsmarkt- und Ausbildungsaspekte die die vorhandenen Engpässe bei einschlägiger qualifizierter Arbeit beseitigen sollen. Man könnte sich dabei an Österreichs „aktiver Arbeitsmarktpolitik“ und den hier praktizierten Ausbildungsgängen orientieren. Die Lockerung der Wettbewerbsschranken, und eine mögliche Lockerung der im Stabilitätspakt verankerten Investitionsschranken ebenso wie der Aufruf zu rascheren Genehmigungsverfahren sind positiv zu sehen. Die Beschränkung auf Batterien, Carbon Capture, Solarpanele, Wasserstofferzeugung, Wärmepumpen und kritische Rohstoffe greift zu kurz, da etwa Verkehrssysteme und Wohnbausanierung je etwa ein Drittel zu den relevanten Emissionen beitragen und die Landwirtschaft vollkommen außer Acht gelassen wird. Die Aufforderung zu weiteren Freihandelsabkommen zur Sicherung der Importe von kritischen Rohstoffen muss jedenfalls auf deren Umwelt- und Sozialkosten Rücksicht nehmen (siehe oben 2a).

Die starke Betonung der Bedeutung eines „Souveränitätsfonds“ (dotiert mit etwa 20 Mrd. €) kommt der Notwendigkeit einer Grünen Investitionsbank[17] nicht ansatzweise nahe. Auch fehlt ein Finanzmechanismus, der die Stilllegung klimaschädlicher Produktionsanlagen finanziert.

Das Ziel einer gesamthaften klimarelevanten Industriestrategie müsste nicht Wettbewerbsfähigkeit, sondern die Nachhaltigkeit der EU-Wirtschaft darstellen und in „Missionen“ (z. B. Energieversorgung, Mobilität, Volksgesundheit) aufgegliedert die Ziele, Instrumente und Implementierungsvorgaben enthalten. Der Industrieplan für den Grünen Deal begnügt sich als relevanter Puzzlestein einer solchen Strategie mit input-orientierten Maßnahmen, über das Monitoring von Fortschritten und eventuellen Sanktionen bleibt er stumm. Neben direkten „Grünen“ Zielen müsste ein solcher Plan auch Digitalisierungsstrategien sowie die Auswirkungen auf Arbeitsplätze (über Ausbildung hinaus) enthalten.

Dennoch: Der Tabubruch einer EU-weiten Industriestrategie ist positiv zu bewerten. Er müsste jedoch weitergehen, und vor allem die Interaktion mit länderspezifischen Strategien genauer festlegen sowie der Gefahr begegnen, dass die relevanten Investitionen primär oder exklusiv in den großen finanzstarken EU-Ländern durchgeführt werden, was zu einer Fragmentierung des Europäischen Binnenmarktes und zur Verteilungskämpfen führen würde.

Die wichtigsten Handlungsempfehlungen

Sowohl die Krisenbewältigung als auch künftige Notwendigkeiten erfordern eine inhaltliche und geografische „Zeitenwende“.

Eine Neuorientierung der EU-Wirtschaftspolitik ist sowohl durch längerfristige Verwerfungen (Wachstumsschwäche, Beförderung der Klimakrise, sozialpolitische Fragmentierung), besonders aber durch die vielfachen Krisen (Finanzkrise, Pandemie, Energie, Klima, Krieg) notwendig geworden. Sowohl die Krisenbewältigung als auch künftige Notwendigkeiten erfordern eine inhaltliche und geografische „Zeitenwende“. Dazu zählen insbesondere:

  • Zielsetzung der Wirtschaftspolitik auf „Nachhaltigkeit der Verbesserung der Lebens- und Umweltbedingungen der EU-Bevölkerung“. Die Bekämpfung der Klimakrise muss dabei bei allen Maßnahmen der Wirtschaftspolitik Vorrang bekommen. Die enge „ökonomistische“ Definition der EU-Wirtschaftspolitik mit ihrem Fokus auf die Budgetpolitik (Stabilitätspakt) wird durch eine breitere politökonomische Definition („Nachhaltigkeit der Lebensbedingungen“) abgelöst.
  • Fokussierung der Wirtschaftspolitik auf den EU-Binnenmarkt durch Stärkung von dessen Kreisläufen, statt Konzentration auf externe Wettbewerbsfähigkeit.
  • Hauptsächliches Zielobjekt der Wirtschaftspolitik ist die gesamte Eurozone bzw. EU – im Gegensatz zur Fokussierung auf die einzelnen Länder, die dann als „Nebenprodukt“ die Eurozone und EU ergeben.
  • Stärkung der unvollendeten Bankenunion, statt Förderung der Kapitalmarktunion. Dadurch werden einerseits persönliche Risiko- und Projektbeurteilungen statt anonymer Finanzmarktbeurteilungen gestärkt, andererseits die überbordende politische Macht der Finanzmärkte zurückgedrängt.
  • Zurückdrängung des Paradigmas „niedrige Steuern“ zugunsten Finanzmarktfinanzierung für die großen öffentlichen Investitionserfordernisse der Zukunft. Laufende Ausgaben müssen durch Steuereinnahmen gedeckt und nur Investitionen sollen schuldenfinanziert werden.
  • Bekämpfung der hohen Verschuldung des Privatsektors durch Zurückdrängung der hohen Finanzmarktrenditen zugunsten mittelfristig wirksamer Investitionen der Unternehmen in Mitarbeiter:innen, Maschinen und Gebäude sowie unternehmensnahe Dienstleistungen (z. B. Digitalisierung).
  • Anerkennung der wirtschaftlich starken, wenn auch politisch schwachen EU-Position. Nutzung dieser durch bahnbrechende Standardsetzung (wie z. B. bei der Datenschutz-Grundverordnung/DSGVO und Klimapolitik). Aktivierung „Gleichgesinnter“ für partielle Lösung von globalen Problemen; Fokussierung auf Interessen der EU-Bevölkerung statt hegemonialer Großmachtpolitik; Weigerung in Konflikte der Großen hineingezogen zu werden.
  • Formulierung einer gesamthaften Europäischen Industriepolitik, ausgehend vom Industrieplan für den Grünen Deal, mit der Zielsetzung Nachhaltigkeit in der EU zu erreichen.

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Foto von Hans auf Pixabay.

[1] Siehe z. B. Nowotny, E. (2023), The looming deep crisis in Europe – and what to do about it, ÖGfE Policy Brief, Vienna, 02’2023, S. 3, https://www.oegfe.at/policy-briefs/the-looming-deep-crisis-in-europe-and-what-to-do-about-it/.

[2] Hier sei an die Aussagen des deutschen und des österreichischen Finanzministers bei ihrem gemeinsamen Treffen in Wien am 18.02.2023 erinnert, die beide die Vorschläge der Europäischen Kommission ablehnten.

[3] Nowotny, op. cit., S. 6.

[4] Ich habe dies als Board Director bei der Weltbank und bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung selbst schmerzlich erlebt.

[5] Solche haben sich z. B. durch die Gründung der G-20 Gruppe im Zuge der Finanzkrise 2008, abgezeichnet, siehe dazu Bayer, K. (2017), Die Governance der globalen Wirtschaft in einer multipolaren Welt, in: Bayer, K., Giner-Reichl, I. (Hrsg.), Entwicklungspolitik 2030, Manz, Wien, S. 47-62.

[6] Zur Definition des Europäischen Binnenmarktes und seine primäre Durchsetzung der „vier Grundfreiheiten“ (Freier Warenverkehr, Freier Personenverkehr, Freier Dienstleistungsverkehr, Freier Kapitalverkehr), aber auch Vernachlässigung als Ziel der gemeinsamen Wirtschaftspolitik, siehe u. a. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/lexikon-der-wirtschaft/19286/europaeischer-binnenmarkt/.

[7] Siehe dazu Bayer, K., 12 Steps Towards “Fair” Globalization, 28.07.2017, https://kurtbayer.wordpress.com/2017/07/28/12-steps-towards-fair-globalization/.

[8] Kurt Bayer, Vorschlag der EU-Kommission zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes: zu zaghaft, zu mutlos, 11.11.2022, https://kurtbayer.wordpress.com/2022/11/11/vorschlag-der-eu-kommission-zur-reform-des-stabilitats-und-wachstumspaktes-zu-zaghaft-zu-mutlos/.

[9] Vgl. hierzu z. B. https://www.kas.de/documents/252038/16166715/Die+Reform+des+Stabilit%C3%A4ts-+und+Wachstumspaktes.pdf/8b5e6472-62c8-b363-b8f5-87b747b453c3?t=1650457364859.

[10] Siehe für diese enge Argumentation die offizielle Stellungnahme der Europäischen Kommission, https://economy-finance.ec.europa.eu/euro/what-euro-area_de.

[11] Siehe dazu u. a. https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/haushaltsdefizite-eurostat-im-euroraum-sinkt-staatsschuldenquote-im-dritten-quartal-12091881.

[12] https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/haushaltsdefizite-eurostat-im-euroraum-sinkt-staatsschuldenquote-im-dritten-quartal-12091881.

[13] Vgl. dazu etwa die Stellvertretende Chefredakteurin der Financial Times Foroohar, R. (2023), „The rise of kitchen table economics“, Financial Times Opinion, 20. Februar.

[14] Siehe dazu Bayer, K., Is the “Green Industrial Plan” (GDIP) fit for urpose? 02.02.2023, https://kurtbayer.wordpress.com/2023/02/02/is-the-green-industrial-plan-gdip-fit-for-purposex/. Bayer, K., Subventionen oder Strategische Industriepolitik? 29.01.2023, https://kurtbayer.wordpress.com/2023/01/29/subventionen-oder-strategische-industriepolitik/.

[15] Siehe dazu u. a. „We are all Keynesians now”, The Boston Globe, November 25, 2008.

[16] Der Industrieplan für den Grünen Deal schlägt keine neuen Finanzmittel vor, sondern bezieht sich auf die 225 Mrd. €, die noch aus der Aufbau- und Resilienzfazilität ungenutzt zur Verfügung stehen.

[17] Siehe dazu Bayer, K., Hagen, L., Eine Grüne Investitionsbank (GIB), https://kurtbayer.wordpress.com/2021/06/11/eine-grune-investitionsbank-gib/, 11.06.2021. Bayer, K., Hagen, L., Eine „Klima Bad Bank“, https://kurtbayer.wordpress.com/2021/06/11/eine-klima-bad-bank/, 11.06.2021.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Schlagwörter

Europäische Union, Eurozone, Krisen, Stabilitäts- und Wachstumspakt, Binnenmarkt, Wirtschaftspolitik, Klima

Zitation

Bayer, K. (2023). Zeitenwende für die EU-Wirtschaftspolitik: Mehr als ein Gedankenexperiment. Wien. ÖGfE Policy Brief, 07’2023

Dr. Kurt Bayer

Dr. Kurt Bayer war am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO), im Bundesministerium für Finanzen (Gruppenleiter für Wirtschaftspolitik und Internationale Finanzinstitutionen), als Executive Director im Board der Weltbank und als Board Director bei der Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in London tätig. Er ist Emeritus Consultant am WIFO und Senior Research Associate am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftvergleiche (wiiw). Er verfasst regelmäßig Blogs zu wirtschaftspolitischen Themen: https://kurtbayer.wordpress.com