Westbalkan als Kollateralschaden der europäischen Passivität?

Aktuelle Entwicklungen im Lichte der EU-Erweiterungspolitik

Handlungsempfehlungen

  1. Um den immensen Migrationsdruck am Balkan zu entschärfen und eine mögliche Eskalation zu verhindern, muss sich die EU schnell zu einer gesamteuropäischen Flüchtlingspolitik, inklusive legalen Migrationswegen, aufraffen.
  2. Nach den durchaus erfolgreichen Gipfeltreffen in Berlin und Wien muss sich Paris ab sofort deutlich aktiver an die Planung der Konferenz im Juni 2016 machen, beschlossene Projekte mit Nachdruck verfolgen und die Entschiedenheit der EU, den Erweiterungsprozess offensiver zu betreiben, bekräftigen.
  3. Die Lösung der zentralen Konfliktherde am Westbalkan – Serbien-Kosovo, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina – muss zur Priorität der EU werden und im Rahmen eines detaillierten und operationalisierbaren Stufenplans rasch angegangen werden.

Zusammenfassung

Während die EU auf das technokratische Business as Usual in der Erweiterungspolitik setzt, stecken die Erweiterungskandidaten in Südosteuropa im Jahr 2015 in einer veritablen Krise. Zu den persistenten strukturellen, politischen und sozioökonomischen Schwierigkeiten in der Region gesellen sich angesichts des anhaltend starken Zustroms der Flüchtlinge entlang der Westbalkanroute neue Probleme hinzu. Zugleich nimmt die Strahlkraft des Role-Models der EU tendenziell ab. Der Policy Brief analysiert vor diesem Hintergrund die aktuellen Entwicklungen in Südosteuropa und skizziert mögliche Gefahren bei einer fortgesetzten Strategie des Business as Usual in der Erweiterungspolitik.

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Westbalkan als Kollateralschaden der europäischen Passivität?

Aktuelle Entwicklungen im Lichte der EU-Erweiterungspolitik [1] 

Angesichts der Flüchtlingskrise beschied unlängst EU-Kommissionspräsident Juncker der EU, „in keinem guten Zustand zu sein“ und an einem Mangel der Taten zu leiden.Was für die Flüchtlingspolitik gilt, gilt auch für das Erweiterungsprojekt. Hier verkündete Juncker bei seinem Amtsantritt den fünfjährigen Erweiterungsstopp, der zwar dem realen Zustand der Verhandlungen mit potentiellen Kandidatenländern entspricht, nach außen aber wohl nur das Signal sandte, dass das auf mittlerer Sparflamme exekutierte technokratische Verwalten des Status Quo die Tagesordnung der Erweiterung prägt. Business as Usual sei das derzeitige Dogma in der Erweiterungspolitik.[2] [3]
Es stellt sich nun die Frage, wie sich der derzeitige Zustand der EU-Erweiterungspolitik und die allgemein wahrgenommene Krise der EU auf die nach dem Beitritt Kroatiens zur EU verbliebenen Kandidatenländer des Westbalkans (Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Kosovo und Albanien) auswirkt. Der folgende Policy Brief betrachtet die strukturellen Effekte des derzeitigen Zustandes der EU-Erweiterungspolitik in den Ländern Südosteuropas. Der Fokus liegt hier auf aktuellen Entwicklungen und Prozessen, die entweder in einem direkten Zusammenhang mit der Schwäche der Erweiterungspolitik stehen oder sich als das Resultat der – durch die EU mitbedingten – internen politischen und sozioökonomischen Dynamik in den Ländern ergeben. Letztlich zieht der Policy Brief auch mögliche neue Gefahren bei einer fortgesetzten Strategie des Business as Usual in der Erweiterungspolitik in Betracht.

2015 – Ein Jahr der neuen Krisen und Unsicherheiten

Das Jahr 2015 scheint am Balkan einerseits jenes zu sein, in dem man rund um die Jahrestage des Genozids in Srebrenica, der kroatischen militärischen Operation „Oluja“ (Sturm) und der Unterzeichnung des Dayton-Abkommens erinnert wird, wie schwierig die Demokratisierungs- und Europäisierungsprozesse in der Region verlaufen. Es ist zugleich ein Jahr, in dem der Balkan wieder einmal in das Zentrum des europäischen Interesses gerückt wurde. Der Anlass ist die rezente Flüchtlingskrise sowie der durch die schlechte wirtschaftliche und politische Situation verursachte anhaltend starke Migrationsdruck in allen Staaten des Balkans. Gepaart mit bereits vorhandenen (Bosnien und Herzegowina, Kosovo-Serbien) und einigen neuen Krisenfeldern (wie in Mazedonien oder Montenegro) wird immer häufiger vom Balkan als einem neuerlichen europäischen Krisenherd gesprochen.[4]

Die rezente Flüchtlingskrise sowie der durch die schlechte wirtschaftliche und politische Situation verursachte anhaltend starke Migrationsdruck in allen Staaten des Balkans haben den Balkan wieder einmal in das Zentrum des europäischen Interesses gerückt.

Im Verlauf des Jahres 2015 erinnerten uns einige Ereignisse noch einmal daran, wie vielfältig und akut die  Problemlagen in den Staaten des Westbalkans sind. Die Massen an Kosovaren, die Anfang 2015 ihr Land Richtung Ungarn und Westen verließen, zeigten einmal mehr, wie instabil die Lage in diesem jüngsten Staat Europas ist. Im Kosovo spitzte sich im Herbst 2015 der Konflikt zwischen der Regierung und der Opposition zu. Der Einsatz von Tränengas im kosovarischen Parlament versinnbildlicht diese akuten Spannungen. Zwar konnte Kosovo im Herbst 2015 das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen unterzeichnen, das Aussetzen der Umsetzung der in Brüssel getroffenen Vereinbarung über den Status der serbischen Gemeinden gefährdet diesen formalen Fortschritt jedoch.
Mazedonien beschäftigte in der ersten Hälfte des Jahres 2015 auch die internationalen Medien. Der autoritäre Kurs von Nikola Gruevski und seiner VMRO-DPMNE, massive Antiregierungsproteste sowie die Eskalation der Gewalt Anfang Mai in der mazedonischen Stadt Kumanovo[5] zeugen von einer akuten Krise im Land, die bislang trotz Vermittlungsversuchen von Johannes Hahn nicht beigelegt werden konnte. In Sachen EU-Annäherung steht Mazedonien weiterhin still. Im mittlerweile berüchtigten Namensstreit mit Griechenland zeichnet sich keine Lösung ab.
Bosnien-Herzegowina hat zwar eine neue Regierung bekommen und auch ein Reformpaket beschlossen, die ethno-nationalen Eliten scheinen aber auch im Jahr 2015 kaum am Gemeinwohl und an echten Reformen, sondern am Machterhalt und an der Realisierung partikularer Interessen interessiert zu sein. Die neue Regierung hofft, dass man 2016 den Antrag auf die Mitgliedschaft und den Beginn der Verhandlungen stellen wird können, der Mangel an Reformbewegung stimmt aber nicht optimistisch.
Serbien soll noch vor Jahresende die ersten Verhandlungskapitel öffnen. Serbiens Regierungschef Aleksandar Vucic scheint der neue Darling des Westens zu sein und bemüht sich in Reformrhetorik. Auf der nationalen Front nehmen aber Bedenken wegen seiner allumfassenden Kontrolle der Gesellschaft zu. Zugleich lässt der erhoffte und vom Premierminister immer wieder angekündigte soziale und wirtschaftliche Aufschwung auf sich warten.
Und letztlich ist auch Montenegro, das seit geraumer Zeit mit der EU verhandelt und bislang durch die starke Regierungshand von Milo Djukanovic von sichtbaren Turbulenzen verschont war, zu einem neuen politischen Hot-Spot geworden. Die Proteste gegen die Regierung, die im Oktober zuweilen eskaliert sind, offenbaren all die Probleme und autoritären Tendenzen des stramm geführten Regimes von Djukanovic. Die sozialen Protestformen in der Gesamtregion häufen sich in der letzten Zeit und sind ein Spiegelbild des politischen und sozioökonomischen Stillstands.
Massenproteste in Bosnien und Herzegowina im Februar 2014, Proteste gegen die Regierung Gruevski in Mazedonien im Frühjahr 2015 oder eben die neuesten Proteste gegen die Regierung Djukanovic in Montenegro sind deutliche Hinweise darauf, dass die Region brodelt und mehr denn je eine proaktive EU braucht.

Flüchtlings- und Migrationskrise am Westbalkan

Durch die Flüchtlingskrise und den anhaltenden massiven Zustrom der Flüchtlinge auf der so genannten Westbalkanroute ist man in der EU gezwungen worden, der Region wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die aktuelle Situation offenbart zwei konkrete Dimensionen der Flüchtlings- und Migrationsproblematik am Balkan.

Die Massenflucht der Kosovaren im Winter 2014/15 steht als Symbol für diese Gruppe, die mit ihrer Flucht ihren Regierungen ein unglaublich miserables Zeugnis ausstellen.

Die erste Dimension der Problematik sind die Balkanstaaten als Quelle von Migration von Menschen, die angesichts der sozioökonomischen Misere, düsterer Zukunftsaussichten und wohl auch einer in die Ferne gerückten Perspektive der Vollmitgliedschaft in der EU jede Hoffnung auf ein besseres Leben in ihrer Heimat verloren haben und nun den einzigen Ausweg in der Flucht sehen. Die Massenflucht der Kosovaren im Winter 2014/15 steht als Symbol für diese Gruppe, die mit ihrer Flucht ihren Regierungen ein unglaublich miserables Zeugnis ausstellen. Angesichts der Zuspitzung der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 ist nun der Aspekt der Migration vom Balkan in den Hintergrund gedrängt worden. An regulären Migrationskanälen oder neuen Migrationsstrategien, die notwendig und sinnvoll wären angesichts des Migrationsdrucks am Balkan und des Immigrationsbedarfs in westlichen EU-Staaten, mangelt es weiterhin. Kaum jemand traut sich derzeit an ähnliche Modelle zu denken, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren im Zuge der Gastarbeiteranwerbung zum Tragen kamen. Stattdessen überwiegen im Sommer und Herbst 2015 die Abwehrreflexe.

Kaum jemand traut sich derzeit an ähnliche Modelle zu denken, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren im Zuge der Gastarbeiteranwerbung zum Tragen kamen.

In der zweiten Dimension geht es um die Balkanstaaten als Transitrouten oder sogar temporäre Auffangzonen für die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und dem arabischen Raum. So sind mittlerweile hunderttausende Flüchtlinge in Serbien, Mazedonien und Kroatien unterwegs. Die Flüchtlingskrise hat die regionalen Beziehungen zwischen einzelnen Staaten rapide verschlechtert. So ist vor allem das Verhältnis zwischen Serbien und Kroatien nachhaltig gestört. Im September und Oktober 2015 waren wir Zeugen von Grenzsperren, unversöhnlicher Rhetorik und gegenseitigen Anschuldigungen, die den Ton zwischen den beiden Staaten radikalisiert und alle an den Diskurs der 1990er Jahre erinnert haben. Derzeit (November 2015) ist der Zustrom der Flüchtlinge ungebremst. Das große Flüchtlingsgipfeltreffen der EU zur Westbalkanroute am 25. Oktober 2015 hat zwar einen 17-Punkte-Plan beschlossen, der die Lage entschärfen soll. Die beschlossenen Maßnahmen (Schaffung von 100.000 Aufnahmeplätzen für Flüchtlinge auf der Westbalkan-Route, Stopp des Durchwinkens von Migranten zum nächsten Nachbarstaat, Aufbau eines Kontaktnetzes zur Information über Migrationsbewegungen, engere Zusammenarbeit mit dem UNHCR, Unterstützung der Staaten durch Frontex, etc.)[6] bedürfen des politischen Willens zur Umsetzung und enger Abstimmung des Vorgehens zwischen den Staaten, zwischen denen in der Praxis eher ein sehr rauer Ton herrscht. Zurzeit sieht es nicht danach aus, als ob der 17-Punkte-Plan zur Entspannung der Situation beitragen könnte. Eines scheint hier sehr klar zu sein: Solange sich die EU nicht zu einer radikal anderen und solidarischen Flüchtlingspolitik aufrafft, deren Teil auch der Westbalkan sein muss, wird die Region ein Kollateralschaden des europäischen Unvermögens in Sachen Flüchtlinge bleiben.

Solange sich die EU nicht zu einer radikal anderen und solidarischen Flüchtlingspolitik aufrafft, deren Teil auch der Westbalkan sein muss, wird die Region ein Kollateralschaden des europäischen Unvermögens in Sachen Flüchtlinge bleiben.

Strukturelle Probleme der Westbalkanstaaten

Diese neuesten krisenhaften Entwicklungen deuten darauf hin, dass die Beitrittskandidaten am Westbalkan weiterhin mit tiefen strukturellen Problemen zu kämpfen haben. Die Folgen der globalen und europäischen Wirtschaftskrise, die die Westbalkanstaaten stark getroffen hat, waren in den letzten Jahren sicherlich ein zentraler Faktor, der sich negativ auf die EU-Reformbemühungen in der Region ausgewirkt hat und weiterhin auswirkt. Der relative Wirtschaftsaufschwung durch direkte Unterstützungen durch die EU und internationale Gemeinschaft, durch massivere ausländische Direktinvestitionen oder durch den größeren Umfang der Auslandsrücküberweisungen zwischen 2000 und 2008 ist von einer deutlichen Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, einer Zunahme der Arbeitslosenzahlen und neuen sozialen Problemen abgelöst worden. Die wirtschaftliche und soziale Misere dauert nun schon einige Jahre. Die Aussichten auf wirtschaftliche Erholung sind eher mager und unsicher.

Die EU war und ist weiterhin für viele vor allem die Verheißung eines besseren Lebens, des Wohlstandes. Nun steigt die Skepsis, dass die EU das bieten kann. Vor allem aber ist die reale Wartezeit auf einen möglichen und keinesfalls sicheren EU-Beitritt fast schon im Bereich der Generationen.

Die Menschen verlieren in diesem Prozess die Geduld und die Lebenskraft – Apathie ist die eine Folge,  die Planung von Migration und Flucht aus der Region die zweite. Daraus resultiert eine Krise des Vertrauens – man vertraut nicht mehr den Institutionen und kaum den gewählten Politikern. Die Krise des Vertrauens führt in die Krise der Demokratie, ohne dass diese durch stabile Institutionen und eine gelebte demokratische Praxis abgesichert wäre. Und letztlich geht mit der sozio-ökonomischen Krise auch eine Krise des Vorbilds der EU einher. Die EU war und ist weiterhin für viele vor allem die Verheißung eines besseren Lebens, des Wohlstandes. Nun steigt die Skepsis, dass die EU das bieten kann. Vor allem aber ist die reale Wartezeit auf einen möglichen und keinesfalls sicheren EU-Beitritt fast schon im Bereich der Generationen. Nach 15 Jahren der EU-Annäherung liegen für Menschen im mittleren Alter in Bosnien und Herzegowina, Kosovo oder in Mazedonien die möglichen Beitrittsdaten fast schon außerhalb ihrer eigenen Lebensspanne. So ist die Tendenz bei den Zustimmungsraten zur EU sinkend und es gibt immer mehr Menschen, die den Weg in die EU als unumstößliches Ziel in Frage stellen.
Diese Tendenz lässt sich deutlich in den neuesten Umfragen des Regional Cooperation Council[7] herauslesen. So sind zwar weiterhin 40% der Menschen in den Westbalkanstaaten der Meinung, dass die EU-Mitgliedschaft etwas Gutes sei. 37% sind sich hingegen nicht sicher und sagen, dass die EU-Mitgliedschaft weder gut noch schlecht sei, während 20% der Befragten in der Region in der Mitgliedschaft gar nichts Gutes sehen. Das ergibt eine Mehrheit von 57% der Bevölkerung, deren Einstellung zur EU entweder schlecht oder bestenfalls gemischt ist. In Serbien oder Bosnien-Herzegowina sind es gar 71% bzw. 67% der Befragten, die diese skeptische Haltung teilen.
Durch die angespannte wirtschaftliche und sozio-ökonomische Entwicklung stehen gewählte Politiker unter besonderem Druck und sind gezwungen, einen Spagat zwischen notwendigen Sparmaßnahmen und der Aufrechterhaltung der Unterstützung der Bürger  zu machen. Oftmals wird der Ausweg aus diesem Dilemma auf der Seite der politischen Eliten im Populismus und dem Einsatz des Nationalismus als probate Mobilisierungsmittel gesucht. In einigen Staaten der Region haben politische und territoriale Fragen an zusätzlicher Brisanz gewonnen. Durch den wachsenden EU-Skeptizismus bleibt für manche politische Leader in der Region der Anreiz zur schnellen und effizienten Umsetzung der notwendigen Reformen auf dem EU-Weg gering. Manche Politiker befürchten auch insgeheim, dass ein schneller Weg in die EU und damit einhergehende größere Rechtsstaatlichkeit und Transparenz in der Gesellschaft ihre angehäuften Pfründe und Privilegien bedrohen könnte. Insgesamt ist somit die Region an einen politisch sehr gefährlichen Scheidepunkt angelangt.

Sollte das Vorbild der EU und der Demokratie weiter an Strahlkraft einbüßen, droht ein weiteres autoritäres Abdriften der Region und weitere Verunsicherung der Menschen.

In den letzten Jahren sind in nahezu allen Staaten der Region autoritäre Tendenzen des Regierens stärker geworden. Medien werden stärker kontrolliert. Mächtige Zirkel aus politischen und ökonomischen Eliten haben die Macht im Staat und lassen sich durch nichts aus ihren Positionen wegbringen. Die Justiz ist bedroht und politisch oft kontrolliert. Putin findet in Serbien und in der Republika Srpska Sympathien. Immer mehr Menschen haben auch Sympathien für eine neue Form des Autoritarismus, dessen Werte weit entfernt von jenen der EU liegen. Neue starke Männer an der Spitze der Staaten, die der Nation das Heil versprechen, finden in einem weiterhin patriarchal und traditionell geprägten Gesellschaftsumfeld fruchtbaren Boden. Eines ist auch hier klar: Sollte das Vorbild der EU und der Demokratie weiter an Strahlkraft einbüßen, droht ein weiteres autoritäres Abdriften der Region und weitere Verunsicherung der Menschen.

Versuche des europäischen Entgegensteuerns und Reaktionen in der Region

Mit diesen neuen Gefahren stellt sich die Frage, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen seitens der EU derzeit versucht wird, dem sichtbaren politischen und sozioökonomischen Stillstand am Westbalkan entgegenzusteuern. Hier ist vor allem der im August 2014 von der deutschen Kanzlerin Merkel ins Leben gerufene Berlin-Prozess zu einem zentralen Mechanismus der europäischen Politik für den Westbalkan geworden. Der Berlin-Prozess ist wichtig, weil durch ihn Deutschland und – nach Österreich im Jahr 2015 – auch Frankreich (2016) als Gipfelveranstalter sich der Region des Balkans und damit auch dem Thema der Erweiterung widmen werden. Damit der Berlin-Prozess an Bedeutung gewinnt, war es wichtig, dass beim Wiener Gipfel konkrete Projekte beschlossen wurden. In Sachen Infrastruktur, bei bilateralen Streitigkeiten zwischen den Staaten, in Sachen Jugendaustausch oder Zivilgesellschaft konnte man dann auch in der Tat einen Fortschritt in Wien erzielen.[8] Nach dem Wiener Gipfeltreffen mit seinen zahlreichen Beschlüssen folgt nun eine wichtige Phase der Implementierung der beschlossenen Ergebnisse. Das Gipfeltreffen im nächsten Jahr in Paris wird dadurch ein wichtiger Meilenstein werden, um den Fortschritt zu überprüfen und noch einmal den EU-Willen zur Erweiterung zu bekräftigen. Dass derzeit Paris kaum Energien in die Planung des Gipfels investiert, birgt Gefahren in sich. Sollte diese neue Ebene der EU-Politik gegenüber dem Balkan ihre Wirkung verlieren, würde die EU insgesamt das beinahe einzige Instrumentarium verlieren, das im Jahr 2015 in der Lage wäre, für einen gewissen EU-Optimismus in der Region zu sorgen.

[1] Dieser Policy Brief entstand in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Institut für internationale Politik (oiip).
[2] Vgl. Balkans in Europe Policy Advisory Group, “The Unfulfilled Promise: Completing the EU Enlargement to the Balkans”, Policy Brief May 2014
[3] Siehe ÖGfE/oiip Policy Brief: Marciacq, F. (2015) EU Enlargement in troubled times? Adapting to new realities and drawing lessons from democratisation failures. Wien. oiip / ÖGfE Policy Brief 37‘2015.
[4] Vgl. z.B. Thomas Brey: Wut auf dem Balkan entlädt sich, Wiener Zeitung, 27.10.2015, abrufbar unter http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/europa/europastaaten/782787_Wut-am-Balkan-entlaedt-sich.html
[5] Vgl. zu Mazedonien Balkans in Europe Policy Advisory Group: 2015. “Unravelling the Political Crisis in Macedonia: Toward Resolution or Calm Before the Storm?”, Policy Brief  [online] http://www.suedosteuropa.uni-graz.at/biepag/node/158jun
[6] siehe EU Kommission, Presseerklärung, 25.10.2015: Meeting on the Western Balkans Migration Route: Leaders Agree on 17-point plan of action, abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5904_en.htm
[7] Vgl. hiezu die neuesten Daten der umfassenden Meinungsbefragung in allen Westbalkanstaaten, die vom Regional Cooperation Council (RCC) durchgeführt wurde. RCC: Balkan Barometer 2015. Public Opinion Survey, Sarajevo 2015
[8] Vgl. siehe die Abschlussdeklaration der Wiener Konferenz und die dazugehörigen Dokumente auf der Webseite des BMEIA: http://www.bmeia.gv.at/en/european-foreign-policy/foreign-policy/western-balkans-summit-vienna-2015/

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Dzihic, V. (2015). Westbalkan als Kollateralschaden der europäischen Passivität? Aktuelle Entwicklungen im Lichte der EU-Erweiterungspolitik. Wien. oiip / ÖGfE Policy Brief, 38’2015
Hinweis
Dieser Policy Brief entstand in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Institut für internationale Politik (oiip) und ist auch auf EurActiv erschienen.

Vedran Dzihic

Vedran Dzihic ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am oiip (Österreichisches Institut für internationale Politik) und Politologe an der Universität Wien.