Österreich und Europa müssen zu »resilienten Gesellschaften« werden

Ein neues Konzept der Zukunftssicherung in Krisenzeiten

Handlungsempfehlungen

  1. Systematische Einführung des Konzepts »resiliente Gesellschaft« in die strategische politische Planung und Verwaltung Österreichs
  2. Gezieltes Agenda-Setting und Einführung des Begriffs in die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene
  3. Vermittlung von österreichischen Erfahrungen und Best practice Modellen im Austausch mit den europäischen Partnern

Zusammenfassung

Österreich ist das Land mit einem der geringsten Schuldenstände, einem der höchsten Innovationsgrade und einer der erfolgreichsten Zukunftsplanungen in Europa; und es verfügt heute auch über die mit besten Eliten des Kontinents. Trotzdem ist die Nation gut beraten, darüber nachzudenken, wie sie zu einer »resilienten Gesellschaft« werden kann. Und das krisengeschüttelte, größere Europa noch viel mehr, und zwar mit Hilfe der österreichischen Erfahrung. Das Resilienzkonzept sollte als neuer, interdisziplinärer Ansatz, der viele Dimensionen zwanglos miteinander verbinden kann, in die integrierte Strategieplanung der Regierung einfliessen. Zugleich ist das Konzept »resilienter Gesellschaft« einer der vielversprechendsten pragmatischen Wege zu einem vereinten Europa, da die meisten seiner »Zutaten« nur grenzübergreifend verwirklicht werden können.
Österreichs Politik kann mit dem »Resilienzbegriff« einen umfassenderen politischen Leitbegriff in die europäische Krisen- und Erneuerungsdebatte einführen, auf dessen Feld sie glaubwürdig ist: denn der »Resilienz«-Begriff umfasst »grün« und »nachhaltig«, überschreitet diese zugleich aber auch in eine größere, umfassendere Dimension der Entwicklungsantizipation hinein. Durch den »Resilienz«-Begriff kann Österreichs Diskussionsprofil auf europäischer Ebene geschärft werden, und Österreich kann eine Vorreiterrolle in Richtung »erfolgreiche Gesellschaften« einnehmen (»successful societies«, also in der Debatte, welche den heutigen anglo-amerikanischen Raum bestimmt).

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Österreich und Europa müssen zu »resilienten Gesellschaften« werden.

Wenn die mittlerweile 6jährige europäische Krise aus pragmatischer Sicht etwas gelehrt hat, dann dies: Dass in Zeiten politischer und gesellschaftlicher »Hyper-Komplexität« so viele Probleme gleichzeitig auftauchen und sich als voneinander abhängig erweisen, dass ein Lösungsansatz, sei er nun politisch, wirtschaftlich, finanziell oder zivilgesellschaftlich, nicht ausreicht. Bisherige politische Handlungskonzepte leiden oft daran, dass sie zu wenige Dimensionen erreichen. Das führt zu einer gewissen Ohnmachtserfahrung der Eliten, die die Probleme meist nur getrennt und isoliert angehen dürfen, obwohl ihnen bewußt ist, dass Integration und Mehrdimensionalität der Schlüssel zur Bewältigung ist.

Resilienz – das Konzept proaktiver Gesellschaften

Das neue Konzept »resilienter Gesellschaft« kann hier Abhilfe schaffen. Es ist ein Ansatz zu größerer Integration und Nachhaltigkeit. Zugleich eröffnet es eine politisch »neutrale« Möglichkeit, einzelne Regionen mit Staaten und einzelne Staaten mit dem größeren Europa zu verbinden. Denn der »Resilienz«-Begriff weist in natürlicher Weise den Weg zu Integration und Ganzheit, ohne an Praxisnähe zu verlieren oder in intellektuelle Träumereien abzugleiten. Inwiefern?
Ob Schuldenkrise, Klimawandel, wachsende soziale Ungleichheit, Instabilität der Finanzmärkte oder Energieversorgungssicherheit – im Zeitalter der Globalisierung sehen sich die europäischen Gesellschaften von heute vielfältigen Herausforderungen gegenüber. Bislang hielten Forschung und Politikberatung dabei ihren Blick auf »Risikofaktoren« gerichtet. Demgegenüber bestehen aber kaum Erkenntnisse über »Schutzfaktoren«, die eine Gesellschaft befähigen, mit einer komplexen und ungewissen Umwelt umzugehen und flexibel Krisen zu widerstehen.
Ein Perspektivenwechsel weg von der Frage »Wie entstehen Krisen und wie reagiere ich auf sie?« hin zur Frage »Wie entsteht Gesundheit und wie entwickle ich Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen?« wurde aber bereits in den 1970er Jahren in Sozialpsychologie, Gemeinschaftspädagogik und (zumindest anfänglich) Geopolitik angestoßen. Sie wird inzwischen auch auf Unternehmens- und zum Teil auf Stadtkontexte übertragen. Einen wesentlichen Beitrag leistet hierbei der zunehmend im Nachhaltigkeitsdiskurs Fuß fassende Begriff der »Resilienz« (lat. »resilire« = abprallen). Oft übersetzt mit »Widerstandsfähigkeit« oder »Zukunftsfähigkeit«, wird Resilienz meist verstanden als die Fähigkeit eines Systems, Krisen durch Rückgriff auf eigene Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklungen zu nutzen.

Vier Denkrichtungen

Wie wird im aktuellen europäischen Diskurs das Konzept »resiliente Gesellschaft« aufgefasst, insbesondere im Kontext ökologischer, ökonomischer, sozialer, politischer und technologischer Herausforderungen? Auf den ersten Blick lassen sich mindestens vier einander überlappende Denkrichtungen ausmachen, die das Konzept »European resilient societies« unterschiedlich definieren und ausrichten.
Eine erste dominante Denkrichtung hat ihre Ursprünge im Sicherheitsdiskurs. Sie erfasst das Konzept resiliente Gesellschaften im Kontext von Notfallvorsorge, Gefahrenabwehr und Schadensminderung. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Erhöhung der Widerstandsfähigkeit technologiebetriebener Infrastrukturen von Großstädten gegenüber Katastrophen (z.B. als Folge terroristischer Anschläge, insbesondere aber von Naturkatastrophen). Dies beinhaltet beispielsweise erdbebensichere Architekturen, störungsresistente Strom- und Telekommunikationsnetze und Wärmeversorgung. Tonangebend sind in diesem Diskurs vor allem Beiträge aus dem angelsächsischen Raum, wie z.B. der Foundation for resilient societies (USA), der Loughborough Universität (Großbritannien), und aus Asien. Aufgrund seiner Anfälligkeit gegenüber Naturkatastrophen bei gleichzeitig hohem technologischen Know-How erweist sich Japan als besondere Inspirationsquelle. Das Land zeichnet sich einerseits durch Erfahrungswerte in der Entwicklung von Vorbeugeprogrammen, breit angelegten Schulungsmaßnahmen und Technologien zur Schadensminderung aus; andererseits aber auch durch Kulturtechniken, die einen zivilgesellschaftlichen Resilienz-Geist im Sinn von »Leidensfähigkeit« und hoher Disziplin fördern. Die Bezeichnung für diese Mentalität lautet »Gambaru«, was so viel bedeutet wie »das Beste geben bis zum Ende«. Eine ähnliche Volksweisheit für das Verhalten in Krisenzeiten besteht bereits seit dem zweiten Weltkrieg in England: »Bleibe ruhig und mach weiter« (»Stay calm and carry on«).
Eine zweite, eher »innovationsorientierte« Denkrichtung legt ihren Schwerpunkt nicht auf »Risikominimierung« und »Katastrophenmanagement«, sondern vielmehr auf »Risikoanpassung« und »Katastrophentransformation«. Im Vordergrund steht hier die Untersuchung von Faktoren des sozialen und technologischen Wandels, welche die Gesellschaft befähigen, im Einklang mit einem sich schnell wandelnden Umfeld zu ko-existieren. Wesentlich ist dabei ein Denken, das hilft, Komplexität zu erfassen und Innovationen zu begünstigen. Ein Königsweg besteht im breiten Austausch von Experten und Innovatoren aus unterschiedlichen Bereichen und in der gezielten Förderung nachhaltig angelegter Initiativen und Technologien. Besondere Erwähnung verdienen hierunter eine Vielzahl von Graswurzelinitiativen, die Kulturtechniken des regionalen Wirtschaftens, dezentraler Energiegewinnung und der Selbstversorgung gezielt fördern, um gesellschaftlichen Wandel »von unten«  zu bewirken. Repräsentativ stehen dafür Initiativen wie die aus dem angelsächsischen Raum stammende »Transition Town«-Bewegung oder die österreichische »zämma leaba«, aber auch unser eigener Ansatz der »System-Aktionstheorie«, eine siebendimensionale Methode, die »globale Systemverschiebung«, in der wir uns befinden, zu verstehen, ihre Folgen vorwegzusehen und sich früh vorzubereiten. Ein weiteres Kennzeichen dieser Denkrichtung besteht in ihrer Anregung zu »experimentellem« Denken. Über Foren wie z.B. »Change Laboratory« sollen Lernräume für die Entwicklung nachhaltiger Politiken und neuer Technologien sowie der Innovationsförderung eingerichtet werden. Die Bandbreite repräsentativer Organisationen reicht vom US-amerikanischen Innovatoren-Netzwerk PopTech bis hin zum akademischen Stockholm Resilience Centre und unserem »Zukunftsthemen der Menschheit« Institut, das sich gerade in der Anlaufphase befindet.
Eine dritte, gerade im Entstehen begriffene und noch kaum erschlossene Denkrichtung ist vom Motiv analytischer
Bestandsaufnahme
geprägt, die es überhaupt erst ermöglicht, Resilienz von Gesellschaften auf handhabbare Kriterien herunterzubrechen und daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Ein Vorstoß wurde im Jahr 2010 vom deutschen Pestel-Institut unternommen, welches 18 Indikatoren aus den Bereichen »Soziales«, »Wohnen«, »Energie«, »Flächennutzung«, »Verkehr« und »Wirtschaft« einbezog, um die Handlungsfähigkeit von Regionen und Städten durch Flexibilität, Ressourcenausstattung und Sozialkapital einzuschätzen. Über diese Studie hinausgehend ist bislang nur wenig systematisch erforscht worden, welche sozialökonomischen, politischen und ökologischen Mindestkriterien Gesellschaften erfüllen müssen, um sozialen Konflikten bestmöglich vorzubeugen. So zeigen beispielsweise aktuelle Entwicklungen, dass auch die OECD-Welt mit ihren hohen Standards hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit, Umweltschutz und Wohlfahrtsstaat nicht vor massiven sozialen Protesten (z.B. Occupy Wall Street und 99% Bewegungen) und sogar Ausschreitungen (z.B. Frankreich 2005, England 2011) gefeit ist. Zugleich kommen Forschungsfelder wie die vergleichende Wohlfahrtsstaaten- und Glücksforschung sowie die Konfliktforschung zu aussagekräftigen Einzelergebnissen, die miteinander verknüpft werden könnten. So belegen Studien, dass z.B. Einkommensgleichheit und eine hohe Beschäftigungsquote (nicht aber z.B. das absolute Einkommen oder das BIP) auch in wohlhabenden Staaten zu den wichtigsten Faktoren gehören, um sozialen Konflikten vorzubeugen und zu einer glücklichen Gesellschaft zu führen.
Eine vierte und letzte Denkrichtung zur »resilienten Gesellschaft« kommt aus dem Zukunftsdiskurs von Silikon Valley in Kalifornien, also aus dem Vorausdenken der Beziehung zwischen Wissen, Demokratie und Gesellschaft. Die zwei wichtigsten Stichworte sind hier »Befreiungstechnologien« (liberation technology), was bedeutet, dass künftig jeder Mensch bestimmte Instrumente wie Computer, Handy und Internet sowie das Wissen, sie zu benutzen, als Grundrecht erhalten sollte, womit das Netz der Gesellschaft widerstandsfähiger wird, vor allem durch die Fähigkeit des Selbstlernens; und »teilhabende Sozialinnovation« (participatory social innovation), womit gemeint ist, dass Wissen nicht mehr von einzelnen privilegierten Akteuren wie der Universität produziert und dann im Sinn einer hierarchischen Beziehung an das Umfeld weitergegeben wird, sondern dass Wissen überall unterschiedlich hergestellt wird, an der Universität eher theoretisch, im Umfeld eher praktisch, und dann kein Gefälle mehr, sondern einen Kreislauf bildet unter Gleichberechtigten im Sinn einer Vernetzung von Wissenseinrichtungen und Umfeld in Wechselseitigkeit. Dieses neue Konzept der Nutzung von Wissen für gesellschaftliche Resilienz als dauernder, unabschliessbarer Prozeß wird zum Beispiel an der Universität Berkeley »Multiversity« genannt.
Mit diesen vier Perspektiven ist das Konzept resiliente Gesellschaft beileibe noch nicht vollständig erfasst. Im Gegenteil zeigen sie unterschiedliche Möglichkeiten auf, Resilienz zu definieren. Denn bislang musste der Begriff als »Ein-Wort-Antwort« auf die Häufung von Krisen herhalten. Zugleich verdeutlicht das im Begriff enthaltene Erkenntnispotential, dass die künftige Forschung und Beratung nicht daran vorbeikommen wird, das Konzept resiliente Gesellschaft zu vertiefen, die vier Perspektiven zu verbinden und dabei Glück nicht mehr nur individuell, sondern immer stärker auch gesellschaftlich zu definieren.

Was kann die Österreichische Regierung tun?

Daraus ergeben sich folgende fünf Handlungsempfehlungen für die österreichische Regierung mit Blick auf Europa:

  1. Einführung des Konzepts »resiliente Gesellschaft« auf Führungsebenen der Regierung und der Beamtenschaft. Dabei sollte bewußt abteilungsübergreifend agiert werden und eine langfristige Auseinandersetzung mit vielen Praxisphasen im Vordergrund stehen. »Resiliente Gesellschaft« sollte als Diskussions- und Entwicklungsfeld verstanden werden, zu dem der Dialog beiträgt und das die Beteiligten aktiv mit definieren, nicht als bereits vorhandenes Wissen, das einfach weitergegeben wird.
  2. Thematisierung des Konzepts »resiliente Gesellschaft« auf interstaatlicher und europäischer Ebene, zum Beispiel im Austausch mit europäischen Behörden.
  3. Definition von Einzel-Anwendungsbereichen, so in den naheliegenden Bereichen Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik sowie Sicherheitspolitik und Makro-Strategie, aber auch in weniger naheliegenden Bereichen wie Europa- und Aussenpolitik, Wissenschaft und Universität, Erziehung oder Kultur und Kunst. Dabei wird sich zeigen, dass besonders in auf den ersten Blick nicht naheliegenden Bereichen der größte Mehrwert besteht und »resiliente Gesellschaft« die größte Wirkung entfaltet.
  4. Entwicklung von Erfahrungsberichten zu ausgewählten Bereichen österreichischer Erfahrung im Bereich »Resilienz«, Weitergabe an europäische Partner und koordinierter Austausch spezifischer »Resilienzerfahrungen« zwischen den europäischen Partnern. Ziel ist das Bauen an einem umfassenderen Resilienzbegriff und die Entwicklung eines pragmatischen Regierungsnetzwerks zwischen Europas Partnern, um Felderfahrung systematisch zu teilen.
  5. Einführung eines europäischen »Jahrs der Resilienz«.

Österreichs Politik kann mit dem »Resilienzbegriff« einen umfassenderen politischen Leitbegriff in die europäische Krisen- und Erneuerungsdebatte einführen, auf dessen Feld sie glaubwürdig ist: denn der »Resilienz«-Begriff umfasst »grün« und »nachhaltig«, überschreitet diese zugleich aber auch in eine größere, umfassendere Dimension der Entwicklungsantizipation hinein. Durch den »Resilienz«-Begriff kann Österreichs Diskussionsprofil auf europäischer Ebene geschärft werden, und Österreich kann eine Vorreiterrolle in Richtung »erfolgreiche Gesellschaften« einnehmen (»successful societies«, also in der Debatte, welche den heutigen anglo-amerikanischen Raum bestimmt).

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Benedikter, R., Fathi, K. P. (2012). Österreich und Europa müssen zu »resilienten Gesellschaften« werden: Ein neues Konzept der Zukunftssicherung in Krisenzeiten. Wien. ÖGfE Policy Brief, 03’2012

Karim P. Fathi

Karim P. Fathi ist Konfliktberater und beratend für die Organisation »Die Denkbank« Berlin tätig.

Roland Benedikter

Roland Benedikter ist Europäischer Stiftungsprofessor für Globale Entwicklung, Kontextuelle Politikanalyse und Politische Antizipation an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara und an der Stanford Universität, USA. Er ist Regierungsberater am führenden nicht-parteigebundenen US-Think Tank »Potomac Institute for Policy Studies« Washington DC.