Der österreichische EU-Abgeordnete: ein unbekanntes Wesen? Zum Sozialprofil der österreichischen Abgeordneten im Europäischen Parlament 1995-2019

Handlungsempfehlungen

  1. Die Parteien sind bei der Aufstellung künftiger Wahllisten gefordert, die 2019 erreichte Geschlechterparität zu berücksichtigen.
  2. Wahlwerbende Gruppierungen sollten darauf achten, dass Kandidaturen zum EP nicht zu strategischen Übungen verkommen, denn darunter leidet die Glaubwürdigkeit aller KandidatInnen.
  3. Langfristige Politkarrieren im EP sollten ermöglicht werden, wobei Kontinuität bei der Erstellung der Kandidatenlisten als auch eine sorgfältige Kandidatenauswahl dabei wichtige Voraussetzungen sind.

Zusammenfassung

Seit dem EU-Beitritt am 1. Jänner 1995 ist Österreich durch direkt gewählte Abgeordnete im EU-Parlament, der zweiten gesetzgebenden EU-Institution, vertreten. Nach einem Vierteljahrhundert Mitgliedschaft analysiert dieser Policy Brief die Sozialprofile aller bisherigen österreichischen EU-Abgeordneten. Alter, Bildung, Geschlechterparität, Erneuerungsquote und politische Vorerfahrung stehen dabei im Mittelpunkt. Als besonders „signifikant“ werden die eher kurze Verweildauer im Europaparlament und die oftmalige politische Unerfahrenheit der Abgeordneten identifiziert. Die achte EP-Wahlperiode (2014-2019) war jedoch für Österreich von außergewöhnlichen personellen Veränderungen gekennzeichnet. Die kommende neunte Periode (2019-2024) beginnt wiederum mit einigen unerwarteten Veränderungen: Österreichs Abgeordnete zum Europäischen Parlament werden jünger und der Frauenanteil steigt. Erstmals besteht Geschlechterparität. Die bisherige These, wonach wer ins Europaparlament wechselt, in der heimischen Politik keine Rolle mehr spielt, kann schon lange nicht mehr aufrechterhalten werden.

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Der österreichische EU-Abgeordnete: ein unbekanntes Wesen? Zum Sozialprofil der österreichischen Abgeordneten im Europäischen Parlament 1995-2019

Einleitung

Bis heute wird das Europäische Parlament (EP) nach wie vor vielfach als Institution wahrgenommen, die wenig Einfluss und Gestaltungskraft hätte. Der institutionellen Weiterentwicklung wird noch selten Rechnung getragen und somit die Europawahlen noch immer gerne als „Wahlen zweiter Ordnung“ tituliert. Ein Mandat im Europäischen Parlament scheint daher aus dieser Perspektive betrachtet, wenig Chancen für einen Aufstieg in exekutive Funktionen zu bieten. Damit einher geht auch die weit verbreitete  Vorstellung, dass Mandate im EP vor allem als „Versorgungsposten“ für PolitikerInnen dienen oder als „Abfindung“ zum Ende einer langen politischen Karriere genutzt werden.[1] Die Zeiten haben sich allerdings schon lange geändert.
Am 26. Mai fanden in Österreich die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) statt.[2] Es wurden 18 der insgesamt 751 Mandate dabei vergeben.[3] Seit 1979 werden die Abgeordneten zum Europaparlament in den jeweiligen Mitgliedsstaaten direkt gewählt, seit dem Beitritt zur EU am 1. Jänner 1995 sind auch Abgeordnete aus Österreich darin vertreten. In der anfänglichen Übergangsphase handelte es sich um direkt entsandte Mitglieder aus dem National- und Bundesrat, mit der Durchführung der ersten Europaparlamentswahl in Österreich am 11. November 1996 dann um regulär direkt gewählte Abgeordnete für die Restlaufzeit der vierten Gesetzgebungsperiode des Europaparlaments (1994-1999). Ab den Wahlen 1999 zur fünften Gesetzgebungsperiode des EP führte Österreich – wie alle anderen Mitgliedsstaaten auch – die jeweiligen Wahlen zum EP durch (2004, 2009, 2014, 2019).
Ein Vierteljahrhundert EU-Mitgliedschaft bietet nunmehr eine repräsentative Zeitspanne, die von Österreich ins EP gewählten (bzw. zu Beginn entsandten) Personen näher zu betrachten. Denn obwohl die Sozialstruktur von Abgeordneten, ihre politischen Karrierewege bis zur Erlangung des Mandats, ihre Stellung und ihr Aufstieg im Parlamentssystem einen traditionellen Untersuchungsgegenstand der politischen Soziologie und der Politikwissenschaft bilden, findet das Europäische Parlament und seine Abgeordneten in diesem Bereich bisher ungewöhnlich wenig Beachtung. Dieser Policy Brief soll diese Lücke, zumindest in Bezug auf die österreichischen Abgeordneten, schließen.[4]

Altersstruktur der österreichischen Europaabgeordneten (1995-2019)

Einen ersten Anhaltspunkt liefert das Alter der Abgeordneten. Ausgehend vom Alter zum Ende der jeweiligen Gesetzgebungsperiode ergibt das für die österreichischen EP-Mitglieder ein Durchschnittsalter von 49 beim EU-Beitritt, dieser Wert stieg kontinuierlich bis auf 56 in der sechsten EP-Wahlperiode (2004-2009). Seither betrug das Durchschnittsalter österreichischer EU-Abgeordneter zum Ende der jeweiligen Wahlperiode durchgehend 56 Jahre. Damit lag Österreich – was das Alter betrifft – bisher etwa gleich auf mit Deutschland (2019: 58, 2014: 56, 2009: 55, 2004: 54).

Bei der Wahl im Mai 2019 kam es zu einer unerwarteten Verjüngung der österreichischen EP-Abgeordneten. Diese werden – beim Antritt ihres Mandats – ein Durchschnittsalter von 47 Jahren aufweisen und somit immerhin um vier Jahre jünger sein als die Angeordneten der vorherigen Wahlperiode (2014-2019).
Nach Fraktionen aufgeteilt gibt sich folgender Altersdurchschnitt für die österreichischen Abgeordneten im neugewählten Europaparlament:

Frauen und Männer unter den österreichischen EU-Abgeordneten (1995-2019)

Der Anteil der Frauen an den EP-Abgeordneten aus Österreich hat sich in den 25 Jahren EU-Mitgliedschaft merklich verändert. Von den anfänglich 28 Prozent unter den entsendeten Mitgliedern (1995-1996), stieg der Wert auf 38 Prozent bei den Wahlen 1999, in den folgenden Wahlperioden sank er wieder leicht (2004: 35 Prozent, 2009: 33 Prozent), in der achten Wahlperiode des Europaparlaments betrug er beachtliche 43 Prozent. Damit lag Österreich etwa deutlich über dem Wert Deutschlands, der aktuell 36,5 Prozent beträgt, aber auch über dem EU-Durchschnitt von 37 Prozent.[5] Nach der Wahl 2019 ergibt sich für Österreich eine exakte Parität zwischen Männern und Frauen: 50 Prozent.[6]


Insgesamt gibt es eine Tendenz, dass immer mehr Frauen ein Mandat im Europaparlament übernehmen. Von 2009 bis 2014 ist die Anzahl von 35 Prozent auf 37 Prozent angestiegen. Wobei der bisherige Anteil der Frauen bei den maltesischen EU-Abgeordneten am höchsten (67 Prozent), und bei den litauischen EU-Abgeordneten am geringsten war (9 Prozent).[7] Im Vergleich zu seinen Nachbarländern zeigt sich, dass Österreich schon bisher beim Frauenanteil vorbildlich war: In der nun zu Ende gegangenen achten Wahlperiode betrug der Frauenanteil etwa für Tschechien 38 Prozent, die Slowakei 31 Prozent, Ungarn 19 Prozent, Slowenien 37 Prozent und Italien immerhin 40 Prozent.[8]

Insgesamt gibt es eine Tendenz, dass immer mehr Frauen ein Mandat im Europaparlament übernehmen.

Für das österreichische Wahlergebnis 2019 ergibt sich folgender Frauenanteil nach Fraktionen:

Bildungsabschlüsse österreichischer EP-Abgeordneter (1995-2019)

Die österreichischen Abgeordneten der abgelaufenen achten Wahlperiode des EP verfügten über ein äußerst hohes Schulbildungsniveau. Bei den ersten 1996 durchgeführten Wahlen betrug der Akademikeranteil bereits über 80 Prozent; 1999 und 2004 fiel dieser Wert leicht, inzwischen ist für Europa-Abgeordnete jedoch tendenziell zunehmend ein abgeschlossenes Studium charakteristisch. Im Fall Österreichs trifft das auf beachtliche 86 Prozent der Abgeordneten zu. Damit lag Österreich auch über dem hohen Akademikeranteil deutscher EP-Mitglieder (Wahlperiode 2014-2019: 81 Prozent).[9] Nach der Wahl 2019 beträgt dieser Wert nun für Österreich 83 Prozent.

Kontinuität und Erneuerung der EP-Abgeordneten 1995-2019

Die Nominierungspraxis österreichischer Parteien für das Europaparlament zeigt die erste Abweichung von der gängigen Praxis anderer EU-Mitgliedsstaaten. Beläuft sich etwa die langfristige „Erneuerungsquote“ (also „erstmals im EP“) Deutschlands auf deutlich unter 30 Prozent (und überstieg seit Einführung der Direktwahl im Jahr 1979 niemals den Wert 50)[10], zeigte sich in Österreich besonders für die abgelaufene achte EP-Wahlperiode eine deutliche Abweichung[11]: Beachtliche 52 Prozent der österreichischen Abgeordneten waren in der Periode 2014-2019 erstmals Abgeordnete im Europaparlament. Dieser ungewöhnliche Trend hat sich bei der Wahl 2019 sogar noch verstärkt: 67 Prozent der österreichischen EU-Abgeordneten der nun beginnenden neunten Wahlperiode sind erstmals im Europaparlament vertreten. Gemäß einschlägigen Studien gilt eine hohe Erneuerungsquote oftmals als Indiz für parteiinterne Personaldiskussionen.[12]

Lediglich 6 der 18 österreichischen Abgeordneten im neu gewählten Europaparlament waren auch schon zuvor im EP.

Während bei den ersten EP-Wahlen 1996 in Österreich über 90 Prozent der vorher entsandten Abgeordneten wiedergewählt wurden, sank der Kontinuitätsanteil (also: bereits vorher EP-Abgeordneter) 1999 auf 62 Prozent, stieg 2004 wieder auf 90 Prozent (was eine hohe Wiederwahl bisheriger EP-Abgeordneter bedeutet), und fiel 2009 auf 76. In der achten Periode (2014-2019) ist die Kontinuität der Mitgliedschaft im EP erstmals unter 50 Prozent gerutscht. Bei der Wahl 2019 verringerte sich dieser Anteil weiter. Lediglich 6 der 18 österreichischen Abgeordneten im neu gewählten Europaparlament waren auch schon zuvor im EP. Dieser geringe Anteil lässt die Schlussfolgerung zu, dass sowohl bei den EP-Wahlen 2014 als auch 2019 durch das massive Ausscheiden bisheriger Abgeordneter institutionelles Wissen verloren ging. Diese „Brüche“ könnten von den wahlwerbenden Parteien bewusst herbeigeführt oder zumindest toleriert worden sein.


Für Österreich ergibt sich somit folgender Kontinuitätsanteil innerhalb der nationalen Fraktionen nach der Wahl 2019:

Politische Vorerfahrungen der österreichischen Mitglieder im Europaparlament vor dem Mandat im EP

Beim letzten untersuchten Parameter zeigt sich eine weitere, sehr augenfällige Besonderheit österreichischer EP-Abgeordneter: Ein großer Anteil (in der abgelaufenen Wahlperiode gar über die Hälfte) verfügte über keine „politische Vorerfahrung“ in einem gesetzgeberischen Vertretungskörper.

Eine politische Karriere wie etwa in Deutschland, die meistens über ein erlangtes Mandat im Landtag bzw. Bundestag erst im Anschluss ins Europaparlament führt, ist in Österreich nicht der übliche Weg.

War 1995 unmittelbar nach dem Beitritt zur EU noch ein Mandat in einem Vertretungskörper (Nationalrat bzw. Bundesrat) Voraussetzung dafür, dass man in der Übergangsperiode 1995-1996 ins EP als Abgeordneter entsandt werden konnte[13], änderte sich das mit der ersten 1996 durchgeführten Wahl. Damals hatten bereits 29 Prozent der Gewählten keine „politische Vorerfahrung“. Dieser Wert stieg in Folge massiv weiter an: 1999 betrug er bereits 48 Prozent, 2004 45 Prozent und 2005 wieder 48 Prozent. In der laufenden achten EP-Wahlperiode weist dieser Parameter nun den absoluten Spitzenwert von 52 Prozent auf. Mehr als die Hälfte der österreichischen EU-Abgeordneten der Periode 2014-2019 waren vor ihrem Eintritt ins EP in keinem anderen österreichischen Vertretungskörper (Nationalrat, Bundesrat, Landtag) Abgeordnete. Folglich hatten sie sich vor der Europawahl noch keiner anderen Wahl in Österreich – zumindest erfolgreich – gestellt. Dies ist ein Indiz für die in Österreich vorherrschende Praxis, dass politische Karrieren vorrangig entweder innerstaatlich oder auf EU-Ebene stattfinden. Eine politische Karriere wie etwa in Deutschland, die meistens über ein erlangtes Mandat im Landtag bzw. Bundestag erst im Anschluss ins Europaparlament führt, ist in Österreich nicht der übliche Weg. Deutsche EP-Abgeordnete verfügen – im Gegensatz zu Österreich und abhängig von der jeweiligen Fraktion – über 80 bis zu 100 Prozent Vorerfahrung in einem nationalen Parlament, bevor der Wechsel ins EP stattfindet.[14] In Österreich hingegen stellte sich bis jetzt rund die Hälfte aller EU-Abgeordneten erstmals einer Wahl.


Noch seltener kommt es zum Wechsel aus einer nationalen exekutiven Funktion (Mitglied einer Bundes- oder Landesregierung) ins Europaparlament. In anderen EU-Staaten (etwa Benelux-Staaten, aber auch skandinavischen Mitgliedsländern) ist es durchaus üblich, dass Regierungsmitglieder und sogar Regierungschefs ins EP wechseln. Aktuell wechselte etwa nach der Wahl 2019 die amtierende deutsche Justizministerin Katarina Barley als Spitzenkandidatin der SPD ins Europaparlament. In Österreich sind solche Wechsel bisher eher rar gesät. Die ursprünglich geplante Kandidatur des früheren Bundeskanzlers Christian Kern (SPÖ) wäre jedenfalls für Österreich eine Prämiere gewesen.
1995 wechselte die ehemalige Ministerin Hilde Hawlicek (SPÖ) und 1996 der ebenfalls zur SPÖ gehörende ehemalige Bundesminister Harald Ettl ins Europaparlament. Erst 2009 fand ein ehemaliger Bundesminister – nämlich Ernst Strasser (ÖVP) – den Weg ins EP. Maria Berger von der SPÖ wechselte wiederum 2007 als Justizministerin in ein österreichisches Regierungsamt. Nach ihrer Zeit als Bundesministerin für Justiz kehrte sie neuerlich ins Europaparlament zurück, um anschließend als von Österreich nominierte Richterin an den EuGH zu wechseln. Berger ist somit die einzige österreichische Politikerin, die in drei EU-Institutionen Erfahrungen sammelte: als EP-Abgeordnete, als österreichische Ministerin in der EU-Ratsformation „Justiz und Inneres“ und schließlich als Richterin am EuGH.
Die achte Wahlperiode des Europaparlaments wies in diesem Bereich insofern weitere Besonderheiten auf, da zwei der Mitglieder politische Erfahrung als Mitglieder von Landesregierungen mitbrachten: Karin Kadenbach (SPÖ) als ehemaliges Mitglied der niederösterreichischen Landesregierung sowie Monika Vana (Grüne) als ehemalige nichtamtsführende Stadträtin in Wien. Darüber hinaus war auch mit dem Abgeordneten Franz Obermayr (FPÖ) ein ehemaliger Vizebürgermeister und Stadtrat in Linz vertreten.
Schließlich war die Wahlperiode 2014-2019 auch noch durch Wechsel aus dem EP in politische Funktionen in Österreich gekennzeichnet: Der SPÖ-Abgeordnete Jörg Leichtfried wechselte aus dem EP zuerst als Landesrat in die steiermärkische Landesregierung und in der Folge als Bundesminister in die Bundesregierung (jetzt Abgeordneter zum Nationalrat). Die ÖVP-Abgeordnete Elisabeth Köstinger wechselte aus dem EP zuerst ins österreichische Parlament (Nationalratspräsidentin), wurde in der Folge Mitglied der Bundesregierung (Ressort Landwirtschaft, jetzt Nachhaltigkeit und Tourismus) und ist derzeit wieder Abgeordnete zum Nationalrat. Beide, Leichtfried und Köstinger, waren vor dem EP in keinem anderen Vertretungskörper. Sie sind, gemeinsam mit Berger, die drei einzigen Fälle, in denen Abgeordnete den Sprung nach Österreich in ein Ministeramt schafften.
Einen weiteren prominenten Wechsel durfte die personell ereignisreiche achte EP-Wahlperiode noch verzeichnen: die Abgeordnete Ulrike Lunacek von den Grünen legte ihr Mandat und somit auch die Funktion als eine der Vizepräsidentinnen des Europaparlaments zurück, um als Spitzenkandidatin ihrer Partei bei der vorgezogenen Nationalratswahl in Österreich zu kandidieren.
Dass es sich bei diesen Personalrochaden um keine Besonderheit der abgelaufenen Wahlperiode handeln könnte, sondern möglicherweise um einen beginnenden Wechsel im politischen Umgang mit dem Europaparlament, zeigen bereits die Ereignisse nach der Wahl 2019: der grüne Spitzenkandidat Werner Kogler nahm sein EP-Mandat nicht an, weil er als Spitzenkandidat seiner Partei bei der österreichischen Nationalratswahl im September 2019 antritt. Ebenso scheint der Mandatsverzicht der Abgeordneten Petra Steger (FPÖ) zu interpretieren sein: sie tritt ebenfalls lieber bei der bevorstehenden Nationalratswahl an. Weitere, mit Juli ihre Arbeit im Europaparlament beginnende Abgeordnete, gelten als Personalreserven ihrer jeweiligen Parteien für die Zeit nach der Nationalratswahl. Abhängig vom Wahlausgang und der folgenden Regierungsbildung scheint es daher durchaus realistisch, dass weitere Wechsel aus dem EP in die heimische Innenpolitik erfolgen könnten.

Besonderheit: Diskontinuität der SpitzenkandidatInnen

Immer wieder müssen neue KandidatInnen aufgebaut und auch durchgesetzt werden.

Eine weitere Besonderheit der österreichischen EU-Politik ist die Diskontinuität der SpitzenkandidatInnen der jeweiligen Parteien im EP-Wahlkampf. Kaum ein Spitzenkandidat oder eine Spitzenkandidatin schaffte nach fünf Jahren den neuerlichen Sprung an die Spitze seiner oder ihrer wahlwerbenden Gruppierungen.[15] Das wird – ähnlich wie die grundsätzliche Kontinuitätsproblematik bei Abgeordneten – auf parteiinterne Startegieüberlegungen zurückgeführt. Dass damit auch ein beachtlicher Verschleiß von Ressourcen einhergeht, ist offensichtlich. Immer wieder müssen neue KandidatInnen aufgebaut und auch durchgesetzt werden.

Von Vorzugsstimmen und Mandatsverzichten: die Wahl 2019 in Österreich

In der Folge der  Europawahl 2019 kam es in Österreich  zu einigen ungewöhnlichen Ereignissen. Der von der ÖVP intern ausgerufene Vorzugsstimmenwahlkampf führte zu Vor- und Umreihungen. Die beiden Abgeordneten Wolfram Pirchner und Christian Sargatz befanden sich auf Platz 6 und 7 der ÖVP-Kandidatenliste und hätten somit bei normalem Verlauf ein Mandat erlangt. Durch den  internen Vorzugsstimmenwahlkampf schafften jedoch die Abgeordneten Thaler (Listenplatz 8) und Bernhuber (Listenplatz 11) den Einzug ins Europaparlament.
Eine weitere Besonderheit betraf die sogenannten Direktmandate. Erhält ein Kandidat mehr als 5 Prozent der auf seine Partei entfallenden Stimmen als „Vorzugsstimme“, dann bekommt er gemäß dem österreichischen Wahlrecht ein Direktmandat. Diese hohe Zahl an Vorzugsstimmen erreichen in der Regel nur die jeweiligen SpitzenkandidatInnen einer Partei. Bei der Wahl 2019 war dies anders: Bei der ÖVP übersprangen gleich drei KandidatInnen die 5 Prozent Hürde (Karoline Edtstadler, Othmar Karas, Angelika Winzig), bei der FPÖ errang neben dem Listenersten Harald Vilimsky auch der auf Listenplatz 42 kandidierende ehemalige Vizekanzler Heinz-Christian Strache ein Direktmandat. Auch bei den Grünen erlangten sowohl der Listenerste Kogler als auch die Listenzweite Sarah Wiener ein Direktmandat. Bei SPÖ und Neos gelang dies den jeweils Listenersten (Andreas Schieder bzw. Claudia Gamon).[16]
Der Besonderheiten nicht genug, kam es nach der Wahl zu drei Mandatsverzichten: Der Spitzenkandidat der Grünen Kogler verzichtete zugunsten einer Spitzenkandidatur bei der kommenden Nationalratswahl. Mit 70.585 Vorzugsstimmen konnte er immerhin fast die Hälfte aller Stimmen seiner Partei (144.109) für sich verzeichnen. Ihm folgte die Listendritte Vana nach, bereits zuvor Abgeordnete im Europaparlament. Der zweite prominente Mandatsverzicht erfolgte durch den ehemaligen Vizekanzler Strache. Vom Listenplatz 42 auf Platz 2 der Mandatsliste vorgereiht, verzichtete er letztlich auf das Mandat. Die von ihm verdrängte Abgeordnete Steger wäre nachgerückt. Sie wiederum machte ihren Anspruch auf das Mandat im Europaparlament zugunsten einer Kandidatur bei der kommenden Nationalratswahl nicht geltend.[17]

Fazit und Ausblick auf die kommende neunte Wahlperiode (2019-2024)

Die Europawahl 2019 brachte – zumindest was die soziobiographischen Daten anbelangt – einige unerwartete Veränderungen. Erstmals besteht Geschlechterparität, 9 Männer und 9 Frauen nehmen die österreichischen Sitze im Europaparlament ein. Gleichzeitig kam es zu einer Verjüngung. Das langjährige Problem der mangelnden Vorerfahrung scheint behoben zu sein, die schon bisher ungewöhnlich hohe Erneuerungsquote hat sich jedoch weiter verstärkt.

Die Europawahl 2019 brachte – zumindest was die soziobiographischen Daten anbelangt – einige unerwartete Veränderungen.

Der Trend aus der vorrangegangen Wahlperiode, aus dem EP zurück in die österreichische Innenpolitik zu wechseln, wird aller Voraussicht nach auch in der kommenden neunten Wahlperiode 2019-2024 anhalten. Einige der kürzlich gewählten Abgeordneten sind als „Personalreserven“ ihrer jeweiligen Parteien einzustufen.
Darüber hinaus steht spätestens im Herbst bereits wieder eine Veränderung bei den aus Österreich stammenden ParlamentarierInnen an: Nach erfolgtem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU erhält Österreich  ein zusätzliches 19. Mandat. Aufgrund der Wahlarithmetik wird dieses den Grünen zufallen. Folgt man den Gesetzmäßigkeiten würde dies der Listenvierte Thomas Waitz übernehmen. Er war bereits im EP und würde somit die Kontinuität verstärken. Gleichzeitig würde er aber auch den Frauenanteil unter Österreichs Abgeordneten wieder unter die 50 Prozentmarke drücken. Man darf gespannt sein.

[1] Peter Rütters: „Verbleib“ von in Deutschland gewählten Europa-Abgeordneten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 4/2013, S. 783. Jüngst etwa auch Peter Filzmaier im Interview mit dem ORF-Parlamentsmagazin Hohes Haus am 16. Juni 2019.
[2] Endgültiges Wahlergebnis: https://www.bmi.gv.at/412/Europawahlen/Europawahl_2019/start.aspx#endgErgebnis
[3] Nachdem der EU-Austrittstermin für das Vereinigte Königreich vom Europäischen Rat bei seiner Sondersitzung am 10. April auf den 31. Oktober 2019 verschoben wurde, wird das für Österreich vorgesehene zusätzliche 19. Mandat erst nach dem erfolgten Brexit nachbesetzt. Aufgrund des Wahlergebnisses und der zur Anwendung kommenden Wahlarithmetik fällt dieses Mandat den Grünen zu.
[4] Die politischen Kurzbiographien aller österreichischen EU-Abgeordneten seit 1995 finden sich hier: https://www.parlament.gv.at/WWER/EU/ALLE/
[5] Alle Daten dazu: https://europawahlergebnis.eu/nationale-ergebnisse-uberblick/
[6] Hätte die Abgeordnete Steger (FPÖ) nicht auf ihr Mandat verzichtet, wäre dieser Anteil sogar noch höher ausgefallen.
[7] http://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/eu-affairs/20140708STO51844/fakten-zahlen-zum-neu-gewahlten-eu-parlament
[8] https://europawahlergebnis.eu/nationale-ergebnisse-uberblick/
[9] Peter Rütters: Zum Sozialprofil der deutschen Abgeordneten nach der Wahl zum Europäischen Parlament 2014, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 3/2014, S. 573-574.
[10] Peter Rütters: „Verbleib“ von in Deutschland gewählten Europa-Abgeordneten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 4/2013, S. 786 sowie Tabelle auf S. 787.
[11] Der Wert 100 Prozent für die Periode 1995-1996 erklärt sich durch den Beitritt zur EU und wird daher in der Analyse weiter außer Acht gelassen.
[12] Peter Rütters: Zum Sozialprofil der deutschen Abgeordneten nach der Wahl zum Europäischen Parlament 2014, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 3/2014, S. 569 und die weiteren dortigen Literaturverweise.
[13] Dies führte in vereinzelten Fällen dazu, dass Personen für nur einen Tag ein Mandat im Nationalrat annahmen, um anschließend unmittelbar ins Europaparlament zu wechseln.
[14] Peter Rütters: Zum Sozialprofil der deutschen Abgeordneten nach der Wahl zum Europäischen Parlament 2014, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 3/2014, S. 576-579.
[15] Vgl. etwa Martin (SPÖ, 1999), Strasser (ÖVP, 2009), Freund (SPÖ, 2014), Milnar (Neos, 2014), Lunacek (Grüne, 2014). Bei der diesmaligen Wahl 2019 gab es quasi nur „eineinhalb“ Kontinuitäten: Vilimsky (FPÖ) und Karas (ÖVP), der sich die Rolle des Spitzenkandidaten mit der seiner Listenzweiten Edtstadler teilte. Alle anderen Parteien traten mit neuen SpitzenkandidatInnen erstmals an.
[16] Eine Übersicht über alle Vorzugsstimmen findet sich unter https://t.co/8W5XkzdyQC?amp=1
[17] Österreichs Riege ist jetzt fix, 21.6.2019, https://orf.at/stories/3127621/?fbclid=IwAR2Oz-urdDhqIRAZ6zD9uJXHlRdlsnLrqTYWOpvphiqPfLgftKbQ4Y3ACCo

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Schlüsselwörter
Europawahl, Österreich, Abgeordnete, Sozialprofil

Zitation
Brocza, S. (2019). Der österreichische EU-Abgeordnete: ein unbekanntes Wesen? Zum Sozialprofil der österreichischen Abgeordneten im Europäischen Parlament 1995-2019. Wien. ÖGfE Policy Brief, 16’2019

Stefan Brocza

Stefan Brocza, Studium in Wien, St. Gallen und Harvard. 1994 EU- und Schengen-Koordinierung im Innenministerium, ab 1996 im EU-Ratssekretariat in Brüssel (Außenwirtschaftsbeziehungen, Erweiterung, Presse/Kabinett, Umsetzung der EU-Außenstrategie für die innere Sicherheit). Aktuell tätig in Lehre und Forschung an Universitäten im In- und Ausland sowie als politischer Berater, Publizist und Gutachter.