Die östlichen Mitgliedsstaaten und ihr Verhältnis zur EU: Lehren aus der EU-Wahl 2019

Handlungsempfehlungen

  1. Es bedarf einer klaren Reaktion bei der Verletzung von zentralen Werten der Europäischen Union, auch in den Mitgliedsstaaten und den Europäischen Parteifamilien.
  2. Ein verstärkter Dialog auf Augenhöhe zwischen den Mitgliedsstaaten würde helfen, etwaige Ungleichheiten zwischen östlichen und restlichen Mitgliedsstaaten zu verringern.
  3. Eine stärkere Beschäftigung mit den östlichen Mitgliedsstaaten – medial, akademisch und durch Austauschprogramme – würde ebenfalls dazu beitragen, die europäische Öffentlichkeit auf aktuelle Entwicklungen aufmerksam zu machen und diese besser verstehen zu können.

Zusammenfassung

Die Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 wurden aufgrund der gestiegenen Wahlbeteiligung generell als Erfolg angesehen. Dieser Anstieg ließ sich auch in den östlichen Mitgliedsstaaten beobachten, allerdings lag die Wahlbeteiligung in den meisten dieser Länder auch dieses Mal nach wie vor deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Der Beitrag diskutiert Gründe für diese Unterschiede zwischen „Ost“ und „West“ in der EU und geht dabei auch auf die große Beliebtheit der Union in den östlichen Mitgliedsstaaten ein. Auch aufgrund der anhaltenden Angriffe auf die EU aus Polen und Ungarn ist die Kombination aus geringer Wahlbeteiligung und hoher Beliebtheit überraschend und paradox.
Die große Zustimmung zur EU ermöglicht es jedoch, stärker auf die Verletzungen von zentralen Werten der EU in Ländern, wie Polen aber vor allem Ungarn, zu reagieren. Ohne eine adäquate Reaktion untergräbt die EU zunehmend ihre eigene Glaubwürdigkeit. Insofern ist ein verbesserter Dialog zwischen „Ost“ und West“ in der EU notwendig. Dies bedeutet allerdings nicht, dass nur die östlichen EU-Mitgliedsstaaten sich bewegen müssen.

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Die östlichen Mitgliedsstaaten und ihr Verhältnis zur EU: Lehren aus der EU-Wahl 2019

30 Jahre nach den massiven Umbrüchen in Zentral- und Osteuropa sowie 15 Jahre nach der ersten Osterweiterung fand im Mai 2019 die Wahl zum Europäischen Parlament statt. Dabei wurde vor allem der Anstieg der Wahlbeteiligung auf 50,6 Prozent positiv hervorgehoben (2014: 42,6 Prozent) (Quelle: Eurobarometer 91.5). Zudem ist auffällig (siehe Grafik 1), dass diesbezüglich erneut ein großer Unterschied zwischen west- und osteuropäischen Mitgliedern sichtbar wurde. So liegen von den ehemals staatssozialistischen Ländern (rot) nur Litauen und Rumänien knapp über dem EU-Durchschnitt (blau). In Kroatien, Tschechien, Slowenien und der Slowakei lag die Beteiligung jeweils unter der 30-Prozent-Marke.

Grafik 1: Wahlbeteiligung bei der Wahl zum Europäischen Parlament 2019 (in %)

Quelle: Europäisches Parlament

Es wäre allerdings falsch von der Zunahme der Wahlbeteiligung auf eine gestiegene Begeisterung für das Europäische Parlament zu schließen, da die Gründe für den Anstieg meist innenpolitischer Natur waren.

Die meisten östlichen Mitglieder der EU haben dabei dem europäischen Trend folgend einen Anstieg der Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2014 verzeichnet. So lagen vor allem Polen (+21,9 Prozent), Rumänien (+18,8 Prozent) und Ungarn (+14,5 Prozent) deutlich über dem europäischen Durchschnitt mit 8,1 Prozent Zuwachs im Vergleich zu 2014. Es wäre allerdings falsch von der Zunahme der Wahlbeteiligung auf eine gestiegene Begeisterung für das Europäische Parlament zu schließen, da die Gründe für den Anstieg meist innenpolitischer Natur waren. So konnte beispielweise der klare Wahlsieger in Ungarn, die Fidesz-Partei von Viktor Orbán, offensichtlich mit seinem Anti-Migrations- und Anti-EU-Tenor die Bevölkerung vermehrt mobilisieren.

In den meisten Fällen liegt die Beteiligung bei der EU-Wahl um rund 25 Prozent unter der Beteiligung bei der letzten nationalen Wahl.

Generell lässt sich bei Wahlen zum Europäischen Parlament das Prinzip der „zweitrangigen Wahl“ (second-order election) nach wie vor beobachten. Dieses Prinzip besagt unter anderem, dass die Bevölkerung europäische Wahlen als weniger wichtig erachtet und dementsprechend die Wahlbeteiligung in der Regel niedriger ausfällt als bei nationalen Wahlen. Dies war bis auf wenige Ausnahmen (Litauen und Rumänien) auch in den östlichen Mitgliedsstaaten 2019 der Fall. In den meisten Fällen liegt die Beteiligung bei der EU-Wahl um rund 25 Prozent unter der Beteiligung bei der letzten nationalen Wahl (siehe Tabelle 1). Die vergleichsweise niedrige Wahlbeteiligung ist dementsprechend auch auf einen allgemeinen Trend zurückzuführen.

Tabelle 1: Vergleich der Wahlbeteiligung bei nationalen und europäischen Wahlen

Quelle: Parties and Elections in Europe und Europäisches Parlament

Gleichzeitig fällt aber auf, dass die Wahlbeteiligung ganz allgemein in den östlichen Mitgliedsstaaten deutlich geringer ausfällt als in den meisten westeuropäischen Staaten (Ekman et al. 2016, Petričević und Stockemer 2019). Dies lässt sich auf verschiedene regionalspezifische Gründe zurückführen: u.a. das Erbe des Staatssozialismus, die Effekte der Transformation seit 1989 und die Rolle der östlichen Mitgliedsstaaten innerhalb der Europäischen Union.

Das Erbe des Staatssozialismus und Transformationserfahrungen

Auch wenn das Ende des Staatssozialismus 30 Jahre zurückliegt, so zeigt sich in der politikwissenschaftlichen Forschung ein Fortbestehen dieses Erbes, beispielsweise bei der Wahlbeteiligung oder auch bei politischen Einstellungen. Die dominante Position der Partei in den Gesellschaften, die Unterdrückung und in Teilen Bekämpfung von kritischen Stimmen haben zu den negativen Erfahrungen der Bevölkerung zu dieser Zeit stark beigetragen. Dies führt auch heute noch zum verstärkten Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber politischen Institutionen und Eliten.
[zitat inhalt=”Die dominante Position der Partei in den Gesellschaften, die Unterdrückung und in Teilen Bekämpfung von kritischen Stimmen haben zu den negativen Erfahrungen der Bevölkerung zu dieser Zeit stark beigetragen.”]
Die nach den Umbrüchen 1989 entfachte Euphorie über den Regimewechsel verflog schnell und Ernüchterung über die Transformation machte sich breit. Dies lässt sich an dem sinkenden Glauben an eine Lebensverbesserung durch Demokratie, sowie am hohen Maß an Korruption und Klientelismus festmachen. Die kollektive Enttäuschung bezog sich auch auf die ausbleibende ökonomische Entwicklung, denn die Transformation brachte für den Großteil der Bevölkerung nicht die erwünschte Verbesserung der (materiellen) Lebensbedingungen. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass die Lücke zwischen „Ost“ und „West“ zwar im Laufe der Zeit geringer wurde, allerdings liegen die östlichen Mitglieder immer noch deutlich hinter dem Wohlstandsniveau der westlichen Mitglieder. Zum anderen führte die ungleiche Verteilung des ehemaligen Staatseigentums und mitunter undurchsichtige Privatisierungsmethoden zu klaren Gewinnern und Verlierern der Transformation. Sinkende politische Beteiligung lässt sich auch durch den starken Abbau des Wohlfahrtstaates seit 1989 und dem Druck auf die politische Elite, Sozialstandards zu senken, um internationale Firmen und Investoren ins Land zu holen, erklären.

Die östlichen Mitgliedsstaaten und ihr Verhältnis zur EU

Aufgrund des geringen politischen und ökonomischen Gewichts spielten die östlichen Mitglieder lange Zeit keine starke Rolle, wenn es um die zentralen Entscheidungen in Brüssel ging. Die älteren Mitglieder, insbesondere die deutsch-französische Achse, gaben den Ton an, dem sich die restlichen Mitglieder fügten.
[Zitat inhalt=”Aufgrund des geringen Einflusses auf der EU-Ebene besteht in weiten Teilen der Bevölkerung die Wahrnehmung, dass die östlichen Länder eher Mitglieder ‚zweiter Klasse‘ sind.”]
Dies änderte sich 2015 mit dem Verbünden der östlichen Mitglieder, vor allem der Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei, die gegen EU-weite Verteilungsquoten von Geflüchteten mobil machten. Aus heutiger Sicht erscheint dieses Erstarken der östlichen Mitglieder ein Ausreißer gewesen zu sein, da mit dem gesunkenen öffentlichen Interesse an diesem Thema auch die mediale Wahrnehmung der östlichen Länder wieder abnahm. Aufgrund des geringen Einflusses auf der EU-Ebene besteht in weiten Teilen der Bevölkerung die Wahrnehmung, dass die östlichen Länder eher Mitglieder „zweiter Klasse“ sind. Diese Wahrnehmung bestärkt beispielsweise auch der Verkauf von vermeintlich qualitativ schlechteren Lebensmitteln in einigen östlichen Mitgliedsländern.
[zitat inhalt=”Unter den EU-skeptischsten Mitgliedern befindet sich mit Tschechien nur ein östliches EU-Mitglied.”]
Trotz des vorherrschenden Gefühls ein Mitglied „zweiter Klasse“ zu sein, ist die Europäische Union auch in den östlichen Mitgliedern sehr beliebt. Wie Grafik 2 zeigt, gibt es laut Eurobarometer von Juni 2019 nur in drei Ländern keine Mehrheit für den Verbleib des eigenen Landes in der Union (Großbritannien, Italien und Tschechien). Unter den EU-skeptischsten Mitgliedern befindet sich mit Tschechien nur ein östliches EU-Mitglied. Angeführt wird das Feld der Austrittsbefürworter von Großbritannien (34 Prozent), gefolgt von Tschechien (23 Prozent), Griechenland, Frankreich und Österreich (je 21 Prozent). Die Zustimmung für einen Verbleib in der Union liegt in den östlichen Mitgliedsstaaten mit 64 Prozent Zustimmung nur knapp unter dem EU-Durchschnitt mit 66 Prozent.

Grafik 2: Abstimmungsverhalten bei einem Referendum zum EU-Verbleib des eigenen Landes

Quelle: Eurobarometer 91

Pauschal formuliert wird die EU-Mitgliedschaft in den östlichen EU-Mitgliedern überwiegend durch die ökonomische Kosten-Nutzen-Brille wahrgenommen, während der politische Mehrwert der Integration eher unterbelichtet scheint.

Dies hängt auch damit zusammen, dass 78 % der Menschen in den östlichen Mitgliedsstaaten Vorteile für das eigene Land durch die EU-Mitgliedschaft sehen (siehe Grafik 3). Damit liegt die Region über dem EU-weiten Durchschnitt. Interessant ist dabei, dass der am häufigsten genannte Vorteil durch die in allen östlichen Mitgliedsstaaten „individuelle Vorteile durch neue Jobmöglichkeiten“ war (Eurobarometer 91.5, Seite 105). In den meisten westeuropäischen Mitgliedern dominieren jedoch Themen wie die „Zusammenarbeit auf europäischer Ebene“ oder den „Erhalt von Frieden und Sicherheit“. Pauschal formuliert wird die EU-Mitgliedschaft in den östlichen EU-Mitgliedern überwiegend durch die ökonomische Kosten-Nutzen-Brille wahrgenommen, während der politische Mehrwert der Integration eher unterbelichtet scheint.

Grafik 3: Vorteile für das eigene Land durch die EU-Mitgliedschaft (Seite 101)

Quelle: Eurobarometer 91.5

Die positive Einstellung gegenüber der Europäischen Union überrascht auf den ersten Blick nicht angesichts der Tatsache, dass die östlichen Mitglieder auch zu den Nettoempfängern in der Union gehören. Allerdings ist es zugleich erstaunlich, dass gerade in Ländern wie Polen (größter absoluter Nettoempfänger) oder Ungarn (größter pro-Kopf-Nettoempfänger) Regierungen sich sehr kritisch bis EU-feindlich äußern und angesichts der allgemeinen Zustimmung der EU zur EU-Mitgliedschaft dennoch große Wahlerfolge feiern. Dies ist Orbán oder Kaczyński möglich, in dem sie die EU öffentlich nicht per se ablehnen, sie aber zu ihren Gunsten und auf Basis ihrer konservativen Werte umbauen wollen. Zugleich greifen sie in die populistische Trickkiste und skizzieren ein Bild der abgehobenen Technokraten in Brüssel und vermeiden durch diesen rhetorischen Kniff die EU als Ganzes zu kritisieren. So stellt Orbán mehrfach fest, dass das ungarische Volk sich 1989 nicht von der Herrschaft Moskaus losgelöst hätte, nur um sich nun dem Brüsseler Regime zu beugen.

Die Zukunft der Europäischen Union

Angesichts der im Raum stehenden Grundsatzentscheidung wie die Europäische Union in Zukunft organisiert werden soll, verheißen die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Union (wie so oft) keine schnelle Entscheidung. Die Europäische Kommission hat mit dem Weißbuch zu den Zukunftsszenarien schon im März 2017 fünf Optionen skizziert. Der sich immer noch verschleppende Brexit hat die Diskussionen über die Zukunft der EU deutlich überschattet, allerdings sind die Fragen nach wie vor von großer Relevanz. Es wird eine Kernaufgabe der neuen Kommission um Ursula von der Leyen sein, diese Diskussionen zu moderieren.
Ein zentraler Aspekt bezüglich der östlichen Mitglieder ist dabei die Frage nach der europäischen Reaktion auf den Abbau demokratischer Strukturen wie in Ungarn und Polen. Die anhaltenden Verletzungen von Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union können – Stand jetzt – aufgrund der erforderten Einstimmigkeit nicht wirklich mit (dem ohnehin recht harmlosen) Artikel 7 sanktioniert werden. Hier haben sich die Europäische Kommission und das Europäische Parlament klar positioniert, allerdings braucht es diese Haltung auch auf der Ebene der Mitgliedsstaaten sowie auch in den europäischen Parteifamilien. Wie schwer dies ist, zeigt sich an der immer noch ausstehenden Entscheidung der „drei weisen Männer“ hinsichtlich des Ausschlusses der Fidesz aus der Europäischen Volkspartei (EVP).
Das europäische Projekt steht vor zentralen Entscheidungen bezüglich der Europäischen Integration und dem Modus der Zusammenarbeit. Wohl auch aufgrund des Brexit konnte die Europäische Union in ihrer Beliebtheit zuletzt zulegen (siehe auch ÖGfE-Umfrage 2019) – wie bei der gestiegenen Wahlbeteiligung an der EU-Wahl im Mai zu beobachten war. Dies schließt auch die östlichen Mitgliedsstaaten mit ein, auch, wenn diese sich weniger stark an den Wahlen beteiligt haben. Allerdings untergräbt der Abbau demokratischer Strukturen in manchen östlichen Mitgliedsstaaten die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union und es muss zeitnah eine andere Handhabung, vor allem mit Ungarn, gefunden werden. Dafür benötigt es einen stärkeren Dialog zwischen den Mitgliedsstaaten, aber auch echte Sanktionsmöglichkeiten, wie beispielsweise ein Einfrieren von Subventionen, wenn vermeintlich rote Linien permanent überschritten werden. Dieser Dialog sollte auf Augenhöhe geschehen und nicht von dem lange vorherrschenden asymmetrischen Verhältnis zwischen östlichen und westlichen Mitgliedern geprägt sein. Dabei muss den Europäischen Institutionen und den westlichen EU-Mitgliedern der Spagat gelingen, auf die östlichen Mitglieder zuzugehen ohne dabei die Werte der Europäischen Union außer Acht zu lassen. Nur so kann die Europäische Union auch in diesen Ländern weiterhin eine glaubhafte Akteurin sein – die Gelegenheit dazu wäre zu Beginn der neuen Periode von Europäischem Parlament und Europäischer Kommission sowie der allgemeinen Beliebtheit der EU günstig.

Ekman J., Gherghina S. & Podolian O. (2016). Challenges and realities of political participation and civic engagement in central and eastern Europe. East European Politics, 32:1, 1-11. 10.1080/21599165.2016.1141091

Petricevic, V. & Stockemer, D. (2019). Why Do Citizens Not Turn Out? The Effect of Election-Specific Knowledge on Turnout in European Elections in Eastern Europe. East European Politics and Societies. https://doi.org/10.1177/0888325419870228

Spöri, T. (2017). Streitthema Migration aus Zentral- und Osteuropa – Ein Beitrag zur einseitigen Debatte in Österreich. Eastblog der Universität Wien.

Spöri, T. (2017). Solidarischer Westen? Ablehnender Osten? Einstellungen in Europa zum Thema Migration. Eastblog der Universität Wien.

Olteanu T., Spöri S., Jaitner F. & Asenbaum H. (2017): Osteuropa transformiert. Sozialismus, Demokratie und Utopie. Springer, Wiesbaden

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jener Organisation für die der Autor arbeitet überein.

Schlüsselwörter
EU-Wahl, Wahlbeteiligung, Zentral- und Osteuropa, Zukunft der EU

Zitation
Spöri, T. (2019). Die östlichen Mitgliedsstaaten und ihr Verhältnis zur EU: Lehren aus der EU-Wahl 2019. Wien. ÖGfE Policy Brief, 24’2019

Dr. Tobias Spöri

Dr. Tobias Spöri forscht und lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien zu Zentral- und Osteuropa, Europäischer Integration und politischer Partizipation.