Die nicht gezogenen Lehren der Schengen-Reform 2013
Handlungsempfehlungen
- Legale Migration durch einheitliche Asylantragsregelungen in Drittstaaten ausbauen
- Alle Mitgliedstaaten müssen bei der Stärkung der EU-Außengrenzkontrollen und beim Informationsaustausch durch EUROPOL zusammenwirken
- Asyl-Shopping und damit verbundene Sekundärbewegung kann nur durch Umsetzung eines solidarischen Verteilungsschlüssels, harmonisierter Aufnahmebedingungen und gemeinsamer sozialer Mindeststandards bzw. Integrationsmaßnahmen für Asylberechtigte eingeschränkt werden
Zusammenfassung
Wir haben in den letzten Monaten viel gehört über Grenzen. Binnengrenzen, Obergrenzen, Schmerzgrenzen – Ausdrücke, die mittlerweile trauriges Symbol für Europas Handhabung der Flüchtlingspolitik sind. Seit September letzten Jahres mehren sich die Wiedereinführungen von Grenzkontrollen innerhalb Europas in beispielloser Form – Bilder, die der europäischen Bevölkerung seit 1995 fremd waren. Nun stehen wir vor der Frage: war das Europa ohne Grenzen bloß ein Versuch? Ist Schengen – die Möglichkeit sich frei von Passkontrollen in einem friedlichen Europa zu bewegen – tatsächlich tot? Oder ist es heute – quasi fünf nach zwölf – vielmehr an der Zeit, politisch und rechtlich das umzusetzen, was bereits mit der Abschaffung der Grenzkontrollen 1995 einher gehen hätte sollen: Eine einheitliche, europäische Asylpolitik? Dass Personenfreizügigkeit und europäische Asylpolitik unweigerlich verflochten sind, zeigte sich bereits 2011 im Zuge des Arabischen Frühlings. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Grenzkontrollen bloß zu politischen Großereignissen und Sportveranstaltungen wiedereingeführt. Vor diesem Hintergrund lösten die von Frankreich und Dänemark unilateral eingeführten Grenzkontrollen zum Schutz vor Migrationsdruck politischen Aufruhr aus. Die Folge war ein erst 2013 abgeschlossener Reformprozess des Schengener Grenzkodex, konkret eine Reform der Ausnahmeklausel. Diese sieht seit 2013 erstmals auch einen Bezug auf mangelhafte Außengrenzkontrollen vor. Heute knapp drei Jahre nach dieser Schengen-Reform stehen wir aber vor teils geschlossenen Grenzen. Was lief also schief und worauf wird es in Zukunft ankommen?
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Schengen und die Außengrenzen:
Die nicht gezogenen Lehren der Schengen-Reform 2013
1. Die Ausnahmeklausel im Schengener Grenzkodex
Die aktuellen Diskussionen in Politik und Medien zeigen mehr denn je, dass Schengen seit seiner Entstehung vom immanenten Spannungsverhältnis geprägt ist, neben der Personenfreizügigkeit auch nationale Sicherheit zu gewährleisten.[1] In rechtlicher Hinsicht begegneten die Mitgliedstaaten dieser Herausforderung 1995 mit Schaffung der „Ausnahmeklausel“.[2] Darunter versteht sich bis heute jene juristische Hintertür, die Mitgliedstaaten des Schengen-Abkommens erlaubt, unter gewissen Umständen – nämlich bei Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit – die Grenzkontrollen vorübergehend wiedereinzuführen. Diese Hintertür wurde bis 2011 kaum aktiviert. So standen beispielswiese zwischen 2000 und 2003 die meisten Fälle der Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen (25 von 33 Fällen) in Zusammenhang mit politischen Ereignissen, wie beispielsweise EU-Rats-Gipfeltreffen, Staatsbesuchen, aber auch Anti-Globalisierungsdemonstrationen.[3] Hervorzuheben ist, dass die Kontrollen in diesen Fällen nicht den Zweck verfolgten, Drittstaatsangehörige an der Einreise zu hindern, sondern: „Das Instrument wurde bislang primär dafür eingesetzt UnionsbürgerInnen davon abzuhalten, ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU zu gebrauchen.“[4]
Im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 trat erstmals ein neuer Kontrollzweck hinzu. Frankreich und Dänemark kontrollierten ihre Grenzen nicht nur ohne der vorgeschriebenen Konsultation der Kommission bzw. anderer Mitgliedstaaten, sondern taten dies darüber hinaus in der alleinigen Absicht, sich vor Migrationsdruck zu schützen. Der darauf folgende politische Aufruhr war enorm und ließ die Schengen-Reformverhandlungen bis 2013 andauern. Insbesondere das Europäische Parlament verwehrte sich gegen den Reformvorschlag Frankreichs, Migration als Grund für Grenzkontrollen in den Schengener Grenzkodex aufzunehmen. Denn was im Zuge der Reformdiskussionen zum Vorschein kam und sich mit der heutigen Situation deckt: Grenzkontrollen sollen damals wie heute Regelungslücken in der europäischen Migrationspolitik schließen.
Grenzkontrollen sollen damals wie heute Regelungslücken in der europäischen Migrationspolitik schließen.
2. Der neue Regelungsinhalt der Ausnahmeklauseln: Außengrenzkontrollen
Die Reformverhandlungen zeigten, dass zwischen den Mitgliedstaaten, der Kommission und dem Europäischen Parlament weitgehend Uneinigkeit über die Interpretation und Anwendung der Ausnahmeklausel bestand. Wann eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit die Wiedereinführung von Kontrollen rechtfertigen würde und wer darüber beschließen sollte, stand im Mittelpunkt der Diskussion. Obwohl der Bereich Asyl und Migration nicht den Schengen-Regeln unterliegt, verdeutlichten die Ereignisse des Arabischen Frühlings auch den Zusammenhang zwischen inner- und außereuropäischem Grenzschutz. Während südliche Mitgliedstaaten 2011 bereits parallel zur Schengen-Reform eine Reform der europäischen Asylpolitik verlangten, forderten andere Mitgliedstaaten eine Ausweitung der Ausnahmeklausel. Frankreich drohte sogar mit Austritt aus dem Schengen-Abkommen.[5]
Während südliche Mitgliedstaaten 2011 bereits parallel zur Schengen-Reform eine Reform der europäischen Asylpolitik verlangten, forderten andere Mitgliedstaaten eine Ausweitung der Ausnahmeklausel.
Im Ergebnis brachte die Schengen-Reform 2013 drei, statt wie bislang zwei Ausnahmeklauseln über die vorübergehende Wiedereinführung von Grenzkontrollen[6]:
1) Bei vorhersehbaren Ereignissen können Grenzkontrollen weiterhin für 30 Tage vorgenommen werden. Vorab sind strenge Kriterien und Einleitungsverfahren einzuhalten:
Artikel 23 – 24 Schengener Grenzkodex
2) Bei Fällen, die sofortiges Handeln erfordern, wie eine Terrorwarnung, können Grenzkontrollen für 10 Tage wiedereingeführt werden (statt früher für 15).
Ab dem Zeitpunkt der Grenzkontrolle sind sofortige Mitteilungspflichten einzuhalten:
Artikel 25 Schengener Grenzkodex
3) Als neue dritte Klausel wurde vorgesehen, dass Grenzkontrollen auch bei anhaltenden schwerwiegenden Mängeln an den Außengrenzkontrollen für mindestens sechs Monate eingeführt werden können. Zu den umfangreichen Kriterien zählt hier insbesondere die zeitliche Vorlaufzeit:
Artikel 26 – 27 Schengener Grenzkodex
Inwiefern die neue Ausnahmeklausel in Bezug auf Außengrenzkontrollen tatsächlich zum Einsatz kommen wird, bleibt teilweise noch ungewiss. Neben einer Verletzung des Solidaritätsprinzips, des Prinzips der fairen Aufteilung der Verantwortung und gegenseitigen Zusammenarbeit im Sinne des Artikel 80 AEUV,[7] ist die Berufung auf Artikel 26 nämlich von einer Rats- und Kommissionsempfehlung abhängig: „Mitgliedstaaten können Grenzkontrollen nur aufgrund von ‚schwerwiegenden Mängeln‘ wiedereinführen, basierend auf einer Ratsempfehlung (welcher eine Kommissionsempfehlung folgen muss).“[8] Des Weiteren setzten sich Kommission und Europäisches Parlament für strenge Kriterien zur Bewertung der Verhältnismäßigkeit der Kontrollen ein. Es besteht daher tatsächlich die Möglichkeit, dass das strenge Verfahren für die neue Ausnahmeklausel – in der eine Rechenschaft der Mitgliedstaaten gefordert wird – eine abschreckende Wirkung auf diese hat und Artikel 26 nicht häufig zur Anwendung kommen wird. Weiters prognostizierten Experten bereits 2013, dass Artikel 26 aufgrund seines aufwendigen Verfahrens keine Anwendung finden wird: „Die neue Maßnahme gleicht einer Nuklearwaffe – das Wesentliche daran ist nicht, sie zu verwenden, sondern eher sie zu besitzen.“[9] Obwohl nun im Zuge der Flüchtlingskrise die striktere Kontrolle der Außengrenzen gefordert wird, bleibt die praktische Umsetzung und die Vereinbarkeit der neuen Ausnahmeklausel mit Erwägungsgrund 5 Schengener Grenzkodex, wonach Migration an sich keine Rechtfertigung für Wiedereinführungen von Grenzkontrollen sein soll, weiterhin fraglich.
Um diese Entwicklungen auch integrationspolitisch einzuordnen, empfiehlt sich das Theoriekonzept des Neofunktionalismus – eine der prominentesten EU Integrationstheorien, welche von Ernst B. Haas begründet[10] und im Zuge des europäischen Integrationsprozesses von Philippe C. Schmitter erweitert wurde.[11] Vor diesem theoretischen Hintergrund stellt die unionsrechtliche Ausweitung der neuen Ausnahmeklausel – mehr Möglichkeiten, Grenzen zu kontrollieren – eine renationalisierende Maßnahme dar. Konkret entspricht dies einem funktionellen Spill-Back,[12] denn Politikbereiche, die auf Unionsebene im EU-Entscheidungsprozess behandelt werden, nehmen ab.[13] Gerade deswegen wird die tatsächliche Inanspruchnahme von Artikel 26 auch integrationspolitische Auswirkungen haben.
3. Die Ausnahmeklausel und die Asylpolitik – ein unausweichlicher Spill-Over?
Opponenten von Schengen forderten bereits vor der endgültigen Einigung über das Schengen-Abkommen, effiziente Ausgleichsmaßnahmen an den Außengrenzen zu setzen.
Eine logische Konsequenz von Schengen war, dass „Konzepte der nationalen Sicherheit nicht mehr nur auf die Beeinträchtigung der Interessen des betreffenden Mitgliedstaates abstellen dürfen, sondern die Interessen anderer Mitgliedstaaten mit einbeziehen müssen.”[14] Daher forderten Opponenten von Schengen bereits vor der endgültigen Einigung über das Schengen-Abkommen, effiziente Ausgleichsmaßnahmen an den Außengrenzen zu setzen. Genau diese „Begleitmaßnahmen“ – nämlich ein europäisches Außengrenzkontrollsystem im Sinne einer solidarischen Aufteilung und Verantwortung – wurden aber seit 1995 vernachlässigt. Während Schengen unionsrechtlich eingebunden und weiterentwickelt wurde, blieben die äußeren Mitgliedstaaten mit der Kontrolle der Außengrenzen und Handhabung von Asyl und irregulärer Migration auf sich selbst gestellt. Was Schengen gewährleisten sollte (freien Personenverkehr bei Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit), wurde an den Außengrenzen trotz Etablierung von FRONTEX nicht ausreichend umgesetzt. Die Probleme, die den Mitgliedstaaten an den Außengrenzen dadurch auferlegt wurden, griffen mit den Jahren auf den Binnenraum über. Es überrascht daher nicht, dass es vor 2011 und dem Konflikt im Zuge des Arabischen Frühlings kaum Dispute dieser Art zwischen den Mitgliedstaaten über die Wiedereinführung von Kontrollen gab. Die inzwischen so weitreichenden Probleme in der Asyl- und Migrationspolitik schufen eine neue Dimension der Sicherheitsproblematik, vor der die Mitgliedstaaten bei Unterzeichnung des Schengener Durchführungsübereinkommens nicht standen. Denn rückblickend betrachtet hat die Vernachlässigung der Registrierung von Flüchtlingen durch südliche Mitgliedstaaten seit Jahren einen konkreten Zweck – nämlich die lang versprochene Solidarität der anderen Mitgliedstaaten im Asylbereich zu erzwingen.[15]
Unter Berücksichtigung dieser eigentlichen Probleme – dem im Stich lassen der an den Außengrenzen liegenden Mitgliedstaaten, die dem Migrationsdruck wegen ineffizienter Ausgleichsmaßnahmen ausgesetzt waren – stellte die Einführung der neuen Ausnahmeklausel 2013 nur eine Umschichtung der Probleme dar.[16] Statt, wie während der Reform vermehrt gefordert, Antworten für eine europäische Asylpolitik zu finden, sollte der neue Artikel 26 nach den Grenzkontrollen im Arabischen Frühling als Instrument dienen, mangelhafte Außengrenzkontrollen von (südlichen) Mitgliedstaaten zu sanktionieren und sich vor Migrationsdruck zu schützen. Es erweckt somit den Anschein, dass hinter der Einführung der neuen Ausnahmeklausel primär die Absicht lag, die bereits zum damaligen Zeitpunkt evidenten Regelungslücken in der europäischen Asylpolitik in einem anderen Politikbereich – nämlich Schengen – auszugleichen.
Tatsächlich hätten spätestens die 2011 gesetzten nationalen Maßnahmen von Frankreich und Italien – Grenzen eigenständig wegen steigendem Migrationsdruck einzuführen – den Druck auf eine Reform des europäischen Asylsystems stärken können.
Wie wir heute wissen, ging dieser Plan aber nicht auf. Tatsächlich hätten spätestens die 2011 gesetzten nationalen Maßnahmen von Frankreich und Italien – Grenzen eigenständig wegen steigendem Migrationsdruck einzuführen – den Druck auf eine Reform des europäischen Asylsystems stärken können. Dem war aber nicht so. Zwar legte die Schengen-Reform integrationspolitisch den Grundstein für eine künftige Übertragung von Integration – einem funktionellen Spill-Over – indem im reformierten Schengener Grenzkodex ab 2011 zunehmend Regelungen inkludiert wurden, die eigentlich im Bereich Asyl / Migration gesetzt werden hätten müssen.[17] Konkrete Schritte folgten jedoch erst mit der Europäischen Migrationsagenda im Mai 2015 bzw. den späteren Reaktionen auf die syrische Flüchtlingsbewegung im Sommer 2015.
4. Ausblick und Handlungsempfehlungen
Was wir heute erleben ist somit eine Fortsetzung dessen, was 2011 begann. Andauernde Mängel der Migrationspolitik gefährden die Gewährleistung von Schengen – vielmehr noch, sie gefährden sogar seine Aufrechterhaltung. Je länger dieser Konflikt über die Umsetzung einer solidarischen Asyl- und Migrationspolitik also andauert, desto drohender werden die sich seit 2011 einschleichenden integrationspolitischen Rückschritte innerhalb der EU. Rückschritte, die über die Schaffung von Ausnahmeklauseln hinausgehen. Der europäischen Gemeinschaft drohen neben dem Verlust von Freiheiten und Einschränkung von Grundrechten auch wirtschaftliche Einbußen, deren Ausmaß uns heute nur ansatzweise bewusst ist.
Der europäischen Gemeinschaft drohen neben dem Verlust von Freiheiten und Einschränkung von Grundrechten auch wirtschaftliche Einbußen, deren Ausmaß uns heute nur ansatzweise bewusst ist.
Insgesamt waren zwar bereits in der Schengen-Reform einzelne Maßnahmen der Renationalisierung erkennbar, wie beispielsweise ein politischer Spill-Back in Form der bewussten Regelverstöße gegen den Schengener Grenzkodex durch Mitgliedstaaten.[18] Im Ergebnis entsprachen aber bloß kleine Detailbereiche der Schengen-Reform einem limitierten Spill-Back im europäischen Integrationsprozess. Denn mit der Einführung der neuen Ausnahmeklausel wurden die Rechtsvorschriften an reale Verhältnisse angepasst. Seit September 2015 zeichnen die kontinuierlichen Wiedereinführungen von Binnengrenzkontrollen und Verstöße gegen bzw. Ablehnung der neuen Verteilungsregelungen für Flüchtlinge aber ein neues Bild. Die Verwirklichung des 2011 noch bloß angedrohten geographischen Spill-Backs – der Austritt von Mitgliedstaaten aus dem Schengen-Raum oder anderen unionsrechtlichen Verpflichtungen – scheint heute, insbesondere mit Blick auf Großbritannien und Polen, erschreckend wahrscheinlicher.
Umso wichtiger ist es daher, auf die in der Vergangenheit verabsäumten Reformmaßnahmen im Asyl und Migrationsbereich heute mit klaren und schnellen Handlungen zu reagieren, um Schengen aufrechtzuerhalten. Die Flüchtlingskrise, die damit verbundenen wirtschaftlichen Einbußen durch Grenzkontrollen und sicherheitspolitische Herausforderungen durch ISIS verdeutlichen, dass langfristige Reform-Maßnahmen sowohl auf nationaler, als auch auf supranationaler Ebene gesetzt werden müssen:
- Legale Migration durch einheitliche Asylantragsregelungen in Drittstaaten ausbauen: Die Möglichkeit Asyl zu beantragen muss bereits bei EU-Vertretungsbehörden in Drittstaaten ermöglicht werden und einheitlichen Regeln folgen. Die seit 2003 außer Kraft gesetzte Wiedereinführung von Botschaftsverfahren wird aktuell von zahlreichen NGOs, aber auch nationalen Politikern gefordert und nun auf Unionsebene geprüft. Neben dem in der Migrationsagenda genannten Ausbau der Blue-Card ermöglicht dieser zusätzliche legale Einwanderungskorridor nicht nur frühzeitig zwischen Asylberechtigten und Wirtschaftsflüchtlingen zu unterschieden, sondern gewährleistet eine sichere Einreise nach Europa.
- Alle Mitgliedstaaten müssen bei der Stärkung der EU-Außengrenzkontrollen und beim Informationsaustausch durch EUROPOL zusammenwirken: Zusätzlich zum Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) und zur Grenzschutzagentur FRONTEX müssen südliche Mitgliedstaaten auch bei der Registrierung und Aufnahme an den EU-Außengrenzen von anderen Mitgliedstaaten unterstützt werden. Darüber hinaus soll das Europäische Polizeiamt (EUROPOL) wie ab 1. Jänner 2016 vorgesehen einen verstärkten Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten mittels dem Schengener-Informationssystem (SIS II) garantieren.
- Asyl-Shopping und damit verbundene Sekundärbewegung kann nur durch Umsetzung eines solidarischen Verteilungsschlüssels, harmonisierter Aufnahmebedingungen und gemeinsamer sozialer Mindeststandards bzw. Integrationsmaßnahmen eingeschränkt werden: Damit Mitgliedstaaten wie Deutschland, Schweden und Österreich nicht länger die alleinige Aufnahmelast zu tragen haben, führt langfristig kein Weg an einer Angleichung der sozialen Mindeststandards für Asylwerber vorbei. Dies bedeutet neben beschleunigten Asylverfahren und der primären Bereitstellung von Sach- statt Geldmitteln auch die ehestmögliche Feststellung von Qualifikationen durch frühzeitige Beiziehung der nationalen Arbeitsmarktbehörden.
Die Verantwortung für die Umsetzung dieser Maßnahmen und somit auch für die Zukunft von Schengen liegt bei den Repräsentanten der Mitgliedstaaten. Denn nur durch eine regelkonforme Anwendung der Ausnahmeklauseln und bedachte, nicht dem Populismus dienende Maßnahmen in den mit Schengen verbundenen Politikbereichen kann künftig garantiert werden, dass Schengen nicht zum Opfer dieser Krisen wird. Die Antworten für Europas aktuelle Sorgen liegen nicht in nationaler Abschottung, nicht in Zäunen, nicht in einer Blockade der europäischen Solidarität. Sie liegen in intensiven und ressortübergreifenden Reformmaßnahmen, die Zeit brauchen. Andernfalls werden die Rufe nach Grenzkontrollen nicht verstummen. Und Europa wird bereuen, nicht gehandelt zu haben.
[1] Dieser Policy Brief basiert auf der Masterarbeit der Autorin:
Rieder, Stefanie „Die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen – Schengen als Opfer für „die nationale Sicherheit?“, Institute for European Integration Research (EIF), Working Paper No.3/2015, http://eif.univie.ac.at/downloads/workingpapers/wp2015_03.pdf.
Als theoretisches Konzept wird darin die Integrationstheorie des Neofunktionalismus nach Ernst B. Haas auf die Ergebnisse der Schengen-Reform 2013 angewandt. Zur näheren Erklärung der auch in diesem Policy Brief angesprochenen Konzepte ‚Spill-Over‘ und ‚Spill-Back‘ vgl. S.39-50.
[2] Vgl. Art. 2 Abs. 2 Schengener Durchführungsübereinkommen, Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. Juni 1990.
[3] Vgl. Groenendijk, Kees (2004) ‘Reinstatement of Controls at the Internal Borders of Europe: Why and Against Whom?’, European Law Journal, Vol. 10, No. 2, March 2004, 150-170, S.168.
[4] Ebd. (Übersetzung S.R.)
[5] Vgl. Rieder, Stefanie (2015) „Die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen – Schengen als Opfer für „die nationale Sicherheit?“, Institute for European Integration Research (EIF), Working Paper No.3/2015, http://eif.univie.ac.at/downloads/workingpapers/wp2015_03.pdf , S.126.
[6] Art. 23 – 27 Schengener Grenzkodex, Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union (2013a) ’Verordnung Nr. 1051/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 zwecks Festlegung einer gemeinsamen Regelung für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter außergewöhnlichen Umständen’, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32013R1051&from=de, [letzter Zugriff am 10.01.2016].
[7] Artikel 80 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), ABl. C 326 vom 26.10.2012, 47.
[8] Vgl. Peers, Steve (2013) ’The Future of the Schengen-System’. Swedish Institute for European Policy Studies (SIEPS). Paper is part of the SIEPS’ research project ’Internal and External Dimensions of a Common Asylum and Migration Policy’, No. 6, November 2013, http://www.sieps.se/sites/default/files/Sieps_2013_6vers2_0.pdf, [letzter Zugriff am 11.11.2015], S.45. (Übersetzung S.R.)
[9] Pascouau, Yves (2013) ’The Schengen Governance Package: The subtle balance between Community method and intergovernmental approach’, European Policy Center (EPC): EPC Discussion Paper: no volume number, 12.12.2013, 16 Seiten, http://www.epc.eu/documents/uploads/pub_4011_schengen_governance_package.pdf, [letzter Zugriff am 12.10.2015], S.7. (Übersetzung S.R.)
[10] Vgl. Haas, Ernst B. (1958) The Uniting of Europe: Political, Social and Economic Forces 1950-1957, London: Stevens & Sons Limited.
[11] Vgl. Schmitter, Philippe C. (1970) ’A Revised Theory of Regional Integration’ in International Organization, Vol. 24, Issue 4, 836-868, S.840.
[12] Vgl. Falkner, Gerda (1998) Towards a Corporatist Policy Community: EU Social Policy in the 1990s, Wien: Habilitationsschrift der Universität Wien, S.15.
[13] Vgl. Rieder (2015), Abbildung 6: Theoriebezogene Qualifikation der Schengen-Reform-Ergebnisse und –Forderungen, S.128.
[14] Hailbronner, Kay (2009) ’Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts’, in W. Hummer, W. Obwexer (Hrsg.) Der Vertrag von Lissabon, Baden-Baden: Nomos-Verlag, 361-375, S.364.
[15] Vgl. Art. 4 Abs. 3 Vertrag über die Europäische Union (EUV), ABl. C 326 vom 26.10.2012, 15.
[16] Vgl. Rieder (2015) S.121 ff.
[17] Vgl. Rieder (2015) S.126 – 127.
[18] Vgl. Rieder (2015) S.126.
ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die die Autorin arbeitet, überein.
Zitation
Rieder, S. (2016). Schengen und die Außengrenzen: Die nicht gezogenen Lehren der Schengen-Reform 2013. Wien. ÖGfE Policy Brief, 5’2016