„Noch ist Polen nicht verloren“, es ist aber völlig isoliert…

Handlungsempfehlungen

  1. Das von der Kommission Mitte Jänner 2016 gegen Polen eingeleitete Verfahren zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips sollte unbedingt zu Ende geführt werden.
  2. Konsequenterweise müsste die Kommission dann das Sanktionsverfahren gem. Art. 7 EUV einleiten, wenngleich die dafür notwendigen Mehrheiten im Stimmverhalten der Mitgliedstaaten schwer zu erreichen sein werden.
  3. Die Kommission muss umgehend dafür sorgen, dass Polen wieder aus seiner Isolation herausgeführt wird und seine Blockadehaltung aufgibt.

Zusammenfassung

Polen ist durch zwei Vorkommnisse in der EU in die Isolation geraten. Zum einen hat die Kommission wegen einer Reihe von Verstößen gegen rechtstaatliche Grundwerte gegen Polen erstmals in der Geschichte den „Neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ eingeleitet und zum anderen hat Polen, ebenfalls erstmalig, einen eigenen Landsmann bei der Besetzung eines hohen Postens in der EU massiv zu behindern versucht. Da es die, gegen seinen Willen erfolgte, Wiederwahl von Donald Tusk als Präsident des Europäischen Rates, nicht verhindern konnte, nahm Polen in der Folge eine strikte Obstruktionshaltung ein.
Das von der Kommission gegen Polen eingeleitete Verfahren zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips befindet sich gegenwärtig im Übergang von der zweiten in die dritte und letzte Phase und sollte dann in das Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV übergehen. Dafür sind aber sowohl im Rat als auch im Europäischen Rat massive Mehrheiten bzw. sogar Einstimmigkeit erforderlich, was gegen den Widerstand, vor allem der Visegrád-Staaten, schwer zu erreichen sein wird.

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„Noch ist Polen nicht verloren“, es ist aber völlig isoliert…

Mit den Worten „Noch ist Polen nicht verloren“ beginnt die polnische Nationalhymne. Unwillkürlich fühlt man sich an diesen geschichtsträchtigen Ausspruch erinnert, wenn man die letzten Eskapaden Polens unter seiner gegenwärtigen Regierung Revue passieren lässt, die dieses Land innerhalb der EU völlig isoliert haben.
Waren es zunächst grundsätzliche Abweichungen von rechtsstaatlichen Verbürgungen durch eine Reihe einschlägiger polnischer Gesetze, die erstmals zu einer Eröffnung des „Neuen EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ – auch „Vor Art. 7 EUV-Verfahren“ genannt – gegen Polen geführt haben, so war es zuletzt der singuläre Vorgang, dass sich ein mit überwältigender Mehrheit in das höchste Amt der EU gewählter Pole dabei mit einer einzigen Gegenstimme konfrontiert sah, die ausgerechnet aus seinem Heimatstaat Polen kam.
Offensichtlich handelt es sich dabei um Auswüchse eines innenpolitischen Paradigmenwechsels, der durch die nunmehrige stärkste Partei Polens, „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), hervorgerufen wurde, deren Parteivorsitzender, Jarosław Kaczyński, alles daransetzte, eine Wiederwahl von Donald Tusk als Präsident des Europäischen Rates zu verhindern. Diesen, politisch enorm brisanten, Vorgängen soll in der Folge kurz nachgegangen werden.

1. Der „Neue EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“

Zur Sicherung der „Verfassungsgrundsätze“ des Art. 2 EUV wurde durch den Vertrag von Amsterdam (1997) ein eigenes „ex post“ wirkendes Sanktionsverfahren eingeführt, dem – als Reaktion auf die am 4. Februar 2000 gegen Österreich verhängten „Sanktionen der Vierzehn“[1] – durch den Vertrag von Nizza (2001) ein „ex ante“ zum Einsatz kommendes „Frühwarnsystem“ vorangestellt wurde. Durch den Vertrag von Lissabon (2007) wurde das Sanktionsverfahren beinahe textident in Art. 7 EUV verankert und dreigliedrig ausgestaltet. Gem. Abs. 1 kann es zur Einleitung eines Frühwarnmechanismus, gem. Abs. 2 zur Feststellung, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte vorliegt, und gem. Abs. 3 zur Sanktion der Aussetzung von Mitgliedschaftsrechten – zB von Stimmrechten im Rat der EU – kommen, die allerdings gem. Abs. 4 wieder geändert oder aufgehoben werden können.

Das Sanktionsverfahren des Art. 7 Abs. 3 EUV kann aber bloß als „ultima ratio“ angesehen werden, stellt es politisch doch eine „Atombombe“ dar, die gegen einen Mitgliedstaat eigentlich nicht zum Einsatz kommen sollte.

Das Sanktionsverfahren des Art. 7 Abs. 3 EUV kann aber bloß als „ultima ratio“ angesehen werden, stellt es politisch doch eine „Atombombe“[2] dar, die gegen einen Mitgliedstaat eigentlich nicht zum Einsatz kommen sollte. Genau aufgrund dieser Überlegung kam es bisher noch nie zum Einsatz dieses Verfahrens, obwohl es bereits eine Reihe von mehr oder minder schweren Verstößen gegen den „Wertekanon“ des Art. 2 EUV[3] gegeben hat, wie zB in Frankreich im Jahre 2010, in Rumänien im Jahre 2012, vor allem aber in Ungarn, in dem die Regierungen Orbán I (1998-2002), Orbán II (2010-2014) und Orbán III (2014 ff.) immer wieder massive Verstöße gegen das Rechtsstaatsprinzip begingen,[4] die allerdings nur zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 AEUV[5], nicht aber von Sanktionsverfahren gem. Art. 7 EUV durch die Kommission geführt haben.
Aufgrund der Häufung der Verstöße gegen die Grundwerte des Art. 2 EUV sah sich die Kommission letztlich aber doch veranlasst, dem inoperativen Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV ein weniger rigides Verfahren vorzuschalten, das jedoch keine Vertragsänderung erfordern dürfte,[6] für die die notwendige Einstimmigkeit nicht zu erzielen gewesen wäre. Dementsprechend konzipierte die Kommission einen „Neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtstaatsprinzips[7] iSe mehrstufigen „Verfahrens vor Anwendung von Artikel 7“ („pre-article 7 procedure“),[8] der im Falle eines „systemischen Zusammenbruchs“ der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat zur Anwendung kommen kann und dreistufig ausgestaltet ist:

  • in einer ersten Stufe bewertet die Kommission den konkreten Sachstand der Verletzung des Rechtsstaatlichkeitsgebots und tritt danach mit der Regierung des betreffenden Mitgliedstaates in einen (vertraulichen) Dialog ein, wobei sie ihre Bedenken in einer „Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit“ formuliert;
  • kann im Rahmen dieses Dialogs das Rechtsstaatlichkeitsproblem nicht zufriedenstellend gelöst werden, dann richtet die Kommission in einer zweiten Stufe eine „Rechtsstaatlichkeitsempfehlung“ an den betreffenden Mitgliedstaat. Darin empfiehlt sie diesen die genannten Probleme innerhalb einer bestimmten Frist zu lösen und sie anschließend über die getroffenen Maßnahmen zu unterrichten. Diese Empfehlung wird von der Kommission veröffentlicht;
  • in der dritten Stufe überprüft die Kommission, ob die von ihr angeordneten Maßnahmen bis zum vorgegebenen Zeitpunkt entsprechend durchgeführt wurden. Sollte dies nicht der Fall sein, kann die Kommission den Sanktionsmechanismus des Art. 7 EUV einleiten.

2. Die Einleitung der zweiten Stufe des „Neuen EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ gegen Polen

Die Parlamentswahlen vom 25. Oktober 2015 in Polen führten zu einem Regierungswechsel, im Zuge dessen die bisherige rechtsliberale bzw. liberal-konservative Regierung unter Donald Tusk bzw. Ewa Kopacz durch eine rechtsnationale Regierung unter Ministerpräsidentin Beata Szydło ersetzt wurde. Zuvor war Donald Tusk, Chef einer im November 2007 gebildeten Koalitionsregierung, im September 2014 durch Ewa Kopacz als Regierungschefin abgelöst, und in der Folge am 1. Dezember 2014 zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt worden.
Damit regiert, seit dem Amtsantritt von Ministerpräsidentin Szydło am 16. November 2015, erstmals in der Geschichte der nach dem Mauerfall 1989 aus der sowjetisch dominierten „Volksrepublik Polen“ hervorgegangenen „Dritten Polnischen Republik“, eine von einer einzigen (rechtsnationalen) Partei, „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) genannt, getragene Regierung, der keine (linke) Oppositionspartei mehr angehört. Der „starke“ Mann im Hintergrund ist Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei PiS, die die Wahlen mit 36,7 Prozent gewonnen hat und in beiden Kammern des polnischen Parlaments (Sejm und Senat), über die absolute Mehrheit verfügt.
Sofort nach Amtsantritt der neuen polnischen Regierung kam es zur Verabschiedung einer Reihe administrativer und legislativer Rechtsakte, die vor allem die Ernennung von Richtern des Verfassungsgerichts, die Verkürzung des Mandats des Präsidenten und Vizepräsidenten desselben, die mangelnde Umsetzung einschlägiger Urteile sowie auch die Nichtveröffentlichung gewisser Urteile des Verfassungsgerichts betrafen. Am 22. Dezember 2015 verabschiedete das Sejm in einem beschleunigten Verfahren darüber hinaus ein Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Verfassungsgericht, das sich auf dessen Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit seiner Mitglieder massiv auswirkte.[9]
Aufgrund der dadurch verursachten mangelnden Wirksamkeit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle neuer Gesetze, konnte das Sejm in der Folge unkontrolliert eine Reihe weiterer Gesetze erlassen, die ebenfalls schweren rechtsstaatlichen Bedenken begegneten, wie zB ein Mediengesetz, ein neues Gesetz über den öffentlichen Dienst, ein Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes und anderer Gesetze sowie Gesetze über die Staatsanwaltschaft und ein neues Gesetz über den Bürgerbeauftragten, mit dem ebenfalls eine Reihe weiterer Gesetze geändert wurden. Dazu kamen noch ein Gesetz über den nationalen Medienrat und ein neues Gesetz zur Terrorismusbekämpfung.[10]
Dementsprechend leitete die Kommission am 13. Jänner 2016 erstmals die erste Stufe des „Neuen EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtstaatsprinzips“ gegen Polen ein und regte eine intensive Diskussion über die Rechtstaatlichkeit mit den polnischen Behörden an, die vom Ersten Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans, geleitet werden sollte. Die ersten Sitzungen fanden diesbezüglich am 5. April und 24. Mai 2016 in Warschau statt. In der Folge kam es zu einer Reihe weiterer Treffen, im Rahmen derer die rechtsstaatlichen Bedenken der Kommission aber nicht ausgeräumt werden konnten. Dementsprechend gab die Kommission am 1. Juni 2016 eine „Stellungnahme zur Lage der Rechtstaatlichkeit in Polen[11] ab, der am 27. Juli 2016 eine „Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit[12] folgte, mit der die Kommission die zweite Stufe des Verfahrens zur Sicherung der Rechtstaatlichkeit einleitete. In dieser Empfehlung legte die Kommission ihre Bedenken angesichts der dramatischen Verschlechterung der Kompetenzlage des Verfassungsgerichts dar und forderte Polen auf, diese innerhalb von drei Monaten zu beheben und der Kommission die dazu unternommenen Schritte anschließend mitzuteilen.
Die Reaktion der polnischen Regierung auf diese Empfehlung der Kommission war mehr als bezeichnend. So erklärte Innenminister Mariusz Błaszczak, dass die Kommission „offenbar die Lehren aus dem Brexit nicht gezogen habe“, womit er unmissverständlich auf einen möglichen Austritt Polens aus der EU anspielte. Außenminister Witold Waszczykowski wiederum legte Kommissionspräsident Juncker gar seinen Rücktritt nahe,[13] was einen schweren diplomatischen Affront darstellte. Ganz allgemein war sich Polen der Unterstützung der anderen drei Visegrád-Länder Slowakei, Tschechien und Ungarn sicher, die einen Einsatz des Sanktionsverfahrens des Art. 7 EUV wohl verhindern würden.
Da Polen keine Anstalten machte, die gerügte „systemische Verletzung der Rechtstaatlichkeit“ zurückzunehmen, sah sich die Kommission veranlasst, am 21. Dezember 2016 eine weitere „Empfehlung zur Rechtstaatlichkeit[14] an Polen zu richten, in der alle inkriminierten Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit detailliert aufgelistet wurden und Polen ein Zeitraum von 2 Monaten nach Erhalt der Empfehlung (Punkt 68) eingeräumt wurde, alle Probleme zu beheben und die Kommission anschließend zu unterrichten. Obwohl damit Polen den Vorgaben der Kommission nicht entsprochen hat, leitete diese nicht die dritte Stufe zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips ein und ging nicht zum Sanktionsverfahren des Art 7 EUV über.
[zitat inhalt=”Damit steht die Kommission aber vor einem beinahe unlösbaren Dilemma.”]
Damit steht die Kommission aber vor einem beinahe unlösbaren Dilemma: gibt sie nach, verliert sie ihre Glaubwürdigkeit als effektives Aufsichtsorgan im Falle „systemischer“ Fehlentwicklungen im Bereich der Rechtstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat. Geht sie aber zur dritten Stufe des „Neuen EU-Rahmens zur Stärkung des Rechtstaatsprinzips“ über und leitet konsequenterweise das Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV ein, muss sie gewärtigen, dass sie die gem. Art. 7 Abs. 2 EUV notwendige einstimmige Feststellung des Europäischen Rates, nicht garantieren kann. So hat zB Ungarn bereits angekündigt, diesbezüglich seine Zustimmung zu verweigern.[15]
Damit bleibt lediglich die Einleitung des „Frühwarnsystems“ des Art. 7 Abs. 1 EUV übrig, in dem es aber auch nur dann zur Feststellung des Rates, „dass eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte vorliegt“, kommen kann, wenn in ihm dafür eine vier Fünftel-Mehrheit besteht, deren Erreichung ebenfalls mehr als fraglich ist. Damit würde sich aber Art. 7 EUV auch bei seiner ersten praktischen Anwendung als inoperativ herausstellen.

3. Die Gegenstimme Polens gegen die Wiederwahl von Donald Tusk zum Präsidenten des Europäischen Rates

Da das Mandat des amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates, Donald Tusk, Ende Mai 2017 ausläuft, wurde für die Tagung des Europäischen Rates am 9. März in La Valetta/Malta als einer der Tagesordnungspunkte auch die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates für die nächste, zweieinhalbjährige Amtsperiode, vorgesehen. Dabei galt es als sicher, dass der Pole Donald Tusk, der sein Amt bisher zur vollen Zufriedenheit der überwältigenden Mehrheit der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten ausgeübt hatte, wiedergewählt werden würde.
Im Vorfeld dieser Wahl opponierte die polnische Regierung aber vehement gegen ihren eigenen Landsmann Tusk und warf ihm unter anderem vor, sein Amt in Brüssel missbraucht und sich in den innenpolitischen Konflikt in Polen eingemischt zu haben. Wenige Tage vor der Wahl im Europäischen Rat schlug die polnische Regierung mit dem polnischen Europaabgeordneten Jacek Saryusz-Wolski noch einen Gegenkandidaten vor, der aber nach Ansicht Vieler nicht über die entsprechende (informelle) Qualifikation eines (Ex-)Regierungschefs verfügte.[16]
Da der Europäische Rat normalerweise im „Konsensus“-Verfahren entscheidet[17], glaubte die polnische Regierung durch eine Obstruktionspolitik die anderen Mitglieder des Europäischen Rates „erpressen“[18] zu können. Aber weder die Vetodrohung, noch die Drohung mit einer Verschiebung der Abstimmung beeindruckten Maltas Regierungschef Joseph Muscat, der als amtierender Ratsvorsitzender die Wahl leitete und diesbezüglich unmissverständlich erklärte: „Es gibt klare Regeln, die ich befolgen werde. Die Entscheidung wird heute getroffen“.[19] Damit verwarf er zum einen den Verschiebungswunsch Polens und wies zum anderen auf Art. 15 Abs. 5 EUV hin, der für die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates eben kein „Konsensus-Verfahren“ sondern eine formelle Abstimmung im Europäischen Rat, und zwar mit (bloß) qualifizierter Mehrheit, vorsieht.
So kam es am 9. März 2017 zur (Wieder)Wahl von Donald Tusk als Präsident des Europäischen Rates für eine zweite Amtszeit von zweieinhalb Jahren – für den Zeitraum vom 1. Juni 2017 bis zum 30. November 2019 – die mit 27 Stimmen, gegen die Stimme Polens, erfolgte.[20]
Was waren aber nun die wirklichen Motive für die schlecht vorbereitete und dilettantisch durchgeführte Kampagne gegen Tusk? Derer gibt es einige: Ein Beweggrund liegt in der alten persönlichen Fehde zwischen dem nationalkonservativen Kaczyński und dem liberalkonservativen Donald Tusk. Beide entstammen der Gewerkschaft Solidarność, die an der Wende 1989 in Europa entscheidenden Anteil hatte. Heute gehören die beiden Politiker aber rivalisierenden Parteien an. Auch hat Kaczyński bis heute offensichtlich seine Wahlniederlage gegen Tusk im Jahr 2007 noch immer nicht überwunden. Zudem macht Jarosław Kaczyński, ohne dafür über entsprechende Beweise zu verfügen, Tusk für den Tod seines Zwillingsbruders Lech bei einem Flugzeugabsturz nahe Smolensk im Jahr 2010 verantwortlich.[21] Unausgesprochen steht aber auch die Überlegung einer neuerlichen Rivalität beider Politiker im Raum: Die Amtszeit von Tusk als Präsident des Europäischen Rates endet am 30. November 2019. Im selben Jahr finden in Polen Parlamentswahlen statt, sodass Tusk mit seinem bis dahin weiter gestiegenem Prestige als „Staatsmann von Weltrang“[22] nach Polen zurückkehren und gegen Kaczyński kandidieren könnte, was dieser eben mit allen Mitteln zu verhindern sucht.

4. Schlussbetrachtungen

Nachdem sich die Kommission hinsichtlich der in Ungarn seit Jahren unter den Regierungen Orbán I, II und III vorgekommenen systematischen Beeinträchtigungen des Rechtsstaatsprinzips – trotz mehrfacher Aufforderungen durch den Rat und das Europäische Parlament – lange Zeit nicht entschließen konnte, das „Frühwarnsystem“ des Art. 7 Abs. 1 EUV einzuleiten, legte sie schließlich Mitte März 2014 ein neues Instrument zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips vor. Mit diesem „Neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ soll dem „harten“ Sanktionsverfahren des Art. 7 EUV ein „weiches“ Dialogverfahren vorgeschaltet werden, das als politisches „Güteverfahren“ angelegt ist und dem betroffenen Mitgliedstaat die Rücknahme seiner rechtsstaatswidrigen Handlungen ohne größeren Gesichtsverlust ermöglichen soll.
Neben der Kommission hat aber auch der Rat auf die anstehenden Herausforderungen entsprechend reagiert, und auf seiner Tagung am 16. Dezember 2014 Schlussfolgerungen des Rates der EU (Allgemeine Angelegenheiten) und der im Rat vereinigten Mitgliedstaaten über die Gewährleistung der Achtung der Rechtsstaatlichkeit[23] verabschiedet, in denen sich sowohl er als auch die Mitgliedstaaten zur Abhaltung eines jährlichen Dialogs zwischen allen Mitgliedstaaten im Rat mit dem Ziel verpflichten, die Rechtsstaatlichkeit im Rahmen der Verträge zu wahren und zu fördern. Dieser Dialog und Gedankenaustausch findet, nach entsprechender Vorbereitung durch den Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER)[24], im Rat (Allgemeine Angelegenheiten) statt und stellt – im Gegensatz zum „Neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ der Kommission – einen „allgemeinen Dialog“ über die Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit und nicht eine Diskussion einzelner mitgliedstaatlicher Problemfälle dar.
Aber auch das Europäische Parlament schaltete sich in die Rechtsstaatlichkeitsdebatte ein und legte am 10. Oktober 2016 den Entwurf eines Berichts sowie Entschließungsantrags mit Empfehlungen an die Kommission zur Einrichtung eines EU-Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechte[25] vor, in dem es die Kommission auffordert, bis zum September 2017 – auf der Grundlage von Art. 295 AEUV – einen dahingehenden Vorschlag in Form einer „Interinstitutionellen Vereinbarung“ (IIV) vorzulegen.
All diese begrüßenswerten Aktivitäten der drei Hauptorgane der EU zum Schutz und zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips sind nun durch das Verhalten Polens in ihrer Glaubwürdigkeit und Effektivität massiv in Mitleidenschaft gezogen worden. Sowohl die Diktion als auch der Inhalt des letzten Rechtfertigungsschreiben Polens in Bezug auf seine rechtsstaatlichen Verfehlungen weisen eindeutig darauf hin, dass es keinesfalls gewillt ist, den Vorgaben der Kommission nachzukommen, sodass dieser an sich nichts anderes übrig bleiben würde, als das Sanktionsverfahren gem. Art. 7 EUV einzuleiten. Trotzdem nahm die Kommission bisher davon Abstand, da sie nicht sicher ist, die dafür erforderlichen Mehrheiten unter den Mitgliedstaaten zu erreichen, was einem weiteren schweren Rückschlag für die Sicherung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips in der EU gleichkommt.

[1] Siehe dazu Hummer, W. Das Ende der „EU-Sanktionen“ gegen Österreich – Präjudiz für ein neues Sanktionsverfahren?, The European Legal Forum 2-2000/01, S. 77 ff.; Hummer, W. Die „Maßnahmen“ der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegen die österreichische Bundesregierung – Die „EU-Sanktionen“ aus juristischer Sicht, in: Hummer, W. – Pelinka, A. Österreich unter „EU-Quarantäne“. Die „Maßnahmen der 14“ gegen die österreichische Bundesregierung aus politikwissenschaftlicher und juristischer Sicht (2002), S. 50 ff.
[2] In seiner „State of the Union address 2013“ vor dem EP am 11. September 2013 sprach Kommissionspräsident José Manuel Barroso von der „nuclear bomb of article 7“; Speech/13/684.
[3] Hummer, W. Die gemeinsame Wertebasis in der EU – Vertikales und horizontales „Kongruenz- und Homogenitätsgebot“, in: Pichler, J. W. (Hrsg.), Rechtswertestiftung und Rechtswertebewahrung in Europa, (2015), S. 65 ff.
[4] Vgl. Hummer, W. Fazit der ungarischen „EU-Ratspräsidentschaft“: Zu kurze Elle oder zweierlei Maß?, Europäische Rundschau 3/2011, S. 49 ff.; Hummer, W. Ungarn erneut am Prüfstand der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wird Ungarn dieses Mal zum Anlassfall des neu konzipierten „Vor Artikel 7 EUV“-Verfahrens?, Europarecht 5-2015, S. 625 ff.
[5] EuGH, Rs. C-286/12, Kommission/Ungarn, Urteil vom 6. November 2012 (ECLI:EU:C:2012:687).
[6] Laut einem Gutachten des Rechtsdienst des Rates vom 27. Mai 2014 (Dok. 10296/14, nicht veröffentlicht) handelt es sich dabei um eine Vertragsänderung iSe Überschreitung des „Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung“; vgl. Kochenov, D.-Pech, L. Upholding the Rule of Law in the EU: On the Commission’s „Pre-article 7 procedure“ as a timid Step in the Right Direction, European Issues No. 356, 12th May 2015, S. 8 f.
[7] COM(2014) 158 final/2, vom 11. März 2014; 7632/1/14 REV 1; 7632/14 ADD 1.
[8] Statement von Kommissarin Viviane Reding, „A new Rule of Law initiative“, Speech/14/202, vom 11. März 2014, S. 1.
[9] Siehe dazu Hummer, W. Versetzt Polen dem „Weimarer Dreieck“ den Todesstoß? Konsequenzen der Einleitung eines „Vor Artikel 7-Verfahrens“ gegen Polen, Europäische Rundschau 2016/1, S. 41 ff.
[10] C(2016) 5703, S. 4, 13, 20; vgl. dazu Hummer, W. Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in Polen, EU-Infothek vom 2. August 2016, S. 4 f.
[11] http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2015_en.htm.
[12] Empfehlung (EU) 2016/1374 der Kommission; ABl. 2016, L 217, S. 53 ff.
[13] Interviewaussage von Jean-Claude Juncker in: Kopeinig, M. „Der Rechtsstaat ist lädiert“, Kurier vom 30. Juli 2016, S. 7.
[14] Empfehlung (EU) 2017/146 der Kommission; ABl. 2017, L 22, S. 65 ff.
[15] Becker, M. Brüsseler Kommissarin droht Osteuropäern mit Geldentzug, SPIEGELOnline, vom 7. März 2017.
[16] Merkel reagiert auf Polens Blockade-Drohung, handelsblatt.com, vom 9. März 2017.
[17] Dabei handelt es sich nicht um einen „Konsens“ iSe formellen Zustimmung aller Mitglieder, sondern lediglich um die Feststellung der bloßen Absenz einer Gegenstimme durch den Präsidenten. Insoferne ist die Formulierung von Art. 15 Abs. 4 EUV missverständlich.
[18] von Marschall, C. Gut, dass Europa den Konflikten nicht mehr ausweicht, tagesspiegel.de, vom 10. März 2017.
[19] Becker, M. Kaczynski riskiert Polens Isolation, spiegel.de, vom 9. März 2017.
[20] Schlussfolgerungen des Präsidenten des Europäischen Rates, vom 9. März 2017, Pkte. 15 und 16.
Der Europäische Rat nahm auch den Beschluss der Staats- und Regierungschefs der Vertragsparteien des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS) (2012), zur Wiederernennung von Donald Tusk als Präsident des „Euro-Gipfels“ für denselben Zeitraum, zur Kenntnis.
[21] Ulrich, S. Europa braucht ein starkes Polen, Süddeutsche.de vom 10. März 2017
[22] Laczynski, M. Polen blamiert sich mit Komplott gegen Donald Tusk, DiePresse.com vom 8. März 2017.
[23] Rat Dok. 17014/14; Council Press Release 16936/14, PRESSE 652, S. 20 f.
[24] Vgl. dazu die Übermittlung der Diskussionspapiere vom Rats-Vorsitz an den COREPER (Rat Dok. 13744/15 vom 9. November 2014), zur Vorbereitung der ersten einschlägigen Ratstagung am 17. November 2015 bzw denselben Vorgang zur Vorbereitung der zweiten einschlägigen Ratstagung am 24. Mai 2016 (Rat Dok. 8774/16, vom 13. Mai 2016).
[25] PE 576.988v02-00; A8-0283/2016.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Hummer, W. (2017). „Noch ist Polen nicht verloren“, es ist aber völlig isoliert… Wien. ÖGfE Policy Brief, 08’2017

Univ.-Prof. DDDr. Waldemar Hummer

Univ.-Prof. DDDr. Waldemar Hummer ist emeritierter Professor für Europarecht und Völkerrecht am gleichnamigen Institut der Universität Innsbruck.