Handlungsempfehlungen
- Der Verordnungs-Vorschlag über das Verwaltungsverfahren der Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der EU ist so bald als möglich zu verabschieden, um endlich ein einheitliches Verwaltungsverfahrensrecht in der EU zu etablieren.
- Die einzelnen Organe haben danach ihre internen Verhaltenskodizes strikt an dieser Verordnung auszurichten, ebenso wie ihre späteren einschlägigen Sekundärrechtsakte.
- Die Kommission sollte für die BürgerInnen eine allgemein verständliche Zusammenfassung („Fibel“) ihrer administrativen Rechte in der EU erstellen und diese sowohl in gedruckter, als auch in elektronischer Form diesen zur Verfügung stellen.
Zusammenfassung
Es ist mehr als verblüffend, festzustellen, dass die Binnenverwaltung sowohl der früheren Europäischen Gemeinschaften als auch der späteren EU über kein einheitliches Verwaltungsverfahrensrecht verfügte. Erst nach über sechzig Jahren liegt nunmehr der Entwurf einer einschlägigen Verordnung vor, der sich auf eine Rechtsgrundlage stützt, die erst durch den Vertrag von Lissabon geschaffen wurde. Ebenso beachtlich ist es aber auch, dass es trotz des Fehlens eines allgemeinen Verfahrensrechts in der bisherigen Verwaltungstätigkeit der Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der EU zu keinen größeren Unstimmigkeiten gekommen ist. Mit ein Grund dafür war ohne Zweifel die „elastische“ Judikatur des Gerichtshofs der EU, der mit Hilfe allgemeiner Rechtsgrundsätze Lücken und Gegensätzlichkeiten in den jeweiligen sektoralen Regimen der EU-Administration immer wieder überbrücken konnte. Des Weiteren ist bemerkenswert, dass die Initiative zur Erstellung eines eigenen Verwaltungsverfahrensrechts nicht von der dafür eigentlich zuständigen Europäischen Kommission sondern vielmehr vom Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments ausging, der dabei von privaten wissenschaftlichen Einrichtungen führend unterstützt wurde. Nur ungenügend wurde dabei aber auf die grundlegende Frage nach dem Zweck von Verfahrensregeln eingegangen: Geht es dabei nur um die materielle Richtigkeit der Entscheidung oder hat das Verfahrensrecht auch einen speziellen Eigenwert, wie zB als Mechanismus zur Reduktion von Komplexität oder als Stifter von Legitimation – iSd der Luhmann’schen Erkenntnis „Legitimation durch Verfahren“? Interessant wäre auch eine Vertiefung der Frage des Eigenwerts der Verfahrensrechte im Rahmen einer unionsrechtlichen Fehlerfolgenlehre gewesen.
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Spät, aber doch – die EU bekommt endlich ein einheitliches Verwaltungsverfahrensrecht
Fehlen eines EU-Verwaltungsverfahrensrechts
Da sich die Gründungsväter der drei Europäischen Gemeinschaften (EGKS, EWG, EAG)[1] – aufgrund der unterschiedlichen Ausgestaltung ihrer nationalen Verwaltungsverfahrensrechte[2] – Anfang/Mitte der 1950-er Jahre nicht auf ein einheitliches Verwaltungsverfahrensrecht einigen konnten, wurden mit diesen drei Gemeinschaften zwar supranationale Organisationen mit einem eigenen Binnenrecht (sog. „self contained regimes“) geschaffen, für deren Verwaltungstätigkeiten aber nicht zugleich ein allgemeines Verfahrensrecht eingerichtet. Konnte dieses Manko sowohl während der zwölfjährigen Übergangsphase zum Aufbau einer Zollunion (1958 bis 1970) als auch im Gefolge der ersten Bemühungen zum Aufbau eines Gemeinsamen Marktes (1970 ff.) zunächst noch “toleriert“ werden, trat es nach der Errichtung des Binnenmarktes (1992 ff.) und dessen komplexer Ausgestaltung und Administrierung verstärkt in Erscheinung. Die dabei stattgefundenen massiven Kompetenzübertragungen von den Mitgliedstaaten auf die EU führten zu einer Segmentierung und Partialisierung der unionsrechtlichen Regelungen, die die UnionsbürgerInnen zwar in zunehmendem Masse unmittelbar mit der Verwaltung der EU konfrontierten, ohne dass diese aber über ihre entsprechenden Verfahrensrechte aufgeklärt wurden. Dementsprechend wurde es für die UnionsbürgerInnen – in Ermangelung eines kohärenten und umfassenden Katalogs an kodifizierten verwaltungsrechtlichen Regeln – immer schwerer, sich über ihre administrativen Rechte klar zu werden.
Mitte der 1990-er Jahre war das Fehlen eines kohärenten und umfassenden Katalogs an kodifizierten verwaltungsrechtlichen Bestimmungen aber nicht mehr zu übersehen.
Mitte der 1990-er Jahre war das Fehlen eines kohärenten und umfassenden Katalogs an kodifizierten verwaltungsrechtlichen Bestimmungen aber nicht mehr zu übersehen. Die EU hatte zwischenzeitlich eine Vielzahl sektoraler Verwaltungsverfahren sowohl in Form verbindlicher Vorschriften, als auch solchen nicht zwingender Natur erlassen, die untereinander nicht entsprechend abgestimmt waren, sodass vermehrt Unstimmigkeiten und Lücken zutage traten. Ganz allgemein erwiesen sich die verfahrensrechtlichen Bestimmungen der EU-Eigenverwaltung als stark fragmentiert, dh dass für unterschiedliche Politikbereiche unterschiedliche Regeln galten. Damit kam es aber auf der einen Seite zu einer redundanten Verdoppelung einzelner Verwaltungsverfahren, auf der anderen zu Lücken, die durch Allgemeine Rechtsgrundsätze geschlossen werden mussten.[3]
Beginn der Ausarbeitung eines Verfahrenskodex
Trotzdem sollte es noch bis zum April 2000 dauern, bis der Europäische Bürgerbeauftragte in einem Sonderbericht einen „Kodex für gute Verwaltungspraxis in den verschiedenen Gemeinschaftsinstitutionen und -organen“[4] vorschlug, der für alle Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen gelten sollte und der als Rechtsgrundlage auf die „Lückenschließungsklausel“ des ehemaligen Artikel 308 EGV[5] gestützt war. Das Europäische Parlament (EP) billigte in seiner Entschließung vom 6. September 2001[6] diesen Entwurf mit einigen Änderungen und forderte die Kommission auf, einen geeigneten Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung eines Kodex für eine gute Verwaltungspraxis vorzulegen. Da sich die Kommission dazu aber nicht imstande sah, nahmen die einzelnen Organe interne Verhaltenskodizes an, die größtenteils zwar auf dem Kodex des Bürgerbeauftragten basierten, aber untereinander nicht abgeglichen und rechtlich auch nicht verbindlich waren.
Erst mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember 2009 wurde für die Union eine geeignete Rechtsgrundlage geschaffen, um ein einheitliches europäisches Verwaltungsverfahrensrecht zu verabschieden. Artikel 298 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sieht diesbezüglich die Annahme von Verordnungen vor, um damit sicherzustellen, dass sich die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union auf eine „offene, effiziente und unabhängige europäische Verwaltung“ stützen können. Zugleich wurde auch in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) der Europäischen Grundrechtecharta (EGRC) die rechtliche Gleichrangigkeit derselben mit dem EUV und dem AEUV bestätigt, wodurch ua deren Artikel 41, in dem das „Recht auf eine gute Verwaltung“ niedergelegt ist, primärrechtlich verankert wurde. Gemäß Artikel 41 Absatz 1 EGRC hat jede Person ein Recht darauf, „dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden“. In den Absätzen 2, 3 und 4 werden, allerdings in nicht erschöpfender Weise, eine Reihe weiterer, spezieller Rechte angeführt, die sich aus dem allgemeinen „Recht auf eine gute Verwaltung“ ableiten lassen.
Am 23. März 2010 setzte der Rechtsausschuss des EP (JURI) eine Arbeitsgruppe zum EU-Verwaltungsrecht ein, deren Arbeit durch die Expertise einer Reihe von Wissenschaftlern, Praktikern, Vertretern von einschlägig tätigen internationalen NGO’s, Beamten von Organen, Agenturen und anderen Institutionen in der EU, uam unterstützt wurde. Die Erkenntnisse dieser Arbeitsgruppe wurden in einem Arbeitsdokument zusammengefasst, das die Einrichtung eines einheitlichen europäischen Verwaltungsverfahrens vorschlug und am 21. November 2010 durch den JURI angenommen wurde. Die Annahme dieses Arbeitsdokuments durch einen seiner wichtigsten Ausschüsse veranlasste in der Folge das Plenum des EP, am 15. Jänner 2013 eine Entschließung[7] anzunehmen, in der die Kommission aufgefordert wurde, ihm auf der Grundlage von Artikel 298 AEUV und entsprechend den als Anlage beigefügten ausführlichen Empfehlungen, einen Vorschlag für eine Verordnung über ein europäisches Verwaltungsverfahrensrecht zu unterbreiten. Das EP stützte sich dabei ua auf die vom Referat zur Bewertung des europäischen Mehrwerts (EAVA) vorgenommene Bewertung des Mehrwerts eines Verwaltungsverfahrensrechts der EU[8], die dem JURI am 6. November 2012 vorgelegt worden war.
Diese Entschließung war Anlass sowohl für das in Wien lokalisierte „European Law Institute“ (ELI)[9], als auch für das „Research Network on EU Administrative Law“ (ReNEUAL)[10], ein Netzwerk einschlägig tätiger europäischer Rechtswissenschaftler, ihre Arbeiten für ein neues Verfahrensrecht der EU voranzutreiben und zu koordinieren. Im Juli 2012 unterzeichneten ELI und ReNEUAL eine Übereinkunft, aufgrund derer ihre bisherigen Projekte zusammengelegt und unter dem Titel „Towards Restatement and Best Practices Guidelines on EU Administrative Procedural Law“ als gemeinsames Projekt ausgearbeitet werden sollten.[11] So war auf der ELI-Generalversammlung vom 2. bis 5. September 2015 in Wien die Diskussion über ein europäisches Verwaltungsverfahrensrecht ein wesentlicher Programmpunkt und auf der ReNEUAL-Tagung 2015 am deutschen Bundesverwaltungsgericht in Leipzig vom 5./6. November 2015 wurde der „Musterentwurf für ein europäisches Verwaltungsverfahrensrecht“[12] vorgestellt und diskutiert, der seit 2009/2010 ausgearbeitet worden war.
Am 11. Jänner 2016 präsentierte die Arbeitsgruppe für Verwaltungsrecht im Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments (JURI) den von ihr bereits im Dezember 2015 ausgearbeiteten Entwurf eines Vorschlags der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das Verwaltungsverfahren der Organe, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der EU[13], zu dessen weiterer Behandlung seitens des JURI für den 28. Jänner 2016 eine halbtägige öffentliche Anhörung angesetzt wurde[14]. Die Leitung der Anhörung lag dabei in Händen des Tschechen Pavel Svoboda, dem Vorsitzenden des JURI. Berichterstatterin war die finnische Abgeordnete der Grünen, Heidi Hautala. Die Veröffentlichung des daraus resultierenden Verordnungs-Vorschlags steht noch bevor.
Inhaltliche Ausgestaltung des europäischen Verwaltungsverfahrens
Der Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein einheitliches Verwaltungsverfahren in der EU, die in Form eines ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens iSv Artikel 294 AEUV anzunehmen ist, soll eine offene, effiziente und unabhängige Verwaltung und eine korrekte Durchsetzung des Rechts auf eine gute Verwaltung sicherstellen. Die Verordnung soll gemäß ihrem Artikel 2 Absatz 1 nur für die direkte Verwaltung der EU und nicht für die Verwaltung der Mitgliedstaaten (Absatz 3) gelten, ebensowenig für die Harmonisierung des Verfahrensrechts beim indirekten Unionsvollzug in den Mitgliedstaaten, da dies dem Grundsatz der Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten[15] entgegenstehen würde.
Die Verordnung soll gemäß ihrem Artikel 2 Absatz 1 nur für die direkte Verwaltung der EU und nicht für die Verwaltung der Mitgliedstaaten (Absatz 3) gelten.
Innerhalb der EU gilt die Verordnung gemäß Abs. 2 aber auch nicht für die Tätigkeiten der Unionsverwaltung im Rahmen von Legislativverfahren, Gerichtsverfahren und Verfahren, die zur Verabschiedung nichtlegislativer Rechtsakte, die sich unmittelbar aus den Verträgen ergeben, delegierter Rechtsakte (Artikel 290 AEUV) oder Durchführungsrechtsakte (Artikel 291 AEUV) führen.
Die Verbindung zwischen der Verordnung und anderen Rechtsakten der EU ist so ausgestaltet, dass diese als „lex generalis“ für die Unionsverwaltung gilt, unbeschadet sonstiger Rechtsakte der Union, die besondere Verwaltungsverfahrensvorschriften vorsehen.[16] Die Verordnung ergänzt aber auch Rechtsakte der Union, die in Übereinstimmung mit ihren entsprechenden Bestimmungen ausgelegt werden (Artikel 3), und erfüllt damit sowohl eine wichtige Lückenschließungs- als auch Auslegungsfunktion im Hinblick auf das sonstige Sekundärrecht.
Verwaltungsverfahren können von der Unionsverwaltung aus eigener Initiative (Artikel 6) oder auf Antrag einer Partei (Artikel 7) eingeleitet werden, wobei die Frist für den Erlass eines Verwaltungsakts nicht mehr als drei Monate betragen darf (Artikel 17 Absatz 1). Gemäß Artikel 6 Absatz 6 beträgt die Verjährungsfrist 10 Jahre nach dem Zeitpunkt des Vorfalls. Zum Schutz gegen unbegründete oder querulatorische Anträge sieht Artikel 7 Absatz 4 vor, dass aussichtslose oder offenkundig unbegründete Anträge mit einer kurz begründeten Eingangsbestätigung als unzulässig abgelehnt werden können. Auch wird eine Eingangsbestätigung in den Fällen nicht versendet, in denen derselbe Antragsteller missbräuchlich, mehrfach Anträge einreicht.
Was die Verfahrensrechte betrifft, so haben die Parteien gemäß Artikel 8 alle relevanten Informationen in klarer und verständlicher Form zu erhalten, können alle Verfahrensformalitäten aus der Ferne mit elektronischen Mitteln übermitteln und auch erledigen, können eine der Sprachen der Verträge verwenden und müssen in der von ihnen gewählten Sprache dann auch eine Antwort erhalten[17]. Des Weiteren müssen sie über alle Verfahrensschritte und Beschlüsse, die sie betreffen könnten, unterrichtet werden, können sich von einem Rechtsanwalt oder einer anderen Person ihrer Wahl vertreten lassen und haben lediglich solche Gebühren zu zahlen, die vertretbar und zu den Kosten des Verfahrens verhältnismäßig sind.
In Übereinstimmung mit der ständigen Judikatur des Gerichtshofs der EU und Artikel 41 Absatz 1 EGRC statuiert Artikel 9 für die zuständige Behörde eine Pflicht zur Durchführung einer sorgfältigen und unvoreingenommenen Untersuchung, bei der sie alle relevanten Fakten zu berücksichtigen und alle für die Beschlussfassung notwendigen Informationen einzuholen hat, wobei sie Parteien, Zeugen und Sachverständige anhören, Dokumente und Unterlagen anfordern und sogar Kontrollbesuche durchführen kann. Diese ex officio Untersuchungen werden gemäß Artikel 10 durch eine verbindliche Mitwirkungspflicht der Parteien unterstützt, für deren Aktivierung diesen eine angemessene Frist eingeräumt werden muss. Sollte das Verwaltungsverfahren Sanktionen zur Folge haben, müssen die Parteien auf den Schutz vor Selbstbelastung hingewiesen werden.
Des Weiteren steht den Parteien gemäß Artikel 14 ein Recht auf Anhörung und Darlegung ihres Standpunktes vor allem immer dann zu, wenn eine Einzelmaßnahme ergriffen werden soll, die nachteilige Folgen für sie hätte. Ebenso haben sie gemäß Artikel 15 ein Recht auf Akteneinsicht, das Ihnen einen uneingeschränkten Zugang zu den Unterlagen gewährleistet. Dieses spezielle Recht auf Akteneinsicht steht den Parteien unbeschadet des allgemeinen Rechts auf Dokumentenzugang in Artikel 15 Absatz 3 AEUV bzw. Artikel 42 EGRC zu.
Gemäß Artikel 19 müssen Verwaltungsakte eindeutig begründet werden und zwar in Form einer Einzelbegründung, entsprechend der Situation der Parteien. Auch dieses spezielle Recht steht den Parteien unbeschadet der allgemeinen Begründungspflicht für Rechtsakte in Artikel 296 Absatz 2 AEUV bzw. Artikel 41 Absatz 2 EGRC zu. Gemäß Artikel 20 muss in Verwaltungsakten klar angegeben sein, dass eine verwaltungsrechtliche Überprüfung möglich ist. Neben diesem Hinweis auf eine verwaltungsrechtliche Überprüfung müssen Verwaltungsakte aber auch einen Verweis auf mögliche gerichtliche Schritte oder auf die Einreichung einer Beschwerde beim Europäischen Bürgerbeauftragten[18] enthalten. Unrechtmäßige Verwaltungsakte, die sich nachteilig auf eine Partei auswirken, sind von der zuständigen Behörde einer Berichtigung oder Rücknahme zu unterziehen, wobei diese Rechtsakte rückwirkende Kraft haben (Artikel 23 Absatz 1).
Was die Verwaltungsakte mit allgemeiner Geltung betrifft, so müssen diese gemäß Artikel 26 die in der Verordnung vorgesehenen Verfahrensrechte ebenso wahren und haben gemäß Artikel 27 insbesondere die Angabe der Rechtsgrundlage und eine eindeutige Begründung zu enthalten. In Spezifizierung der allgemeinen Veröffentlichungsbestimmungen des Artikel 297 AEUV treten diese ab dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung in einer Form in Kraft, die für die Beteiligten direkt zugänglich ist.
Schlussbetrachtungen
Verblüffender Weise konnten die Europäischen Gemeinschaften und ihr Nachfolger, die EU, über 60 Jahre lang (sic) ohne ein eigenes, allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht auskommen, obwohl sie als supranationale Organisationen ausgesprochen komplexe Verwaltungsagenden zu besorgen hatten. Eventuelle Lücken und vermeintliche Inkompatibilitäten in den für die jeweiligen Sektoren und Politikbereiche geltenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen sowie in den Verhaltenskodizes der einzelnen Organe wurden im Anlassfall vom Gerichtshof der EU immer wieder durch Rekurs auf allgemeine Rechtsgrundsätze „elastisch“ ausgeglichen, sodass im Grunde keine absoluten Unverträglichkeiten in der fragmentierten EU-Eigenverwaltung festzustellen waren. Trotzdem war die dadurch gegebene verminderte Rechtsstaatlichkeit stets präsent, die dem Rechtstaatlichkeitsgebot des Artikels 2 EUV widersprach.
Umso signifikanter erscheint es, dass nicht das, die Rechtsmäßigkeitskontrolle in der EU gemäß Artikel 17 Absatz 1 EUV ausübende Organ, nämlich die Europäische Kommission, die Initiative ergriff, um dieses verfahrensrechtliche Defizit zu beheben, sondern diesen Part das Europäische Parlament übernahm, das zunächst im April 2000 über seinen Ombudsmann und in der Folge dann im September 2001 selbst die Kommission aufforderte, einen geeigneten Vorschlag für eine Verordnung zur Schaffung eines „Kodex für eine gute Verwaltungspraxis“ vorzulegen, in dem ua auch ein einheitliches Verfahrensrecht enthalten sein sollte.
Umso signifikanter erscheint es, dass nicht das, die Rechtsmäßigkeitskontrolle in der EU gemäß Artikel 17 Absatz 1 EUV ausübende Organ, nämlich die Europäische Kommission, die Initiative ergriff, um dieses verfahrensrechtliche Defizit zu beheben, sondern diesen Part das Europäische Parlament übernahm.
Nachdem durch den Vertrag von Lissabon mit der Einfügung von Artikel 298 AEUV eine entsprechende Rechtsgrundlage dafür geschaffen wurde, setzte im März 2010 der Rechtsausschuss des EP (JURI) eine Arbeitsgruppe zum EU-Verwaltungsrecht ein, die vor allem einen Entwurf für die Einrichtung eines einheitlichen europäischen Verwaltungsverfahrensrechts ausarbeiten sollte. Unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich von europarechtlichen „Thinktanks“, wie dem ELI und dem ReNEUAL – aber auch anderer Einrichtungen des EP selbst[19] – erstellten Vorarbeiten, konnte die Arbeitsgruppe Mitte Jänner 2016 einen ersten Entwurf für einen einschlägigen Verordnungs-Vorschlag der Kommission vorlegen, der Ende Jänner 2016 einer öffentlichen Anhörung unterzogen worden ist.
Mit dem Inkrafttreten dieser Verordnung bekommt nicht nur die EU ihr lange erwartetes einheitliches Verwaltungsverfahren eingerichtet, sondern die BürgerInnen erhalten eine verstärkte Rechtssicherheit in ihrer Stellung der EU-Eigenverwaltung gegenüber eingeräumt.
Mit dem Inkrafttreten dieser Verordnung bekommt nicht nur die EU ihr lange erwartetes einheitliches Verwaltungsverfahren eingerichtet, sondern die BürgerInnen erhalten eine verstärkte Rechtssicherheit in ihrer Stellung der EU-Eigenverwaltung gegenüber eingeräumt. Damit ist beiden Seiten gedient und es bleiben nur die Fragen offen, warum das alles so lange gedauert hat und warum es nicht die Kommission war, die diesbezüglich initiativ geworden ist.
[1] Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bzw. „Montanunion“, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Europäische Atomgemeinschaft (EAG) bzw. „Euratom“.
[2] Vgl. dazu neuerdings Schmidt-Aßmann, E. – Dagron, S. Deutsches und französisches Verwaltungsrecht im Vergleich ihrer Ordnungsideen, ZaöRV 2007, S. 395 ff.
[3] Vgl. Mader, O. Verteidigungsrechte im Europäischen Gemeinschaftsverwaltungsverfahren (2006), S. 47 ff., 131 ff.
[4] C5-0438/2000.
[5] Aktuell Art. 352 AEUV.
[6] Kodex für gute Verwaltungspraxis; A5-0245/2001; ABl. 2002, C 72E, S. 331 ff.
[7] 2012/2024(INL); P7_TA(2013)0004; A7_0369/2012.
[8] EAVA, Law of Administrative Procedure of the European Union. European Added Value Assessment, 23. Oktober 2012; PE 494.457.
[9] ELI-Sekretariat, 1010 Wien, Schottenring 14; vgl. dazu Hummer, W. Politikwissenschaft in Österreich (2015), S. 220 f.
[10] Dem Forschungsnetzwerk ReNEUAL gehören mittlerweile über 100 Expertinnen und Experten an; vgl. Verwaltungsrichter-Vereinigung (VRV), Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht: Ergebnisse der Tagung am Bundesverwaltungsgericht, vom 17. November 2015, S. 1.
[11] http://www.europeanlawinstitute.eu/projects/current-projects-contd/article/towards-restatement-and-best-practices-guidelines-on-eu-administrative-procedural-law-1/?tx_ttnews%5BbackPid%5D=137874&cHash=6c603409d6765725530b3ab7bfd06b9d
[12] Der von Schneider/Hofmann/Ziller herausgegebene ReNEUAL-Musterentwurf für ein EU-Verwaltungsverfahrensrecht (2015) gliedert sich in sechs Bücher.
[13] DV\1081253DE.doc; PE573.120v01-00.
[14] JURI(2016)0128_1.
[15] Art. 291 Abs. 1 AEUV.
[16] ISd bekannten Derogationsregel: „Lex specialis derogat legi generali“.
[17] Dieses Recht ist auch in Art. 20 Abs. 2 lit. d) EUV und in Art. 41 Abs. 4 EGRC verankert.
[18] Vgl. dazu Art. 20 Abs. 2 lit. d), Art. 24 Abs. 3 und Art. 228 Abs. 1 AEUV.
[19] EP, DG for Internal Policies. Policy Department – Citizen’s Rights and Constitutional Affairs, The context and legal elements of a Proposal for a Regulation on the Administrative Procedure of the European Union’s institutions, bodies, offices and agencies (2016).
ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Hummer, W. (2016). Spät, aber doch – die EU bekommt endlich ein einheitliches Verwaltungsverfahrensrecht. Wien. ÖGfE Policy Brief, 6’2016