Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen in der Ukraine

Handlungsempfehlungen

  1. Die massiven Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen im Ukrainekrieg müssen dokumentiert und gerichtlich aufgearbeitet werden, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und Gerechtigkeit für die Opfer herzustellen. Für die erlittenen Personen- und Sachschäden ist Wiedergutmachung zu leisten.
  2. Den nationalen Staatsanwaltschaften kommt neben dem Internationalen Strafgerichtshof die Hauptrolle zu. Auch wenn die Hauptverantwortung bei der Ukraine liegt, sollten sich aufgrund des Universalitätsprinzips auch andere Staaten an der Strafverfolgung beteiligen. Ein Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression wäre wünschenswert, erscheint jedoch in der Praxis derzeit kaum realisierbar.
  3. Im Vordergrund sollte ein opferorientierter Ansatz stehen, der den Bedürfnissen der hohen Zahl der Opfer nach rascher materieller und psychosozialer Unterstützung Rechnung trägt. Dafür sollten die Expertise zivilgesellschaftlicher Organisationen genutzt und die notwendigen Mittel mit Unterstützung der Europäischen Union sowie interessierter Staaten, darunter Österreich, bereitgestellt werden.

Zusammenfassung

Die bereits mehr als 70.000 registrierten mutmaßlichen Kriegsverbrechen in der Ukraine bedürfen ebenso wie die Vielzahl gravierender Menschenrechtsverletzungen einer fachgemäßen Dokumentation und rechtlichen Verfolgung. Dabei stellt sich die Frage einer effizienten Koordination der Tätigkeit staatlicher und zivilgesellschaftlicher Organisationen. Für die Verfolgung der Täter bestehen verschiedene Ansätze, die vom Internationalen Strafgerichtshof über die nationalen Verfolgungsbehörden bis zu Vorschlägen für ein Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression reichen, das jedoch trotz Unterstützung durch die Europäische Union nur schwer zu realisieren sein wird. Die Hauptlast liegt bei den ukrainischen Behörden, die dafür internationale Unterstützung benötigen. Aufgrund des Universalitätsprinzips können auch andere Länder wie Österreich Verfahren einleiten. Da all dies viel Zeit in Anspruch nehmen wird, kommt einem an den Bedürfnissen der Opfer orientierter Ansatz besondere Bedeutung zu. Diese benötigen rasche materielle und psychosoziale Hilfe, wozu ein nationales und ein im Aufbau befindliches internationales Register zur Dokumentation der Schäden eine Grundlage bilden sollte. Die Europäische Union leistet in allen Bereichen bereits wichtige Hilfe. Österreich könnte durch eine zusätzliche Unterstützung der Strafverfolgung als auch der Bedürfnisse der Opfer einen Beitrag zu Gerechtigkeit und Opferhilfe leisten. Eine völkerrechtskonforme Beendigung des Krieges ist auch deshalb von Bedeutung, um einen negativen Präzedenzfall für die zukünftige internationale Ordnung zu vermeiden.

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Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen in der Ukraine

Einleitung

Der mit der Invasion der Ukraine durch Russland am 24. Februar 2022 begonnene Krieg in der Ukraine ging mit einer Vielzahl von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die aufgrund ihrer systematischen und ausgedehnten Natur teilweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, einher. Dies wirft die Frage nach den Möglichkeiten von deren Verfolgung sowie den Prioritäten und Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich der Opfer auf. In diesem Beitrag sollen daher vier Fragen behandelt werden:

  • Wie kann die große Zahl an Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen dokumentiert werden?
  • Wie können die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden?
  • Was wären die Prioritäten aus Sicht der Bedürfnisse der Opfer?
  • Welchen Beitrag könnte Österreich leisten?

Fragen der Dokumentation von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen

Diese sind in einer Reihe von Berichten von internationalen Untersuchungskommissionen dokumentiert wie den zwei Berichten von Expertenmissionen im Rahmen des Moskauer Mechanismus der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), den Berichten der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen[1], die in Wien ansässig ist, oder einer Vielzahl von Berichten internationaler Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Amnesty International und Human Rights Watch. Eine wichtige Quelle ist dafür die Arbeit nationaler ukrainischer NGOs wie des Zentrums für bürgerliche Freiheiten, deren Vorsitzende, Olexandra Matviychuk im Dezember 2022 den Friedennobelpreis erhalten hat.

Die Dokumentation der Kriegsverbrechen in einer Qualität, die eine spätere Verfolgung vor Gericht erlaubt ist von großer Bedeutung. Dabei spielt der Beitrag von NGOs eine wichtige Rolle. Allerdings bedarf es für die Dokumentation der Beachtung internationaler Standards, um eine Qualität zu sichern, die zu Verurteilungen vor den Gerichten führen können. Dazu bestehen unter anderem Trainingsprogramme wie von der International Accountability Platform for Belarus in Kopenhagen, ein Zusammenschluss mehrerer NGOs zur Dokumentation von Menschenrechtsverbrechen in Belarus, der seine Erfahrungen nun an ukrainische NGOs weitergibt. Die Gesamtverantwortung liegt bei den ukrainischen Behörden, insbesondere der Generalstaatsanwaltschaft, die dafür eigene Abteilungen eingerichtet hat, aber mit der hohen Zahl der Fälle überfordert ist. Verbesserungsbedarf besteht noch hinsichtlich der Koordination zwischen den unterschiedlichen Akteur:innen.

Die Aufgabe ist enorm: So hat die Ukraine im ersten Jahr der russischen Aggression bereits mehr als 70.000 vermutete Kriegsverbrechen registriert, darunter vor allem Tötungen und Verletzungen des Kriegsvölkerrechts sowie Folter von Zivilpersonen und die Zerstörung zivilen Eigentums. Nach vorsichtigen Schätzungen wurden bereits mehr als 30.000 Zivilist:innen getötet oder verletzt, darunter viele Frauen und Kinder. Besonders in Erinnerung blieb die Bombardierung der Geburtsklinik und des Dramatheaters in Mariupol. In letzterem hatten Hunderte Frauen und Kinder Schutz gesucht, worauf durch riesige Aufschriften auf dem Boden auf beiden Seiten hingewiesen wurde. Nach der Rückeroberung von Butscha und anderer besetzter Gebiete wurden massive Menschenrechtsverletzungen bekannt. Dazu gehören auch Hunderte Fälle von Vergewaltigungen von Frauen. Aber auch Verletzungen der Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht, wie die Vorenthaltung der Rechte von Kriegsgefangenen oder der unverhältnismäßige Einsatz von geächteten Waffen sind hier zu nennen. Kriegsverbrechen sind neben vorsätzlichen Angriffen auf die Zivilbevölkerung auch vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte, wozu etwa die Raketen und Drohnenangriffe auf die kritische Infrastruktur, wie Elektrizitäts- und Wasserversorgung sowie Heizung gehören. Dazu kommt eine hohe Zahl von Angriffen gegen besonders geschützte Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen, Kirchen und Kulturgüter. Insgesamt stellte bereits der erste internationale Bericht im Rahmen des Moskau Mechanismus der OSZE von April 2022 ein „Muster“ von massiven Verletzungen des Kriegsvölkerrechts und der Menschenrechte fest, was durch weitere Berichte bestätigt wurde.[2]

Nach vorsichtigen Schätzungen wurden bereits mehr als 30.000 Zivilist:innen getötet oder verletzt, darunter viele Frauen und Kinder.

Die Frage der Verfolgung der Täter

Dies wirft die Frage auf, wie die Verantwortlichen für diese Verletzungen zur Rechenschaft gezogen werden können? Verantwortliche gibt es auf allen Ebenen, beginnend mit Präsident Wladimir Putin selbst, der den völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine angeordnet hat. Ohne diese Aggression hätte es die vielen einzelnen Verletzungen nicht gegeben, wobei zu berücksichtigen ist, dass Russland seit 2014 mit der Annexion der Krim und der Unterstützung von Rebellengruppen im Donbass auch für die Menschenrechtsverletzungen auf der Krim und die 14.000 Toten des Krieges im Donbass eine Verantwortung trägt. Präsident Putin für seinen Aggressionskrieg verantwortlich zu machen wurde so ein Hauptziel der ukrainischen Regierung, aber auch der Zivilgesellschaft, die sich etwa in einer Gruppe von NGOs mit dem Namen „Tribunal für Putin“ zusammenschloss. Die Gruppe, in der das Zentrum für bürgerliche Freiheiten eine wichtige Rolle spielt, sammelt Beweise für Kriegsverbrechen und tritt für die Einrichtung eines Sondertribunals ein.[3] Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag kommt dafür nicht in Frage, weil um seine Zuständigkeit für das Verbrechen der Aggression zu begründen, das erst in einer Zusatzvereinbarung von Juni 2010 aufgenommen wurde[4], eine Zustimmungserklärung Russlands erforderlich wäre, die selbst bei einem Regimewechsel in Russland unwahrscheinlich wäre. Von Seiten verschiedener internationaler Expert:innen erhielten diese Initiativen für einen Ad Hoc-Gerichtshof Unterstützung mit dem Vorschlag eines „Sondergerichtshofes (Special Tribunal)“.[5] Ein Vorbild war das Nürnberger Tribunal, das freilich unter gänzlich anderen Umständen stattgefunden hatte. Auf europäischer Ebene unterstützte die Parlamentarische Versammlung des Europarates[6], das Europäische Parlament[7] und schließlich auch die Europäische Kommission das Projekt. Bisher kam es jedoch zu keiner Realisierung, weil noch wichtige Fragen offen sind. So genießt Putin als Präsident internationale Immunität die zwar vom Sicherheitsrat, wie im Fall des Jugoslawientribunals aufgehoben werden könnte, was aber aufgrund des russischen Vetorechts unmöglich erscheint.[8] Entscheidend, auch für die Frage der globalen Legitimität, wäre eine Einbindung der Vereinten Nationen, zumindest auf der Ebene der Generalversammlung,[9] die im Rahmen ihrer aufgrund des Beschlusses des Sicherheitsrates 2623 vom 27. Februar 2022  einberufenen 11. Notstandssondertagung zum Ukrainekrieg[10] schon mehrere Resolutionen mit großen Mehrheiten verabschiedet hat. Ob dies aber auch für einen solchen Fall, wo ein amtierender Staatschef angeklagt werden soll, realistisch ist erscheint zumindest fraglich.  Die Empfehlung der Generalversammlung vom November 2022, die die Notwendigkeit eines internationalen Kompensationsmechanismus anerkennt und dazu die Einrichtung eines internationalen Schadensregisters empfiehlt, erhielt nur 94 Prostimmen, ein Sondertribunal erscheint noch wesentlich sensibler.[11]

Verantwortliche gibt es auf allen Ebenen, beginnend mit Präsident Wladimir Putin selbst, der den völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine angeordnet hat.

Eine Alternative wäre ein hybrides Gericht unter Einbezug internationaler Richter wie im Fall des Kambodschatribunals, das jedoch von Kambodscha für ausgewählte frühere Amtsträger selbst beantragt wurde. In ähnlicher Weise wurden die in Den Haag tätige kosovarische Sonderkammer und -staatsanwaltschaft als hybrides Gericht nach kosovarischem Recht nur für kosovarische Staatsangehörige errichtet. Das Sondertribunal müsste wohl in Abwesenheit des Angeklagten verhandeln, was zwar nach ukrainischem Recht möglich wäre, aber international leichter angreifbar wäre. Dazu kommt, dass die ukrainische Verfassung keine Möglichkeit für Sondergerichte vorsieht. Eine Verfassungsänderung ist wegen des geltenden Kriegsrechts nicht möglich. Hybride Gerichte nach nationalem Recht hätten auch das Problem der völkerrechtlichen Immunität von Staatsoberhäuptern. Manche Staaten scheinen auch die mögliche Präzedenzwirkung eines internationalen oder hybriden Strafgerichts über einen ausländischen Regierungschef zum Verbrechen der Aggression zu fürchten.

Hybride Gerichte nach nationalem Recht hätten auch das Problem der völkerrechtlichen Immunität von Staatsoberhäuptern.

Jedenfalls hat die Europäische Kommission entschieden vorerst zusammen mit anderen interessierten Staaten ein „Internationales Zentrum für die Verfolgung des Verbrechens der Aggression“ (ICPA) im symbolträchtigen Den Haag im Rahmen von Eurojust, der Agentur der Europäischen Union (EU) für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, die bereits in die Sammlung von Beweisen zu den Kriegsverbrechen in der Ukraine eingebunden ist, einzurichten. Dieses soll vor allem Beweismaterial sammeln, was für das Verbrechen der Aggression relativ einfach ist. Für andere Kriegsverbrechen wäre es jedoch eine Doppelgleisigkeit. In Den Haag ist auch der Sitz des Internationalen Strafgerichtshofes. Eurojust unterstützt auch ein „Joint Investigation Team“, in dem die Ukraine mit dem IStGH und interessierten EU-Staaten zusammenarbeiten.[12] Im Rahmen von Eurojust besteht bereits das sogenannte „Netzwerk für Genozid“, das sich auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit widmet und eine Plattform für die Zusammenarbeit der interessierten nationalen EU-Strafverfolgungsbehörden in diesem Bereich darstellt.

Insgesamt haben bereits 14 EU-Mitgliedsstaaten Ermittlungen zu russischen Kriegsverbrechen eingeleitet.

Die nationalen Verfolgungsbehörden können auf Grundlage des Weltrechts- oder Universalitätsprinzips Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie etwa Folter oder Kriegsverbrechen gegen Personen verfolgen, wenn sich auf ihrem Territorium ein Verdächtiger findet. So hat Deutschland in den letzten Jahren zwei Prozesse, gegen einen irakischen IS-Angehörigen wegen Völkermord in Frankfurt und gegen zwei syrische Geheimdienstmitarbeiter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Koblenz geführt, die mit Verurteilungen endeten. Die deutsche Generalbundesanwaltschaft hat zum Ukrainekrieg auch bereits ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren eingeleitet, mit dem Ziel, Beweise zu sichern und Täter zu identifizieren. Insgesamt haben bereits 14 EU-Mitgliedsstaaten Ermittlungen zu russischen Kriegsverbrechen eingeleitet.

Von großer praktischer Bedeutung ist auch die Unterstützung der ukrainischen Behörden durch eine Reihe nationaler Strafverfolgungsbehörden von EU-Ländern, die Kapazitäten und Fortbildung etwa durch Dienstzuteilungen zur Verfügung stellen. Eine solche Unterstützung besteht auch für den IStGH.

Dieser wurde im Jahr 2002 aufgrund der Erfahrungen der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in den 90er Jahren eingerichteten Sondertribunale für das frühere Jugoslawien und für Ruanda auf Beschluss der Generalversammlung und auf Grundlage eines Abkommens eingerichtet, das bisher 123 Staaten ratifiziert haben. Russland und die Ukraine gehören nicht dazu, jedoch hat die Ukraine durch zwei Erklärungen 2014 und 2015 die Zuständigkeit des IStGH für Verbrechen auf ihrem Territorium anerkannt. Dieser wurde bereits von 43 Mitgliedsstaaten mit den Verletzungen seit dem 24. Februar befasst, wodurch der Chefankläger seine Ermittlungen rasch aufnehmen konnte. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit stehen hier im Vordergrund. Letztere liegen vor, wenn Verbrechen, wie vorsätzliche Tötung, Folter und Vertreibung im Rahmen eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen werden.

Auch das Verbrechen des Völkermordes wird untersucht. Ein solcher liegt vor, wenn mit der Absicht eine nationale oder ethnische Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören Mitglieder der Gruppe getötet werden, schwerem körperlichen oder seelischen Leiden ausgesetzt werden oder eine gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe stattfindet. Ansatzweise sind alle diese Bedingungen erfüllt, wie etwa die dokumentierten Deportationen von Kindern nach Russland und russische Zwangsadoptionen zeigen. Dazu kommen russische Äußerungen, die den Ukrainer:innen ihr Existenzrecht absprechen. Da hier aber von den internationalen Gerichten ein sehr hoher Standard angelegt wird erscheint die Anerkennung dieser Verbrechen als Völkermorde, auch wenn dies von der Ukraine immer wieder behauptet wird, als eher unwahrscheinlich.

Auch das Verbrechen des Völkermordes wird untersucht.

Bereits in dem seit 2014 andauernden Konflikt im Donbass hat der IStGH hinsichtlich von Kriegsverbrechen ermittelt. Nunmehr konnte der IStGH mit Unterstützung selbst der ihm gegenüber traditionell kritisch eingestellten USA umfangreiche Ermittlungen aufnehmen und hat sogar eine Vertretung in der Ukraine eingerichtet, um die Kooperation mit den Behörden zu erleichtern. Im Fall einer Anklage durch das Internationale Gericht könnte sich Putin nicht auf seine Immunität berufen, wie etwa der Fall des sudanesischen Präsidenten Omar al- Bashir zeigte. Jedoch ist mit langwierigen Verfahren zu rechnen, wobei nur wenige ausgewählte Fälle zur Anklage gebracht werden können. Die ganz überwiegende Zahl der Fälle bleibt somit bei der Ukraine, die sich der Erwartung der Opfer nach raschen Verfahren und Unterstützung gegenübersieht.

Der Erlass der internationalen Haftbefehle kann weitreichende Auswirkungen auf die Bewegungsfreiheit der betreffenden Personen haben, da alle Mitgliedsstaaten des Statuts der IStGH zur Auslieferung verpflichtet sind.

Mit seiner Entscheidung vom 17. März 2023 gegen den russischen Präsidenten und die in seinem Amt tätige Kommissarin für Kinderrechte wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland und der Überführung von einer ethnische Gruppe in eine andere[13] Haftbefehle zu erlassen, hat der IStGH einen Paukenschlag gesetzt.[14] Der Erlass der internationalen Haftbefehle kann weitreichende Auswirkungen auf die Bewegungsfreiheit der betreffenden Personen haben, da alle Mitgliedsstaaten des Statuts der IStGH zur Auslieferung verpflichtet sind. Die Haftbefehle wurden aus Gründen der Prävention öffentlich gemacht, es ist aber durchaus möglich, dass weitere nicht öffentliche Haftbefehle bestehen oder erlassen werden. So steht nach internationalen Berichten auch eine Verfolgung wegen der massiven Angriffe auf kritische zivile Infrastruktur im Raum.[15] Damit hat der IStGH auch bewiesen, dass es den Sondergerichtshof für das Verbrechen der Aggression nicht braucht um Präsident Putin zu belangen. Der Chefankläger des IStGH hatte sich in der Vergangenheit zum Projekt des Sondergerichtshofes skeptisch gezeigt, weil Doppelgleisigkeiten befürchtet wurden. Doch es geht auch um das Geld, weil die für ein Sondergericht zu erwartenden hohen Kosten die vom IStGH benötigten Zusatzmittel schmälern könnten.

So steht nach internationalen Berichten auch eine Verfolgung wegen der massiven Angriffe auf kritische zivile Infrastruktur im Raum.

Anforderungen an eine opferorientierte Gerechtigkeit

Eine opferorientierte Aufarbeitung der Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen muss nach allgemeiner Ansicht Priorität haben. Dies bedeutet vor allem eine rasche materielle Unterstützung der Opfer, die oft ihre Wohnungen, ihre Existenzgrundlage, aber auch Angehörige verloren haben. Viele sind traumatisiert und benötigten auch psychosoziale Unterstützung wofür die Kapazitäten oft fehlen. Hinsichtlich der materiellen Hilfe hat eine Resolution der Notstandssondertagung der Vereinten Nationen die Einrichtung eines internationalen Kompensationsmechanismus für die Wiedergutmachung von Sach- und Personenschäden und dazu ein in Zusammenarbeit mit der Ukraine einzurichtendes internationales Schadensregister empfohlen, das auch die Sammlung von Beweismaterial unterstützen soll.[16] Dieses soll auf Einladung der niederländischen Regierung in Den Haag eingerichtet werden, wobei als Rechtsgrundlage ein erweitertes Teilabkommen des Europarates gewählt wurde, das bereits beim Gipfeltreffen des Europarates in Reykjavik im Mai angenommen werden könnte.

Die Ukraine hat bereits auf nationaler Ebene mit einem Schadensregister als Grundlage für Kompensationen für die Opfer begonnen, doch reichen die vorhandenen Mittel bei weitem nicht aus.  Auch arbeiten Expert:innen bereits an den Details für einen internationalen Kompensationsmechanismus, aus dem mit Hilfe eines Fonds und einer Kommission eine Wiedergutmachung für die aktuell mit 500-700 Milliarden $ bezifferten Schäden der russischen Aggression angestrebt wird. Dazu sollen auch die ca. 400 Milliarden aus dem eingefrorenen russischen Staats- und Privatvermögen herangezogen werden, was jedoch noch auf große rechtliche Probleme stößt. Mit Hilfe humanitärer Organisationen wird bereits Wiederaufbauhilfe, aber auch psychosoziale Betreuung geleistet, freilich nur im beschränktem Maß. In diesem Bereich liegt der unmittelbarste Bedarf an Hilfe, in weiterer Folge geht es auch um rechtliche Beratung und Unterstützung um die Ansprüche geltend machen zu können. Erst danach folgt die Aufarbeitung der Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen, die erfahrungsgemäß viele Jahre in Anspruch nehmen können, insbesondere wenn die Täter nicht greifbar sind. Während Anklagen und Gerichtsverfahren lange dauern und mangels Habhaftwerdung der Täter womöglich nie zum Erfolg führen werden, sind Unterstützungsmaßnahmen für die Opfer in den meisten Fällen jederzeit möglich und sollten daher auch so rasch wie möglich erfolgen. Sie verlangen den Einsatz entsprechender Ressourcen und übersteigen damit wie andere Bedürfnisse auch die Möglichkeiten der Ukraine. Diese versucht zumindest auf rechtlicher Basis die nötigen Voraussetzungen zu schaffen, benötigt jedoch für die materielle und psychosoziale Hilfe internationale Unterstützung.

Mit Hilfe humanitärer Organisationen wird bereits Wiederaufbauhilfe, aber auch psychosoziale Betreuung geleistet, freilich nur im beschränktem Maß.

Ein Beispiel stellt das Thema der Vergewaltigungsopfer dar. Die einschlägigen Organisationen gehen von mehr als hundert Fällen aus, wobei die Dunkelziffer hoch ist. Den betroffenen meist traumatisierten Frauen, die manchmal auch noch Familienangehörige verloren oder mitbetroffene Kinder haben, ist mit Gerichtsverfahren in einer fernen Zukunft wenig geholfen. Sie benötigen sofort Unterstützung und Betreuung. Sowohl aus dem Bereich der Vereinten Nationen, wo es eine eigene Sonderbeauftragte für sexualisierte Gewalt in Konflikten gibt,[17] als auch aus dem Bereich erfahrener NGOs bestehen Angebote, die noch besser bekanntgemacht und unterstützt werden sollten. Dazu gehört auch rechtliche Beratung, für die auch die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft eine Anlaufstelle eingerichtet hat. Im Vordergrund steht jedoch psychosoziale Betreuung und materielle Hilfe. Angebote, die alle Komponenten abdecken fehlen meist.

Was kann Österreich tun?

Auch die Dokumentation der Aussagen von in Österreich lebenden Opfern wäre wünschenswert, um diese für eine spätere Verfolgung der Täter zu sichern.

Österreich, das ca. 90.000 Vertriebene aus der Ukraine aufgenommen hat leistet damit bereits einen hohen Beitrag im Rahmen des temporären Schutzes gemäß der entsprechenden Richtlinie der EU. Der Schutz wurde vorerst bis März 2024 verlängert. Etwa 56.000 sind in Bundesbetreuung, mehr als alle anderen Schutzsuchenden zusammen. Österreich unterstützt auch die EU-Beratungsmission in der Ukraine (EUAM), die etwa Trainings im Bereich der Strafverfolgung durchführt. Dennoch könnte Österreich einen größeren Beitrag zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen sowie zur Unterstützung der Opfer etwa über österreichische und ukrainische NGOs leisten. Die österreichische Justiz, die bereits dem Büro des Anklägers des IStGH eine Richterin zur Verfügung gestellt und dieses auch finanziell unterstützt hat, könnte wie andere Länder auch die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden unterstützen sowie, dem deutschen Beispiel folgend, sich auf die Verfolgung möglicher Täter in Österreich vorbereiten. Dabei wäre die Konzentration der einschlägigen Strafverfolgung bei einer Staatsanwaltschaft von Vorteil. Auch die Dokumentation der Aussagen von in Österreich lebenden Opfern wäre wünschenswert, um diese für eine spätere Verfolgung der Täter zu sichern.

Ausblick

Der Ruf nach Verhandlungen zur Erreichung eines Waffenstillstandes und eines Friedensabkommens werden stärker und ist angesichts der enormen Opfer und Zerstörungen dieses Krieges grundsätzlich angebracht. Allerdings richten sich die verschiedenen Appelle derzeit weniger an den Aggressor als an die westliche Welt, die durch Vorenthaltung der Lieferung schwerer Waffen Verhandlungen erzwingen soll. Dabei findet zu wenig Berücksichtigung, dass sich die Ukraine in einem Verteidigungskrieg befindet und sich einem Aggressor gegenübersieht, der bereits einen Teil ihres Staatsgebietes völkerrechtswidrig annektiert hat und mit allen Mitteln das erklärte Kriegsziel verfolgt, auch die restlichen Teile des Donbass und von Luhansk zu erobern. Dazu gehört auch die terroristische Erpressung der Ukraine durch die Angriffe auf die zivile Infrastruktur.

Unter den Bedingungen der Ukraine für Verhandlungen finden sich daher nicht nur die Einstellung der Kampfhandlungen und der Rückzug aus den besetzten Gebieten, sondern auch die Bestrafung der Kriegsverbrecher und die Wiedergutmachung des zugefügten Schadens.[18] Zum Jahrestag der Invasion verabschiedete die Notstandssondertagung der Vereinten Nationen zur Ukraine neuerlich eine Resolution, die ein Ende des Krieges, den sofortigen und unbedingten Abzug der russischen Truppen sowie die Notwendigkeit nationaler und internationaler Untersuchungen und Verfolgung der schwerwiegenden Verbrechen feststellte, um Gerechtigkeit für die Opfer und die Verhinderung zukünftiger Verbrechen zu gewährleisten.[19] Bereits im Oktober 2022 hatte die Notstandssondertagung der Generalversammlung die internationale Nichtanerkennung der annektierten vier Gebiete gefordert.[20] Dies entspricht auch dem geltenden Völkerrecht der Staatenverantwortlichkeit und wäre eine wichtige Voraussetzung für einen gerechten und dauerhaften Frieden. Auch wenn eine Erfüllung dieser Forderungen derzeit wenig realistisch erscheint, muss doch alles getan werden, um eine völkerrechtskonforme Beendigung des Kriegs herbeizuführen, da sonst ein für die zukünftige internationale Ordnung fataler Präzedenzfall gesetzt würde.

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Foto: axelbueckert / Envato

[1] Diese hat vor Kurzem einen ausführlichen Bericht an den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen geliefert, siehe Report of the Independent International Commission of Inquiry on Ukraine of 15 March 2023, UN Doc. A/HRC/ 52/62; siehe die Presseaussendung unter: https://www.ohchr.org/en/press-releases/2023/03/war-crimes-indiscriminate-attacks-infrastructure-systematic-and-widespread

[2] OSCE, Report on Violations of International Humanitarian and Human Rights Law, War Crimes and Crimes against Humanity in Ukraine since 24 February 2022, by Professors Wolfgang Benedek, Veronika Bílková and Marco Sassòli of 13 April 2022, at: https://www.osce.org/files/f/documents/f/a/515868.pdf; ein follow up – Bericht wurde im Juli 2022 präsentiert, siehe: https://www.osce.org/files/f/documents/3/e/522616.pdf; die Vereinten Nationen stellten ihren Bericht im Oktober 2022 vor, siehe: United Nations Independent International Commission of Inquiry on Ukraine, Report to General Assembly of 22 October 2022, General Assembly, Doc. A/77/533, at: https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N22/637/72/PDF/N2263772.pdf?OpenElement

[3] Siehe zum „Tribunal for Putin“ (T4P) unter: https://ccl.org.ua/en/campagins/tribunal-for-putin/

[4] Siehe die Ergänzung zum Statut des Internationalen Strafgerichtshofs von Kampala unter: https://asp.icc-cpi.int/sites/asp/files/asp_docs/RC2010/AMENDMENTS/CN.651.2010-ENG-CoA.pdf

[5] Siehe, zum Beispiel Sergey Vasiliev, Aggression against Ukraine: Avenues for Accountability for Core Crimes, in: EJIL:Talk!, 03.03.2022, unter: https://www.ejiltalk.org/aggression-against-ukraine-avenues-for-accountability-for-core-crimes/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletter-post-title_2

[6] Siehe die PACE-Resolution 2433(2022) vom 27. April 2022 unter: http://opiniojuris.org/2022/03/30/an-aggression-chamber-for-ukraine-supported-by-the-council-of-europe/

[7] Resolution des Europäischen Parlamentes vom 19.01.2023 über die Einrichtung eines Tribunals über das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine, P9_TA(2023)0015; siehe auch unter: https://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20230113IPR66653/ukraine-war-meps-push-for-special-tribunal-to-punish-russian-crimes

[8] Siehe Miguel Lemos, The Law of Immunity and the Prosecution of the Head of State of the Russian Federation for international Crimes in the War against Ukraine, in: EJIL:Talk! 16.01.2023, unter: https://www.ejiltalk.org/the-law-of-immunity-and-the-prosecution-of-the-head-of-state-of-the-russian-federation-for-international-crimes-in-the-war-against-ukraine/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=ejil-talk-newsletter-post-title_2

[9] Siehe Alexander Komarov and Oona A. Hathaway, The best Path for Accountability for the Crime of Aggression under Ukrainian and International Law, A Treaty between the Ukraine and the Un General Assembly is the way to proceed, in: Just Security, 11.04.2022, unter: https://www.justsecurity.org/81063/the-best-path-for-accountability-for-the-crime-of-aggression-under-ukrainian-and-international-law/

[10] Die 11. Notstandssondertagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen wurden durch einen einberufen.

[11] Die Resolution ES 11/5 der Notstandssondertagung der Vereinten Nationen über die Förderung von Rechtsschutz und Wiedergutmachung für die Aggression gegen die Ukraine vom 14. November 2022 wurde mit einer Mehrheit von 94 Pro-, 19 Gegenstimmen und 73 Enthaltungen beschlossen.

[12] Siehe die Erklärung der Kommissionspräsidentin von der Leyen unter: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/statement_23_1363

[13] Siehe die Verbrechenstatbestände im Statut des IStGH, Art. 8 (2)(a) vii und Art. 8 (2)(b) viii.

[14] Siehe die Entscheidung unter: https://www.icc-cpi.int/news/situation-ukraine-icc-judges-issue-arrest-warrants-against-vladimir-vladimirovich-putin-and

[15] Siehe International Court to Open War Crimes Cases Against Russia, Officials Say, New York Times, 13.03.2023, unter: https://www.nytimes.com/2023/03/13/world/europe/icc-war-crimes-russia-ukraine.html

[16] Siehe Resolution ES 11/5 der Notstandssondertagung der Vereinten Nationen über die Förderung von Rechtsschutz und Wiedergutmachung für die Aggression gegen die Ukraine vom 14. November 2022.

[17] UN-Sonderbeauftragte: Russland setzt Vergewaltigung als Kriegswaffe ein, Der Standard, 16.10.2022.

[18] Dies wurde auch durch die Resolution ES 11/5 der Notstandssondertagung der Vereinten Nationen über die Förderung von Rechtsschutz und Wiedergutmachung für die Aggression gegen die Ukraine vom 14. November 2022 gefordert.

[19] Siehe Resolution ES 11/6 der Notstandssondertagung vom 23.02.2023 über die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen, die einem umfassenden, gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine zugrunde liegen, mit dem Abstimmungsverhältnis 141:7:32, unter: https://news.un.org/en/story/2023/02/1133847

[20] Resolution 11/4 der Sondernotgeneralversammlung über die territoriale Unversehrtheit der Ukraine vom 12. Oktober 2022, Abstimmungsverhältnis 143:5:35, siehe unter: https://news.un.org/en/story/2022/10/1129492

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Schlagwörter

Ukraine, Russland, Krieg, Aggression, Kriegsverbrechen, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Frieden, Europäische Union, Vereinte Nationen

Zitation

Benedek, W. (2023). Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen in der Ukraine. Wien. ÖGfE Policy Brief, 08’2023

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Benedek

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Benedek war langjähriger Leiter des Instituts für Völkerrecht und Internationale Beziehungen an der Universität Graz sowie Mitbegründer und Leiter des Europäischen Trainings- und Forschungszentrums für Menschenrechte und Demokratie in Graz. Auch im Ruhestand unterrichtet er regelmäßig an der Diplomatischen Akademie Wien sowie im regionalen europäischen Masterprogramm für Demokratisierung und Menschenrechte an der Universität Sarajewo. Er war für verschiedene europäische Organisationen als Experte tätig, zuletzt als Leiter der Expertenmission im Rahmen des Moskau Mechanismus der OSZE über Verletzungen des Kriegsvölkerrechts und der
Menschenrechte in der Ukraine.