Paradigmenwechsel und Neustart für weniger Ungleichheit in der EU

Handlungsempfehlungen

  1. Neue Formen der Ungleichheit und steigende Ungleichheit erfordern neue verteilungspolitische Maßnahmen. Das betrifft unter anderem die Ungleichheit zwischen Zentren und Randgebieten, aber auch Regionen mit starker Abwanderung bzw. Zuwanderung.
  2. Ein Paradigmenwechsel ist notwendig, der Ungleichheit nicht erst durch Ex-post-Zahlungen begrenzt, sondern ihre Entstehung durch Ausbildung und flexible Lehrinhalte verhindert.
  3. Eine neue Sozialpolitik ist gemeinsam mit Klimapolitik und Innovationen zu entwerfen, der Faktor Arbeit ist zu entlasten, Emissionen sind zu besteuern – auf nationaler und europäischer Ebene

Zusammenfassung

Hohe Ungleichheit ist eine soziale Sprengkraft für die EU. Die gegenwärtige Gesundheits- und Wirtschaftskrise wirkt wie ein „Brennglas“, sie erhöht die Gefahr eines Rückfalls in Armut in den Entwicklungsländern und verstärkt die Polarisierung in den Industrieländern, besonders zwischen Zentren und Randgebieten. Das hat schwerwiegende Konsequenzen für das Funktionieren unserer Gesellschaft. Die regionalen Ungleichgewichte und auch Genderdifferenzen werden sichtbarer und fördern nationale, protektionistische Politikansätze. Die Europäische Union hat im Zuge eines bisher beispiellosen Integrationsprozesses umfassende Kohäsionsziele formuliert. Allerdings wurde bereits vor der COVID-19-Krise neue Formen der Ungleichheit durch Abwanderung aus „verlassenen Regionen“ oder dem ungleichen Zugang zur Digitalisierung zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet.

Der vorliegende Policy Brief untersucht Dimensionen der Ungleichheit, besonders regionale Disparitäten und Einkommensunterschiede. Die Ursachen steigender Ungleichheit und der Stellenwert von Sozialpolitik in der EU werden analysiert. Der Policy Brief versucht im Sinne einer progressiven Sozialpolitik innovative Lösungsansätze zu verstärken, Synergien in der Bekämpfung verschiedener Probleme zu suchen und Top-down-Ansätze mit Bottom-up-Politik zu kombinieren. Befähigung zum Wandel in der Ausbildung wird wichtiger als die ohnehin schon hohen Ex-post-Zahlungen nach dem Auftreten von Problemen zu erhöhen. Es ist notwendig, die Bekämpfung der Ungleichheit zu einer gleichwertigen Priorität zu ökonomischer Integration zu machen.

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Paradigmenwechsel und Neustart für weniger Ungleichheit in der EU

Vor der Krise, durch die Krise, synergetische Lösungen in der Krise[1]

1. Motivation

Ungleichheit beeinträchtigt die Lebensqualität von Individuen und senkt die Akzeptanz des politischen Systems. Die COVID-19-Krise wirkt wie ein „Brennglas“, die Ungleichheit steigt noch mehr. Die Qualität des Gesundheitssystems und die Rolle der Lebens- und Wohnverhältnisse werden sichtbar. Ein Rückfall in Armut und steigende Genderungleichheit sind besonders in Entwicklungsländern und Randzonen zu erwarten. Gleichzeitig bleiben Aktienkurse, Topeinkommen, Bonuszahlungen hoch und Mietpreise steigen. Krisenprogramme ignorieren diese Dichotomie.

Die Europäische Union (EU) hat seit ihrer Gründung Kohäsionsziele formuliert. Allerdings wurden einige Ziele schon vor der Krise verfehlt. Aus diesem Grund ist es notwendig, das Thema soziale Ungleichheit zu einem zentralen europäischen Thema zu machen, EU-Mittel aus dem Budget und Wiederaufbaufonds zu nutzen und Synergien zwischen Sozialpolitik, Klimapolitik und Digitalisierung zu entwickeln.

2. Kompetenz und Prioritäten für soziale Fragen in der EU

2.1. Vom Vertrag von Rom bis zur Doppelkrise

Sozialpolitik zählt bisher nicht zu den zentralen Kompetenzen der EU, sondern ist primär Aufgabe der Mitgliedsländer. Der Vertrag von Rom[2] definiert allerdings Kohäsion als Ziel und errichtet den Europäischen Sozialfonds. Er formuliert Leitlinien für Mitglieder bezüglich Arbeitsbedingungen, Equal Pay und Mobilität. Im Single European Act[3] wird der Dialog zwischen den Sozialpartnern auf die europäische Ebene gehoben. Im Maastricht-Vertrag[4] wird die Zuständigkeit der EU auf die Förderung der Beschäftigung, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, und eines angemessenen sozialen Schutzes erweitert.

Im heute die Kompetenzlage bestimmenden Artikel 4 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ist Sozialpolitik eine geteilte Kompetenz. Liegt keine EU-Regelung vor, obliegt sie den Mitgliedsländern. Das bleibt die Regel, weil ein „Konsens“ über die Ausgestaltung und Regelungstiefe oft auch durch die steigende Heterogenität der Mitglieder schwer zu finden war. Zusätzliche Dokumente betonen die gemeinsame Verantwortung der Kommission, des Rates und des Parlaments, aber auch der Mitgliedstaaten und Sozialpartner. Die Nutzung der europäischen Kompetenzen stagniert in den letzten Jahren, während neue soziale Ungleichheiten entstehen und Mindeststandards durch unverbindliche Regelungen nicht geschützt sind.

Im Jahr 2017 wurde die Europäische Säule sozialer Rechte proklamiert. Ein sozialpolitisches Scoreboard dient zur Messung von Fortschritten.

2.2. Ein Ziel der neuen EU-Kommission: „A Union of Equality“

Ursula von der Leyen hat 2019 eine soziale Union gefordert, formuliert als „Union of equality and fair taxation“. Steuerreformen bleiben Entscheidungen der Mitgliedsländer, können aber durch Regeln für die Bemessungsgrundlage, dem Kampf gegen Gewinntransfers, Steueroasen und Steuerbetrug durch die EU-Ebene beeinflusst werden. Eine europäische Arbeitslosenrückversicherung wird angesprochen[5]. Für 2021 wird eine Garantie gegen Kinderarmut in Aussicht gestellt.

Die Europäische Kommission hat eine Wachstumsstrategie zur Förderung von wettbewerbsfähiger Nachhaltigkeit vorgestellt. Ein Beschäftigungsbericht[6] soll Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Beschäftigung und die soziale Lage in Europa analysieren und helfen, prioritäre Bereiche für Reformen und Investitionen zu identifizieren. Ursula von der Leyen verlangt eine Art Mindestlohn, der allerdings je nach Mitgliedsland unterschiedlich sein, auch teilweise gesetzlich bzw. durch Sozialpartner ausgehandelt werden muss. Das EU-Programm SURE dient der vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage[7].

2.3. Wertung des Reformbedarfs

Die Kluft zwischen den sozialen Zielsetzungen der Verträge und der tatsächlichen sozialen Lage in den Mitgliedsländern ist trotz hoher und steigender Sozialausgaben größer geworden.

Im erfolgreichen europäischen Integrationsprozess hat die Reduktion sozialer Ungleichgewichte untergeordnete Priorität. Dennoch brachte die rechtlich unverbindliche Methode der Koordinierung Teilerfolge. Die Definition von Säulen, Scoreboards und unverbindlichen Empfehlungen zeigt Defizite auf; Untätigkeit ist aber nicht mit Sanktionen verbunden. Auf inhaltlicher Ebene geriet die Korrektur von unsozialen Marktergebnissen zugunsten von Zielsetzungen der Effizienzsteigerung von Märkten und Arbeitsmarktflexibilität in den Hintergrund; Beschäftigungspolitik, oft mit Fokus auf Flexibilität zugunsten der Arbeitgeber, stand statt einer „Modernisierung“ des Sozialstaats mit einer Hebung des Schutzniveaus im Vordergrund. Die Kluft zwischen den sozialen Zielsetzungen der Verträge und der tatsächlichen sozialen Lage in den Mitgliedsländern ist trotz hoher und steigender Sozialausgaben größer geworden.

3. Wandel von Ungleichheit über die Zeit

3.1. Vordergründige und tiefere Ursachen von Ungleichheit

Mit der hohen Belastung des Faktors Arbeit und geringen Vermögens- und Erbschaftssteuern trägt der Staat selbst zum Wiederanstieg der Ungleichheit bei. Neue Agglomerationstendenzen in den Zentren und Abwanderung aus ländlichen und peripheren Regionen sind Komponenten davon.

Zu den tieferen Ursachen der steigenden Ungleichheit zählen technischer Wandel und Globalisierung. Sie begünstigen BezieherInnen höherer Einkommen, wenn der Staat nicht gezielt entgegensteuert. Die Arbeitsmarktderegulierung ohne Aktivkomponente, verringerte Umverteilung durch Steuern und fiskalische Grenzen für monetäre Transferleistungen sind politische Fehler, die bewirken, dass die längerfristigen Vorteile durch Globalisierung und neue Technologien ungleich verteilt bleiben.

Zu den tieferen Ursachen der steigenden Ungleichheit zählen technischer Wandel und Globalisierung.

Wird dem demografischen Wandel nicht Rechnung getragen hat das Altersarmut zur Folge. Generell müssen Pflege sowie Betreuungspflichten, sprich wer die Betreuung übernimmt, ob und wie gut diese bezahlt wird, und die Arbeitsbedingungen im Gesundheitsbereich stärker thematisiert werden.

3.2. Messung von Ungleichheit

Bei den Indikatoren gibt es Kennzahlen, die alle Einkommen umfassen (Gini, Theil Index), solche, die hohe und niedrige Einkommen vergleichen, andere die sich auf das reichste Segment konzentrieren. Gängige Indikatoren zur Armutsmessung sind die Armuts- oder Ausgrenzungsgefährdung gemäß der Europa 2020 Strategie, „at risk of poverty“ und „working poor“.

Neben Kennzahlen der Einkommensverteilung wird mit dem Household Finance and Consumption Survey auch die Vermögensverteilung in den Fokus gerückt.

Indikatoren liefern eine Basis, um gezielte Maßnahmen zu definieren und umzusetzen. Zum Monitoring zählt die Macroeconomic Imbalances Procedure[8], die jährliche Wachstumsstrategie, mit der das Europäische Semester eingeleitet wird, und der „European Regional Social Progress Index“[9] . Umfassende Analysen liefern außerdem die OECD, die Weltbank und Eurofound mit dem „EU convergence monitoring hub“[10].

Es fehlt also weniger an indikatorbasierten Berichten als am politischen Willen Ungleichheit zu reduzieren, was sich auch an fehlenden Sanktionen im Unterschied etwa zu fiskalischen Ungleichgewichten zeigt. Wir diskutieren in der Folge Paradigmenwechsel von der Ex-post-Zahlung zu Ex-ante-Konzepten einer progressiven Sozialpolitik.

4. Regionale Ungleichheit: Ursachen, Persistenz, Wiederanstieg

Die europaweiten regionalen Ungleichheiten sinken langfristig. Es gibt eine Konvergenz zwischen den Einkommen der Mitgliedsländer.

Auf Länderebene holen die osteuropäischen Länder auf, wenn auch nach der Finanzkrise nicht immer im erhofften Tempo. Die südeuropäischen Länder haben bis in die neunziger Jahre einen erheblichen Teil ihres Rückstandes gegenüber dem EU-Schnitt gutgemacht, fallen aber seither durch ungenügenden Strukturwandel wieder zurück (vgl. Aiginger 2019B)[11].

Auf regionaler Ebene gibt es auch ein rascheres Wachstum der ärmeren Regionen. Die Einkommen der zehn reichsten NUTS-3-Regionen[12] in der EU sind allerdings noch immer zehnmal so hoch wie in den zehn einkommensschwächsten Regionen.

In jüngster Zeit ist allerdings auch die Divergenz zwischen Zentren und Peripherie innerhalb vieler Länder wieder steigend, und mehrere Länder und noch zahlreichere Regionen haben sinkende Bevölkerungszahlen. Die Bausteine der Kohäsionspolitik (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung und Kohäsionsfonds) wirken nicht zielgerichtet, auch nicht im Zusammenwirken mit dem Europäischen Sozialfonds (ESF) und der direkten Finanzierung von Investitionen in territoriale Kooperationen.

Der neue Aktionsplan für die europäische Säule sozialer Rechte will ein Jahrzehnt neuer Sozialpolitik einläuten.

Der neue Aktionsplan für die europäische Säule sozialer Rechte will ein Jahrzehnt neuer Sozialpolitik einläuten. Die Europäische Kommission setzt das Ziel in jedem Land bis 2030 eine Beschäftigungsquote von 78 % zu erreichen,  für 60 % der Beschäftigten eine jährlichen Zusatzqualifikation zu garantieren und 15 Millionen aus der armuts- und ausgrenzungsgefährdeten Gruppe herauszulösen.

Alle diese Tendenzen sind über längere Zeit entstanden und sind Folgen der Technologieentwicklung und internationalen Standortentscheidungen. In der durch COVID-19 entstanden Rezession werden die Probleme deutlicher sichtbar, weil längerfristige Probleme und kurzfristige Lösungen sich gegenseitig verstärken (Brennglaseffekt).

Stoßrichtungen
  • Investitionen in Richtung Nachhaltigkeit, Dynamik und Breitbandinfrastruktur abseits der Zentren müssen steigen.
  • Mittel durch Corona-Hilfen müssen genutzt werden, um strukturelle Defizite abzubauen, den Strukturwandel in Randzonen aktiv zu fördern, um Abwanderung zu bremsen.
  • Im Zuge der Neuausrichtung der EU-Politik werden im Wiederaufbaufonds durch das Programm „REACT-EU“ 47,5 Mrd. € an zusätzlichen Mitteln indirekt bereitgestellt[13].

5. Paradigmenwechsel in der nationalen und europäischen Sozialpolitik

5.1. Reformbedarf in Aus- und Weiterbildung

Traditionelle Familienstrukturen brechen auf. Oft sind Frauen heute formal höher qualifiziert als Männer, nehmen aber nicht höhere Positionen in Koordination, Aufsicht und Management ein (gläserne Decke). Der Gender Pay Gap verringert sich, er besteht aber noch immer für gleiche Qualifikationen. Alleinerziehende Mütter sind durch kleine Wohnungen, Homeschooling und fehlende IT-Infrastruktur oft doppelt gefordert.

Berufsanforderungen verändern sich durch Globalisierung, technologischen Wandel und Klimawandel. Standardisierte Prozesse werden automatisiert bzw. durch digitale Technologien unterstützt, ergänzt oder entfallen. Routinetätigkeiten werden durch Überwachungstätigkeiten ersetzt (Bock-Schappelwein et al. 2017A, B)[14].

Dabei verändern sich Arbeitsbedingungen. Neue Skills mit Betonung von Problemlösung und Teamfähigkeit werden wichtiger und Lebenslanges Lernen wird notwendig. Digitale Technologien verändern aber auch Wohnen, Gesundheit oder Mobilität. Das Homeoffice wird zumindest teilweise die Arbeitswelt auch nach der Pandemie prägen.

Stoßrichtungen
  • Anzusetzen ist in Erstausbildung und Weiterbildung (neue Lehrpläne, Rechtsanspruch).
  • Derzeitige Basisqualifikationen sind um digitale Grundkenntnisse zu erweitern.
  • Lebenslanges Lernen und Berufsunterbrechungen zu Höherqualifikation sind zu fördern.
  • Qualifikationen von MigrantInnen sollen anerkannt werden, ihre Kinder müssen in das Schulsystem und vorschulische Erziehung integriert werden.

5.2. Von Absicherung zu Sozialen Investitionen

Exklusions- und Krankheitsrisiko sind von sozialem Background, Bildung und Region, sowie Zugang zum Gesundheitssystem abhängig. Eine investive Sozialpolitik soll die Entstehung von Risiken verringern, die Nutzung neuer Chancen durch Technologien und Globalisierung erleichtern und Inklusion, Lebensqualität und Work-Life-Balance verbessern.

Die „sozialinvestive“ Sicht betont die zentrale Bedeutung von Wissen und Fertigkeiten und die zentrale Rolle der Erwerbstätigkeit als Anker für soziale Teilhabe.

Das Sozialsystem war bisher vorwiegend mit der Absicherung gegen Erwerbs- und Lebensrisiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und -unfähigkeit assoziiert. Progressive Sozialpolitik soll befähigen und überwiegend präventiv wirken. Investitionen in das Human- und Sozialkapital sowie hochwertige, leistbare soziale Dienstleistungen sind Kernelemente einer neuen Sozialpolitik. Die „sozialinvestive“ Sicht betont die zentrale Bedeutung von Wissen und Fertigkeiten und die zentrale Rolle der Erwerbstätigkeit als Anker für soziale Teilhabe.

Hohe gesellschaftliche Ungleichheit beeinträchtigt die soziale Mobilität von Menschen aus benachteiligten Haushalten. Soziale Investitionen in frühen Lebensphasen sind notwendig, um Benachteiligung entgegenzuwirken und die Erwerbschancen im späteren Leben zu fördern.

Europäische Mindeststandards sind mit nationaler Umsetzung zu kombinieren. Die EU braucht eine gemeinsame Orientierung in Kernbereichen der nationalen Wohlfahrtsstaaten (Vandenbroucke 2017)[15] in der die Vorgabe von Zielen und sozialen Standards eine Leitfunktion einnimmt, während die operative Umsetzung und konkrete Gestaltung den Mitgliedstaaten überlassen bleibt.

Das Monitoring von Sozialinvestitionen im Europäischen Semester und in den jährlichen Wachstums- und Beschäftigungsberichten sind zu verstärken, um der heutigen Priorität makroökonomischer und fiskalischer Ungleichgewichte entgegenzuwirken.

Stoßrichtungen
  • Gesonderte Berücksichtigung von Ausgaben für Investitionen in Humankapital im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts, Priorisierung in der Aufbau- und Resilienzfazilität;
  • Stützung des sozialen Dialogs und des koordinierten Interessensausgleichs zwischen Sozialpartnern, symmetrische Flexibilisierung mit Wahlrechten beider Seiten;
  • Maßnahmen zur Unterstützung von Beschäftigung im Zusammenhang mit Alterung und gesundheitlichen Einschränkungen;
  • Forcierung der Gendergerechtigkeit durch die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit;
  • Bekämpfung von Segmentierung und Reduzierung des Gender Gaps;

5.3. Begleitende Reformen und Leitgedanken

Verantwortungsbewusste Globalisierung

Globalisierung soll eine schrittweise Vereinheitlichung sozialer und ökologischer Standards „nach oben“ bewirken. Das entspricht nicht den kurzfristigen Gewinninteressen der multinationalen Unternehmen, ist aber für alle Länder besser als Protektionismus und Nationalismus (vgl. auch Aiginger und Rodrik 2020)[16].

Ein wichtiger Schritt wäre, europäische Unternehmen zu verpflichten, soziale und ökologische Standards auch bei Tochterunternehmen einzuhalten (Lieferkettenverantwortung). Dies und die Anhebung von Standards ist in alle Handels- und Investitionsabkommen einzubauen.

Integration für MigrantInnen

Unsicherheit im Status und Nichtanerkennung erworbener Qualifikationen verringern Integration und Beschäftigung. Länder, die die integrative Migrationsstrategie der EU durchführen, sollten mehr EU-Förderungen bekommen; wird diese durch restriktive Regierungspolitik verhindert, könnte es einen „fast track“ zu Integrationsprogrammen geben.

Europäisches Budget 2021-27 und europäische Steuern

Dem Rückstand Europas bei Forschungsausgaben wird keine angemessene Priorität gewidmet.

Gemeinsam mit dem als Gegensteuerung zur Krise gedachten Aufbau- und Resilienzplan (RRF Recovery and Resilience Facility) beträgt das Finanzierungvolumen für 2021-27 1.800 Mrd. €. Ausgaben für soziale Anliegen, Kohäsion und Klima bleiben relativ klein im Verhältnis zu Agrarausgaben. Dem Rückstand Europas bei Forschungsausgaben wird keine angemessene Priorität gewidmet. Auf der Einnahmenseite dominieren weiter von Wirtschaftsleistung und Mehrwertsteuer in den Mitgliedsländern abhängige Finanzierungsanteile. Auf gemeinsame Steuern wie eine Finanztransaktionssteuer, Besteuerung von Plattformen und Emissionen, sowie die Erhöhung des nationalen Spielraumes etwa durch Vereinheitlichung der Bemessungsgrundlagen für Körperschafts- oder Erbschaftssteuern sollte nicht weiter verzichtet werden. Europäische Steuern sollten zur Reduktion der Belastung des Faktor Arbeit genutzt werden.

6. Von der Sprengkraft zur Chance

Die Krise hat die Tiefe und das breite Spektrum der Ungleichheiten aufgezeigt: Einkommen, Wohnen, Gesundheit und Digitalisierung sind betroffen. Eine steigende Kluft zwischen Zentren und Randlagen schürt nationale und protektionistische Politikansätze. In der Krise zur Verfügung gestellte staatliche Mittel müssen für Reformen und zur Lösung von Problemen genutzt werden, die schon vor der Krise vernachlässigt wurden. Zukunftsunsicherheit steigt, bei den Jüngeren und den Älteren. Wer noch keine Arbeitsplatzerfahrung hat, ist verunsichert, hat aber durch IT-Kenntnises höhere Flexibilität sich auf langfristige Veränderungen einzustellen; ältere Arbeitskräfte müssen stärker umlernen.

Die Krise hat die Tiefe und das breite Spektrum der Ungleichheiten aufgezeigt: Einkommen, Wohnen, Gesundheit und Digitalisierung sind betroffen.

Entwicklung und Struktur der Ungleichheit

Einkommens- und Vermögensungleichheit ist in den letzten 20 Jahren innerhalb der Mehrzahl der Mitgliedsländer gestiegen, besonders durch den raschen Anstieg der Topeinkommen und Vermögenserträge. Die Einkommensdifferenzen zwischen Regionen mit niedrigem Einkommen und den Topregionen sinken, liegen aber immer noch bei 5:1. Auch der Einkommensunterschied zwischen den Mitgliedsländern hat sich verkleinert, Osteuropa hat stark aufgeholt. Die Unterschiede zwischen den Zentren und in peripheren Regionen steigen wieder.

Sozialer Ausgleich ist bisher nur ein Nebenziel

Der soziale Ausgleich muss ein Primärziel und im Europäischen Semester stärker eingemahnt werden – auf lange Sicht in einem neuen Vertrag.

Die EU hat die regionale und soziale Kohäsion seit der Gründung als Nebenziel mitgedacht. Priorität ist allerdings der Binnenmarkt und die „vier Freiheiten“. Die soziale Dimension bleibt rechtlich vorwiegend den Mitgliedern überlassen. Die Europäische Säule sozialer Rechte und Sozialindikatoren sollten das Erkennen von Defiziten erleichtern. Der soziale Ausgleich muss ein Primärziel und im Europäischen Semester stärker eingemahnt werden – auf lange Sicht in einem neuen Vertrag.

Die Unterordnung der sozialen Dimension wurde im Zuge der letzten Eurokrise sichtbar. Kern der Krisenpolitik waren der verpflichtende Abbau von Budgetdefiziten und das Ziel einer Rückgewinnung der Wettbewerbsfähigkeit durch alte Rezepte (Aiginger 2015[17], Soukup 2019[18]). Die Reduktion von Ungleichheit, aber auch soziale Innovationen und Firmengründungen waren kein Thema.

Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik

Angesichts der hohen Sozialausgaben und Steuerbelastung in der EU kann der Ungleichheit nicht mit dem traditionellen Instrument von monetären Transferzahlungen begegnet werden.

Empowerment, nicht Schutz vor Veränderung, verbessert die Lebensqualität.

  • Sozialpolitik muss gemeinsam mit Bildungs-, Innovations- und Gesundheitspolitik akkordiert werden. Schulbildung, Geburtsort und Einkommen der Eltern haben Einfluss auf etwaige Arbeitslosigkeit, Einkommen und Lebenserwartung.
  • Ausbildung muss lebenslang und berufsbegleitend werden, Berufsunterbrechungen auch zur Weiterbildung sollen die Norm und mit jeder Transferzahlung verpflichtend gemacht werden.
  • Schulbildung soll dazu befähigen, Probleme und Konflikte zu lösen. Empowerment, nicht Schutz vor Veränderung, verbessert die Lebensqualität.

Das Steuersystem muss den Faktor Arbeit entlasten. Die EU muss das durch Vereinheitlichung von Bemessungsgrundlagen, Bekämpfung von Steuerhinterziehung sowie Gewinnverlagerung unterstützen und bei Verstößen die Nutzung von EU-Mitteln einstellen. Eine Finanztransaktionssteuer und Emissionsabgaben können zum Aufholen des europäischen Forschungsdefizites und zur Steuersenkung auf Arbeit genutzt werden.

Kohäsionsgelder sind für die Begrenzung von Agglomerationen einzusetzen, etwa auch für den Ausbau von Breitband und die Stärkung der digitalen Fähigkeiten der Bevölkerung.

Das Europäische Budget muss stärker umgeschichtet werden. Die Finanzierung von landwirtschaftlicher Überproduktion ist zu reduzieren. Forschung, Weiterbildung und sozialer Schutz sind stärker zu forcieren.

Neue Gesetzte sind einem Sozialtest zu unterziehen der die Verteilungswirkungen abschätzt. Das Europäische Semester sollte verpflichtende Maßnahmen vorschlagen, wenn die Ungleichheit steigt. Das Initiativrecht des Europäischen Parlamentes ist zu stärken. Europa muss Spitzenreiter in der Klimapolitik werden und dies als Teil seines Gesellschaftsmodells auch Nachbarn anbieten.

Zusammenfassend muss die soziale Frage von einem Nebenziel zu einem prioritären Bestandteil der Europäischen Politik werden. Damit kann Ungleichheit reduziert bzw. können neue Formen verhindert werden.

[1] ÖGfE Policy Brief gemeinsam mit dem Policy Crossover Center: Vienna-Europe (Querdenkerplattform: Wien-Europa), aufbauend auf der Studie des PCC „Strategien gegen neue Ungleichheit in Europa – Covidkrise als Brennglas aber auch Chance für Restart“ (Flash Paper 2/2021). Abrufbar unter: www.querdenkereuropa.at
Die AutorInnen danken für Beiträge und Kritik von Lisa Altmanninger, Julia Bock-Schappelwein, Adi Buxbaum, Arianna Colcuc, Michael Dauderstädt, Katharina Gugerell, Marie Hasdenteufel, Stefan Jestl, Vanessa Koch, Lea Koisser, Thomas Leoni, Max Schett, Kesira Yildirim.

[2] Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Rom, den 25. März 1957)

[3] Einheitliche Europäische Akte (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L169/1 29.6.1987)

[4] Vertrag über die Europäische Union (Maastricht, 7. Februar 1992)

[5] European Commission, press release 14.1.2020

[6] https://ec.europa.eu/info/publications/2020-european-semester-joint-employment-report_de

[7] SURE: Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency

[8] https://ec.europa.eu/info/business-economy-euro/economic-and-fiscal-policy-coordination/eu-economic-governance-monitoring-prevention-correction/macroeconomic-imbalances-procedure_en

[9] https://ec.europa.eu/regional_policy/en/information/maps/social_progress

[10] https://www.eurofound.europa.eu/data/convergence-hub

[11] Aiginger, K. (2019B), Auch erfolgreiche Transformationen erleben kritische Momente, Europäische Rundschau, 46(3).

[12] NUTS (Nomenclature des unités territoriales statistiques) bezeichnet eine hierarchische Systematik zur eindeutigen Identifizierung und Klassifizierung der räumlichen Bezugseinheiten der amtlichen Statistik in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/nuts/background

[13] https://ec.europa.eu/info/strategy/recovery-plan-europe_de

[14] Bock-Schappelwein, J., Famira-Mühlberger, U., Huemer, U. (2017A), Instrumente der Existenzsicherung in Weiterbildungsphasen in Österreich, WIFO-Monatsberichte 90(5), S. 393-402.

[15] Vandenbroucke, F. (2017), The Idea of a European Social Union: A normative introduction, in Vandenbroucke, F., Barnard, C., De Baere, G., A European Social Union after the Crisis, Cambridge: Cambridge University Press, p. 3-46.

[16] Aiginger, K., Rodrik, R., (2020), Rebirth of Industrial Policy and an Agenda for the Twenty-First Century, Journal of Industry, Competition and Trade, 2, pp. 189-207.

[17] Aiginger, K. (2015), This can still be Europe´s Century, International Journal of Business and Economic Affairs, 3(2), p. 173-82.

[18] Soukup, N. (2019), Neoliberale Union oder soziales Europa? Ansätze und Hindernisse für eine soziale Neuausrichtung der EU, Wien, ÖGB Verlag, S. 10–32.

ISSN 2305-2635

Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die die AutorInnen arbeitet, überein.

Schlüsselwörter

Soziale Ungleicheit, Sozialpolitik, Wiederaufbauprogramm, Green Deal, Soziales Europa

Zitation

Aiginger, K., Kreuz, R. (2021). Paradigmenwechsel und Neustart für weniger Ungleichheit in der EU. Wien. ÖGfE Policy Brief, 06’2021

Karl Aiginger

Karl Aiginger lehrt Wirtschaftspolitik an der WU Wien (University of Economics and Business) und ist Direktor des Think Tanks Policy Crossover Center: Vienna-Europe (Querdenkerplattform: Wien-Europa, www.querdenkereuropa.at).

Ruth Kreuz

Ruth Kreuz studiert Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie ist Mitglied der Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien und Mitglied des Think Tanks Policy Crossover Center: Vienna-Europe (Querdenkerplattform: Wien-Europa, www.querdenkereuropa.at).