Von freien zu zivilisierten Märkten

Ein New Deal für die europäische Handelspolitik

Handlungsempfehlungen

  1. Gründung einer europäischen Agentur, die Mindeststandards für Produktionsbedingungen, Produktqualität und Ressourceneffizienz setzt.
  2. Etablierung dieser Standards als unbedingte Voraussetzung für den Zugang zum europäischen Markt.
  3. Verteilung der Sitze dieser Agentur auf jene Gebiete, die die höchsten Arbeitslosenraten aufweisen.

Zusammenfassung

Uneingeschränkte Märkte tendieren dazu, universell anwendbare europäische Wertvorstellungen, wie Gerechtigkeit, Würde und Fairness, zu untergraben. Der Beitrag schlägt daher eine europäische Regulierungsagentur vor, die freies UnternehmerInnentum und grenzüberschreitenden Handel in Einklang mit den zentralen europäischen Werten bringt.

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Marktwirtschaft und europäische Werte

Ausgangspunkt des Beitrags ist die These, dass uneingeschränkter Wettbewerb dazu tendiert, universelle Konzepte wie Gerechtigkeit, Würde und Fairness zu untergraben. Das Vermeiden von sozialen Verpflichtungen erzeugt in Konkurrenzsituationen einen Wettbewerbsvorteil: Jene MarktteilnehmerInnen mit den niedrigsten moralischen Werten üben daher Druck auf MarktteilnehmerInnen aus, die kostenintensivere moralische und oder soziale Vorstellungen verfolgen. Uneingeschränkter (Markt-)Wettbewerb führt daher tendenziell zu einer Erosion von moralischer und sozialer Standards. Dieser Zusammenhang wird auch in nicht-ökonomischen Bereichen, beispielsweise bei Doping im Profisport, sichtbar.

Sinkende Grenzmoral im internationalen Handel

Dieser Mechanismus, der nach wie vor einen blinden Fleck in der traditionellen ökonomischen Theorie darstellt, wird unter dem Titel einer „sinkenden Grenzmoral des Wettbewerbs“ beschrieben.[1] Sie wirkt dabei im Kontext internationalen Handels auf besonders intensive Weise, da aufgrund der großen globalen Unterschiede im Bereich der Lebens- und Sozialstandards Wettbewerbsvorteile in einem größeren Maßstab zu erschließen sind. Korrespondierend dazu erhöht sich freilich die Gefahr einer Erosion von moralischen und sozialen Standards. Die Konsequenzen dieser Abwärtsspirale sind weltweit zu beobachten: Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Lohndruck, Kinderarbeit, ökologischer Raubbau, mangelnde Verarbeitung und sinkende Qualität der (Massen-)Produkte.
Im Gegensatz dazu postuliert das Konzept eines „zivilisierten Marktes“, dass freies UnternehmerInnentum und internationaler Handel im Einklang mit jenen universellen Werten, die eine zentrale Grundlage des europäischen Projektes bilden (etwa Gerechtigkeit, Würde, Fairness), gebracht werden können. Um dieses Ziel eines „zivilisierten Marktes“ zu erreichen, wird die Gründung einer neuen europäischen Institution vorgeschlagen.

Top-Runner Programm als Archetyp

Als empirisches Vorbild für eine derartige Institution dient das japanische Top-Runner Programm. Dieses ist seit über 14 Jahren in Japan etabliert und legt dort Energieeffizienzstandards für eine Reihe von Produkten (Kühlschränke, Klimaanlagen, Küchengeräte usw.) fest. Dabei werden gewisse (Minimum-)Standards für einen Zeitraum zwischen drei und zehn Jahren bestimmt – am Ende der Periode müssen schließlich alle angebotenen Produkte diese Kriterien erfüllen oder es droht ein Verkaufsverbot für den japanischen Markt. Zur Festlegung von Standards werden jeweils die energieeffizientesten Produkte einer Produktklasse als Bezugspunkt herangezogen. Hinter diesem Konzept steht der Versuch, das Märkten innewohnende Innovationspotenzial zu dirigieren und auf jene Ebenen zu kanalisieren, die aus gesellschaftlicher Sicht besonders nützlich erscheinen (in diesem Fall die Ebene der Energieeffizienz).[2] Nach Ablauf dieser Periode beginnt der Prozess von neuem (d.h. Setzung eines neuen Standards mit dazugehörigem Erfüllungszeitraum).[3]

Europäische Aufsichtsagentur für Handelswaren

In Anlehnung an das Top-Runner Programm wird eine europäische Aufsichtsagentur für Handelswaren vorgeschlagen, deren Auftrag es ist, verpflichtende Mindeststandards für die auf dem europäischen Markt verkauften Güter zu setzen und so Moralität und Ressourceneffizienz zu einer Dimension unternehmerischen Wettbewerbs zu erheben. Bei Nichteinhaltung der Standards innerhalb eines bestimmten Zeitraumes werden die Unternehmen sanktioniert bzw. verlieren sie den Zugang zum europäischen Markt.
Diese Agentur soll aus zwei Säulen bestehen: einer Division die für die Einhaltung von bestimmten Arbeitsbedingungen (Mindestlohn, Arbeitszeitbeschränkungen, Sicherheitsstandards usw.) zuständig ist und einer Division, deren Aufgabe Nachhaltigkeit und Produktqualität sind (Energieeffizienz, Langlebigkeit, Auswirkung auf Gesundheit und Umwelt).
Da es sich hierbei offensichtlich um eine Aufgabe von potentiell enormer Größe handelt, sollen nach dem Vorbild des Top Runner Programms bestimmte Kriterien darüber entscheiden, ob eine Produktklasse in dieses Programm aufgenommen bzw. priorisiert wird. Hinsichtlich Arbeitsbedingungen sind dies, dass (1) die Produkte in großen Mengen verkauft werden, (2) sie überwiegend in Lohnarbeit hergestellt werden und (3), dass es offensichtliches Potential zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen gibt. Produktklassen die hierfür potentiell in Frage
kommen sind Kleidung[4], bestimmte Rohstoffe (seltene Metalle die vor allem in der IT-Industrie Verwendung finden, Gold, Diamanten)[5] oder landwirtschaftliche Erzeugnisse die überwiegend auf Plantagen hergestellt werden (z.B. Zuckerrohr[6]).
Parallel dazu gelten bei Nachhaltigkeit und Produktqualität folgende Kriterien für eine Einbeziehung bzw. Priorisierung: (1) Produkte müssen in großen Mengen verkauft werden, (2) sie verursachen einen verhältnismäßig großen Verbrauch an natürlichen Ressourcen oder Schaden für Umwelt oder Gesundheit und (3) es existiert technologischer Spielraum um diese Effekte zu reduzieren. Bezüglich Langlebigkeit sollte in vielen Produktkategorien Spielraum für Verbesserung sein, da die Nutzungsdauer von Konsumgütern seit langer Zeit rückläufig ist.[7] Auch toxische Inhaltsstoffe in Konsumgütern geben laufend Grund zur Diskussion.[8]
Hinsichtlich der Arbeitsbedingungen sollte dieser Regulationsansatz dazu anregen, die Zusammenarbeit zwischen internationalen Abnehmern und nationalen Zulieferern zu intensivieren – eine Maßnahme, die etwa im jüngsten ILO-Länderbericht zu Bangladesh konkret eingefordert wurde.[9]
Unter einem solchen Reglement können schlechte Arbeitsbedingungen bei den Zulieferern nicht mehr länger ignoriert werden, bzw. würden die wettbewerbsbedingten Anreize, diese zu ignorieren, verschwinden. Im Fall von bereits bestehenden freiwilligen Kooperationen (Corporate Social Responsibility Programme) stellt es eine Ergänzung dar bzw. würde es diesen Unternehmen sogar kurzfristig einen Marktvorteil verschaffen.[10]
Da angemessene Arbeitsbedingungen ein relatives Konzept sind, ist auch mit Bedacht auf jene Länder, die am meisten von dieser Umstellung betroffen wären, darauf zu achten, dass die Standards adäquat und die Übergangsfristen ausreichend sind. Wenn dies der Fall ist, so besagt eine wachsende Literatur, dass sich bessere Arbeitsstandards positiv auf die Innovationstätigkeit und damit auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit auswirken.[11] Auch hinsichtlich Energieeffizienz gibt es über das Top Runner Programm hinaus[12] Evidenz dafür, dass regulatorische Ansätze die Innovationstätigkeit steigern.[13]

Ein New Deal für die europäische Handelspolitik

Es versteht sich von selbst, dass diese Agentur, um diese Aufgaben erfüllen zu können, von beträchtlicher Größe sein muss. Außerdem benötigt es für die Evaluierung von Arbeitsstandards neben internationalen Büros auch eine Zusammenarbeit mit lokalen Regierungen, anderen internationalen Organisationen (z.B. die ILO) sowie bestehenden privaten Initiativen (Fair Trade Bewegungen, Corporate Social Responsibility Programme). Damit einher geht ein hoher Bedarf an personellen und finanziellen Ressourcen. Angesichts der derzeit desaströsen Arbeitsmarktsituation, von der speziell in Südeuropa auch in hohem Ausmaß junge und hoch qualifizierte Menschen betroffen sind, könnte aber gerade auch darin die Chance dieses Projektes liegen, nämlich dann, wenn es gelingt die Sitze dieser Agentur auf jene Gebiete zu verteilen, in denen die Arbeitslosigkeit am höchsten ist. Ganz im Sinne eines New Deal[14] würde man somit nicht nur die wirtschaftlichen Spielregeln verändern, sondern auch einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten.
Die Einführung der vorgeschlagenen europäischen Aufsichtsagentur beinhaltet das Potenzial, Europa effizienter und grüner, sowie den internationalen Handel fairer zu gestalten. Ein solcher Wandel soll das innovative Potential marktbasierter Systeme dorthin lenken, wo es der Gesellschaft am meisten nützt. Ähnlich dem Top-Runner-Programm, welches darauf abzielt, Energieeffizienz zu einem wichtigeren Kriterium im zwischenbetrieblichen Wettbewerb zu machen, soll mit diesem Vorschlag der Moral eine wichtigere Rolle im globalen Wettbewerb eingeräumt werden und auf diese Weise dem Trend der Erosion von sozialen und moralischen Standards verbunden mit Grenzmoral entgegengewirkt werden.

1) Wolfgang Streeck (2011), Taking capitalism seriously: Towards an institutionalist approach to contemporary political economy. Socio-Economic Review, 9, 137-167.
2) Siehe hierzu auch Kapeller, Jakob, Schütz, Bernhard,  und Tamesberger, Dennis, Über die regulatorischen Spielräume zur Etablierung nachhaltigen Konsums, Wirtschaft und Gesellschaft 2013, 39(2), 207-231.
3) Japanese Ministry of Economy, Trade and Industry (2010), Top Runner Program. Developing the World’s Best Energy-Efficient Appliances, Tokyo: JMETI.
4) Siehe hierzu International Labour Organization (2013), Bangladesh – Seeking Better Employment conditions for Better Socioeconomic Outcomes. Studies on Growth and Equity. Genf: ILO.
5) Siehe hierzu Michael Obert (2011), Die dunkle Seite der digitalen Welt. Die Zeit 02/2011. Verfügbar unter: www.zeit.de/2011/02/Kongo-Rohstoffe, (18.2.2014); International Labour Organization (2010), Mining, a hazardous work. Verfügbar unter www.ilo.org/safework/areasofwork/hazardous-work/WCMS_124598/lang–en/index.htm (18.2.2014); Vereinte Nationen (2012), Safety conditions at South African Mines have room for improvement, says UN expert. Verfügbar unterwww.un.org/apps/news/story.asp/www.unodc.org/html/story.asp (18.2.2014).
6) Siehe hierzu Coslovsky, Salo V., und Locke, Richard (2013), Parallel Paths to Enforcement: Private Compliance, Public Regulation, and Labor Standards in the Brazilian Sugar Sector, Politics & Society, 41 (4): 497-526.
7) Vgl. Cooper, Tim (2005), Slower Consumption – Reflections on Product Life Spans and the ‘Throwaway Society’, Journal of Industrial Ecology, 9 (1-2): 51–67; Cooper, Tim (2004), Inadequate Life? Evidence of Consumer Attitudes to Product Obsolescence, Journal of Consumer Policy, 27 (4): 421-449.
8) Für konkrete Beispiele siehe Becker, Monica, Edwards, Sally und Massey, Rachel I. (2010), Toxic Chemicals in Toys and Children’s Products: Limitations of Current Responses and Recommendations for Government and Industry, Environmental Science and Technology, 44 (21): 7986-7991; Shotyk, William, Krachler, Michael und Chen, Bin (2006), Contamination of Canadian and European bottled waters with antinomy from PET containers, Journal of Environmental Monitoring, 8 (2): 288-292.
9) International Labour Organization (2013), Bangladesh – Seeking Better Employment conditions.
10) Ein Vorteil gegenüber freiwilligen Programmen besteht darin, dass hier nicht die Gefahr von „regulatory capture“ gegeben ist. Außerdem hat sich gezeigt, dass solche freiwillige Initiativen schlecht abschneiden wenn es um das Recht auf gewerkschaftliche Organisation geht. Vgl. hierzu Anner, Mark (2012), Corporate Social Responsibility and Freedom of Association Rights: The Precarious Quest for Legitimacy and Control in Global Supply Chains, Politics & Society, 40 (4): 609-644.
11) Siehe hierzu Abrami, Regina (2005), On the High Road: Trade, International Standards, and National Competitiveness, Accountability Forum (winter 2005): 39-47; Stiglitz, Joseph (2000), Democratic Development as the Fruits of Labor, Perspectives on Work, 4(1): 31-37; Milberg, William, und Houston, Ellen (2005), The High Road and the Low Road in International Competitiveness: Extending the Neo-Schumpeterian Trade Model beyond Technology, International Review of Applied Economics, 19 (2): 137-62;
12) Vgl. Kimura, Osuma (2010), Japanese Top Runner Approach for energy efficiency standards, SERC Discussion Paper (SERC09035).
13) Vgl. Beise, Marian, und Rennings, Klaus (2003), Lead Markets of Environmental Innovations: A Framework for Innovation and Environmental Economics, ZEW Discussion Paper 03-01; Jänicke, Martin, und Lindmann, Stefan (2010), Governing environmental innovations, Environmental Politics 19 (1): 127-141; Ekins, Paul und Venn, Andy (2006), Assessing innovation dynamics induced by environmental policy: Report of Workshop at the European Commission, Brussels on 21 Juni 2006, London: Policy Studies Institute;
14) Weniger bekannt ist, dass mit dem New Deal nicht nur Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verbunden waren, sondern auch eine große Anzahl an Gesetzesinitiativen zur stärkeren Regulierung ökonomischer Abläufe (z.B. National Industrial Recovery Act, Social Security Act, National Labor Relations Act, Fair Labor Standards Act) und Behördengründungen (z.B. National Recovery Administration, Public Works Administration, Works Progress Administration). Zu den Ergebnissen dieser Initiativen zählten u.a. das Recht auf Gründung von
Gewerkschaften, das Recht auf Kollektivverhandlungen, ein Verbot von Kinderarbeit, sowie die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen und Arbeitszeitbeschränkungen in vielen Branchen. Des Weiteren zählen hierzu die Gründung einer staatlichen Pensionsversicherung sowie einer staatlichen Arbeitslosenversicherung (siehe hierzu Berkin, Carol, Miller, Christopher, Cherny, Robert, und Gormly, James (2012): Making America: A History of the United States, Volume 2: from 1865, Wadsworth: Cengage Learning).

ISSN 2305-2635

Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisationen, für die die Autoren arbeiten, überein.

Schlagwörter

Europäische Union, internationaler Handel, Marktregulation, Arbeitsbedingungen, Produktstandards, Nachhaltigkeit

Zitation

Kapeller, J., Schütz B., Tamesberger, D. (2015). Von freien zu zivilisierten Märkten. Ein New Deal für die europäische Handelspolitik. Wien. ÖGfE Policy Brief, 5’2015

Hinweis

Dieser Policy Brief ist auch auf EurActiv.de erschienen. Ein Kommentar dazu wurde im KURIER publiziert

Jakob Kapeller

Jakob Kapeller ist Philosoph und Ökonom am Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie der Universität Linz.

Bernhard Schütz

Bernhard Schütz ist Ökonom am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Linz.

Dennis Tamesberger

Dennis Tamesberger ist Arbeitsmarktexperte in der Abteilung Wirtschafts-, Sozial-, und Gesellschaftpolitik der Arbeiterkammer Oberösterreich.