Neutralität und der österreichische Beitrag zur EU-Sicherheitspolitik

Handlungsempfehlungen

  1. Bei der Neutralität sollte der Unterschied zwischen ihrer politischen und ihrer rechtlichen Dimension immer bedacht werden. Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik spielt sie rechtlich nur eine geringe Rolle, politisch tragen neutrale Staaten in Kriegen eine besondere Verantwortung.
  2. Die Auswirkungen des EU-Beitritts und die allgemein gewandelte Bedeutung der Neutralität sind weiten Teilen der Bevölkerung nach wie vor nicht bewusst. Künftige Sicherheitsstrategien sollten eindeutig festlegen, ob Österreich sich als neutral oder bloß als bündnisfrei definiert.
  3. Neutralität und Solidarität sind kein Widerspruch. Österreich kann mit finanziellen Mitteln für internationale Organisationen oder durch das Bereitstellen von Räumlichkeiten für Verhandlungen sicherheitspolitische Beiträge leisten. Außerdem steht die Neutralität der Beteiligung an UN- oder EU-Einsätzen nicht im Weg. Im europäischen Kontext sollte Neutralität nicht auf sicherheitspolitisches „Trittbrettfahrertum“ hinauslaufen – im Gegenteil, Staaten wie Österreich können sind Bestandteile der europäischen Sicherheitsarchitektur.

Zusammenfassung

Russlands offensichtlich völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine hat die praktischen Auswirkungen des EU-Beitritts auf die Neutralität neuerlich offengelegt: Österreich trägt die EU-Sanktionen mit und hat sich beispielsweise bei der Finanzierung von Waffenlieferungen an die Ukraine zwar konstruktiv enthalten, erlaubt aber deren Transporte durch österreichisches Staatsgebiet. Verfassungsrechtlich liegt hier kein Problem vor, völkerrechtlich stößt der Status als neutrales Land in der Staatengemeinschaft nur auf wenig bis kein Interesse. Allgemein ist er damit kein Hindernis bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die österreichische Zurückhaltung bei militärischen Unterstützungsleistungen hat primär politische Gründe.

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Neutralität und der österreichische Beitrag zur EU-Sicherheitspolitik

Grundlagen der Neutralität

Im allgemeinsten Sinne bedeutet Neutralität die Nichteinmischung in zwischenstaatlichen Kriegen. Darunter fallen sowohl die Entsendung von Soldat*innen des Bundesheeres zur Unterstützung von Konfliktparteien als auch Waffenlieferungen oder Truppenverlegungen fremder Streitkräfte durch österreichisches Staatsgebiet.

Österreichs „immerwährende Neutralität“ ist insofern ein Sonderfall, als sie nicht nur ad hoc, also anlassbezogen gilt, sondern auch für zukünftige Kriege. Konkret verlangt das Neutralitätsgesetz eine aktive und zwei passive Maßnahmen:

  • die Aufrechterhaltung und Verteidigung der Neutralität,
  • das Fernbleiben von militärischen Bündnissen sowie
  • das Verbot von Militärbasen auf österreichischem Staatsgebiet.

Damit beschränkt sie sich auf einen militärischen Kern (Franz Cede, ehemaliger Leiter des Völkerrechtsbüros, bezeichnete dies als „Avocado-Doktrin“[1]). Wirtschaftliche Maßnahmen sind indes kein Problem, bei der Beteiligung an Sanktionen der Vereinten Nationen oder auch (nur) der Europäischen Union (EU) bestehen keine wie auch immer gearteten neutralitätsrechtlichen Einwände.[2]

Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Dabei muss man politische von rechtlichen Fragen trennen. So gilt es einmal mehr festzuhalten, dass Österreich zu keinem Zeitpunkt „gesinnungsneutral“ war, ideologisch hat es sich schon früh und eindeutig zum „Westen“ und damit zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder der Bewahrung der Menschenrechte bekannt. Außerdem kann jedes neutrale Land nach Belieben andere Staaten kritisieren – Österreich etwa bereits beim Ungarnaufstand 1956 – und in Kriegen Stellung beziehen: Neutralität verlangt keine rhetorische Äquidistanz zwischen Aggressoren und angegriffenen Staaten.

Außerdem hat sich die (welt)politische Lage seit Verabschiedung des Bundesverfassungsgesetzes über die immerwährende Neutralität am wohlfeil bekannten 26. Oktober 1955 maßgeblich verändert, allen voran durch den Beitritt zur EU.

Neutralität verlangt keine rhetorische Äquidistanz zwischen Aggressoren und angegriffenen Staaten.

Etwaige diplomatische Sonderwege als Ausdruck „aktiver Neutralitätspolitik“ sind zwar grundsätzlich möglich, sollten aber mit den übrigen EU-Ländern abgestimmt werden. Der Vertrag von Lissabon hat den Hohen Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik geschaffen, um der EU eine gemeinsame Stimme zu geben. Die zentrale außenpolitische Achillesferse – das Einstimmigkeitserfordernis bei der Beschlussfassung – besteht allerdings weiter fort. Fremde Staaten und Machtblöcke können widersprüchliche Interessen innerhalb der EU daher nutzen, um die gemeinsame Position und damit die EU insgesamt zu schwächen. Je geschlossener das Auftreten, desto höher das außenpolitische Gewicht.

Die zentrale außenpolitische Achillesferse – das Einstimmigkeitserfordernis bei der Beschlussfassung – besteht allerdings weiter fort.

Aus rechtlicher Sicht bleibt von der Neutralität indes „herzlich wenig“ übrig, sobald die EU im Rahmen der der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) handelt.[3] So sind EU-Sanktionen von Österreich vollinhaltlich umzusetzen. Ebenso ist die Beteiligung an den „Petersberger Aufgaben“, insbesondere friedenserhaltende Aufgaben und Kampfeinsätze, problemlos möglich. Mit dem nunmehrigen Artikel 23j Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) wurde dazu eine eigene verfassungsrechtliche Grundlage geschaffen, die dem Neutralitätsgesetz in Bezug auf die GASP derogiert, es also überlagert.

Aus rechtlicher Sicht bleibt von der Neutralität indes „herzlich wenig“ übrig, sobald die EU im Rahmen der der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) handelt.

Als Teil der GASP verankern Artikel 42 bis 46 Vertrag über die Europäische Union (EUV) außerdem die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Deren Kernziel ist die „Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit“ und, damit einhergehend, die weitere militärische Integration der gemeinsamen Verteidigung.

Artikel 42 trägt der überlappenden Mitgliedschaft von aktuell 21 EU-Staaten bei der NATO (mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens 23) damit Rechnung, dass die jeweiligen Verpflichtungen einander ergänzen und nicht widersprechen sollen. So beinhaltet die NATO keine Mechanismen für gemeinsame Sanktionen, während die EU kein mit ihr vergleichbares Militärbündnis darstellt, da sie ungeachtet der gemeinsamen EU-Kommandostrukturen keine zentralen und dauerhaften Operational Headquarters hat.

In der Literatur gab und gibt es dennoch gewichtige Stimmen, die in der EU ein Verteidigungsbündnis sehen. Daraus folge ein eklatanter Widerspruch zum Neutralitätsgesetz, der im Rahmen einer Verfassungsänderung ausgeräumt werden sollte.[4] Selbst wenn man dagegen einwendet, dass es sich bei der EU um eine neutralitätsrechtlich unproblematische – weil nach innen gewandte – „Verteidigungsgemeinschaft“ handelt,[5] folgt daraus immer noch ein Widerspruch zu der Verpflichtung, während Friedenszeiten von Maßnahmen abzusehen, die im Kriegsfall den Status als neutrales Land verunmöglichen.

Die folgenden Unterabschnitte beurteilen daher

  • die aktive Beteiligung an einer (formell) völkerrechtswidrigen Militäroperation,
  • die Folgen eines Angriffs auf ein EU-Mitglied sowie
  • die EU-weite Unterstützung eines Nicht-EU-Mitglieds.

Neutralität und „humanitäre Interventionen“ der EU

Obwohl erstere Fallkonstellation gewiss eine Ausnahmesituation darstellen würde, ist sie nicht völlig hypothetisch: Die „humanitäre Intervention“ der NATO (North Atlantic Treaty Organization, Nordatlantikpakt) gegen Serbien im März 1999 galt aufgrund der serbischen Menschenrechtsverletzungen im Kosovo zwar als „legitim“.[6] Formal gesehen war sie allerdings eindeutig völkerrechtswidrig, weil sie weder durch das Recht auf Selbstverteidigung noch durch eine Autorisierung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen (United Nations/UN) gerechtfertigt war.[7]

Da es sich ungeachtet der konkreten Bezeichnung faktisch um einen Krieg im Sinne des Neutralitätsrechts – eine direkte Konfrontation der Streitkräfte zweier oder mehrerer Staaten[8] – handelte, durfte Österreich die NATO und ihre Mitglieder in keiner Weise unterstützen und insbesondere keine Flüge über österreichisches Staatsgebiet zulassen. Allerdings hatte die NATO dennoch mehrfach österreichischen Luftraum verletzt – die damalige Regierung hat daraufhin protestiert, ohne weitere Maßnahmen zu setzen (also insbesondere den Luftraum zu sichern).[9]

Sollte die EU sich in Zukunft zu einer ähnlichen Maßnahme veranlasst sehen, müsste Österreich aus Sicht des Völkerrechts grundsätzlich ähnlich handeln. Das liegt allerdings weniger an der Neutralität als am allgemeinen Gewaltverbot. Dieses stellt schließlich einen Eckpfeiler der der UN-Charta dar und hält sämtliche Staaten – unabhängig von ihrem Status – dazu an, Völkerrechtsverletzung nicht passiv zu unterstützen oder sich aktiv an ihnen zu beteiligen.

Gleichzeitig würde es dem Geist der GSVP und der GASP widersprechen, wenn die zuständigen Minister*innen in einer derartigen Situation Überflüge von Kampfjets oder Waffen- und Truppentransporte durch österreichisches Staatsgebiet verbieten oder gar aktiv verhindern würden. Daher wurde 2002 im Hinblick auf die Kosovo-Intervention ein eigener Passus im Kriegsmaterialgesetz (§ 3 Abs. 1 Z 4) eingefügt, der Bewilligungserteilungen für den Export, Import oder Transit von Kriegsmaterial vorsieht, wenn „im Rahmen einer internationalen Organisation“ – also nicht zwingend durch die Vereinten Nationen, sondern auch durch die NATO oder eben die EU – „Maßnahmen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe oder zur Unterbindung schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen“ ergriffen werden. Am potenziellen Widerspruch zwischen europäischer Solidarität und völkerrechtlichen Verpflichtungen ändert das freilich nichts.

Beistandspflicht und Neutralität

Als Teil der GSVP beinhaltet Artikel 42(7) EUV außerdem eine eigene Verpflichtung für alle EU-Mitglieder, im Falle eines Angriffs auf einen von ihnen „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“ zukommen zu lassen. Im Falle militärisch mächtigerer EU-Mitglieder lässt sich daraus eine Verpflichtung zu militärischem Beistand ableiten. Diese Bestimmung geht damit über Artikel 5 des Nordatlantikvertrags hinaus, der lediglich von „Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt“ spricht, die jedes NATO-Mitglied „für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten“.[10] Damit haben die einzelnen NATO-Mitglieder – wohlgemerkt inklusive der USA, die keine allzu robuste Verpflichtung zum Schutz (europäischer) Staaten wollten und wollen – einen rechtlich durchaus weiten Ermessensspielraum und können von militärischer Unterstützung absehen.

Österreich ist – formalrechtlich – allerdings in jedem Fall von einer rechtlichen Verpflichtung ausgenommen, andere Staaten durch Kriegsgerät oder gar die Entsendung eigener Soldat*innen zu unterstützen. Der allgemeine Verweis auf die Besonderheiten der Verteidigungspolitik eigener EU-Mitglieder wird bei der Beistandsklausel noch einmal wiederholt (die sogenannte Irische Klausel – Irland hatte auf ihre Aufnahme gedrängt). Damit kann Österreich mit Verweis auf die immerwährende Neutralität von jedweder militärischerer Hilfe absehen. Sofern ein letzter Rest der strengen völkerrechtlichen Neutralität den EU-Beitritt und die Entwicklung der GASP/GSVP überlebt hat, kann hier sogar eine Verpflichtung zu militärischer Passivität bestehen – damit bestünde jedoch einmal mehr ein eklatanter Widerspruch zur innerhalb der EUgeschuldeten Solidarität.

Österreich ist – formalrechtlich – allerdings in jedem Fall von einer rechtlichen Verpflichtung ausgenommen, andere Staaten durch Kriegsgerät oder gar die Entsendung eigener Soldat*innen zu unterstützen.

Dies umso mehr, als nicht-neutrale Staaten ihrerseits Österreich im Falle eines Falles zur Hilfe kommen müssten (allenfalls, wie oben beschrieben, auch durch ihre eigenen Soldat*innen oder zumindest die Lieferung von Kriegsgerät). Österreich ist insofern durch die EU geschützt, ohne sich gleichermaßen an der Verteidigung anderer EU-Mitglieder zu beteiligen. Aus dieser Verpflichtungsasymmetrie folgt der Vorwurf des sicherheitspolitischen „Trittbrettfahrers“- oder gar „Schmarotzertums“.

Dabei muss man allerdings differenzieren. Österreich kann sich schon aus politischen und strategischen Gründen nicht völlig heraushalten: Wer (im Ernstfall) etwas will (militärischen Beistand), muss bereit sein, etwas zu geben.[11] Auch kleine und weniger schlagkräftige Länder können in solchen Fällen auf neutralitätsrechtlich völlig unproblematische Art und Weise ihren Beitrag leisten: von finanziellen Mitteln über die Aufnahme von Flüchtlingen bis hin zur Entsendung von humanitären/medizinischen Gütern und Gesundheitspersonal und damit der Aufrechterhaltung einer verteidigungsfähigen Armee.

Österreich kann sich schon aus politischen und strategischen Gründen nicht völlig heraushalten: Wer (im Ernstfall) etwas will (militärischen Beistand), muss bereit sein, etwas zu geben.

Daneben besteht auch die Möglichkeit, ein angegriffenes EU-Mitglied durch indirekte militärische Unterstützung zu entlasten, insbesondere durch die Entsendung österreichischer Soldat*innen in (völkerrechtskonforme) Auslandsmissionen, damit dieses seine eigenen Truppen zur Verteidigung einsetzen kann. So hat Österreich nach der französischen Ausrufung des Beistandsfalls aufgrund der Anschläge des „Islamischen Staats“ im November 2015 angekündigt, sich an der maritimen Mission EUNAVFOR MED „Sophia“ zu beteiligen,[12] eine Hercules-Maschine für Lufttransporte im Rahmen der UN-Mission in Mali (die United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali, kurz MINUSMA) bereitgestellt, 15 Soldat*innen dorthin entsandt und das österreichische Kontingent bei der Ausbildungsmission der EU in Mali (European Union Training Mission Mali, kurz EUTM Mali) vergrößert.[13] Frankreich selbst hatte im Vorfeld um eine derartige Entlastung gebeten, um sich verstärkt dem Kampf gegen den „Islamischen Staat“ widmen zu können.

Außerdem kann Österreich trotz der fehlenden Verpflichtung zu direkten militärischen Hilfeleistungen bei Vorliegen eines entsprechenden Ratsbeschlusses – freiwillig – tätig werden. Die Beistandsklausel beruht, analog zur NATO, schließlich auf dem Gedanken, dass ein Angriff auf ein EU-Mitglied einen Angriff auf alle EU-Mitglieder bzw. die EU als Ganzes darstellt. Mit ein wenig Argumentationsakrobatik könnte man daher sogar zu dem Schluss gelangen, dass EU-Mitglieder sich in einem derartigen Fall allesamt selbst verteidigen.[14] Damit wären auch die letzten neutralitätsrechtlichen Bedenken gegen militärischen Beistand ausgeräumt.

Außerdem kann Österreich trotz der fehlenden Verpflichtung zu direkten militärischen Hilfeleistungen bei Vorliegen eines entsprechenden Ratsbeschlusses – freiwillig – tätig werden.

Die eigentlich entscheidende Frage ist freilich, ob eine derartige Unterstützung durch Österreich im Ernstfall überhaupt sonderlich effektiv und damit gewünscht wäre. Österreich soll keine Solidaritätsverpflichtungen umgehen, indem es gar nicht erst die dazu erforderliche militärische Schlagkraft aufbaut und erhält. Vielmehr folgt aus der Neutralität eine – allen voran verfassungsrechtlich gebotene[15] – Verpflichtung zur umfassenden Landesverteidigung.

Unterstützung nach außen

Wie die europäische Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt, wurde die Neutralität durch die GASP und die GSVP auch nach außen hin stark verändert. Das betrifft sowohl Waffentransporte durch österreichisches Gebiet als auch die gemeinsame Finanzierung von Kampfmitteln für die Ukraine.

Wie die europäische Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt, wurde die Neutralität durch die GASP und die GSVP auch nach außen hin stark verändert.

Traditionell dürfen neutrale Staaten weder selbst Waffen an Kriegsparteien liefern noch ihr Gebiet dafür zur Verfügung stellen.[16] Das gilt entgegen der ursprünglichen Bestimmungen im V.[17] und XIII. Haager Abkommen 1907[18] auch für Exporte durch private Unternehmen.[19] Ebenso verletzt die massive finanzielle Unterstützung zum Ankauf von Waffen die neutralitätsrechtliche Enthaltungspflicht.[20] Wohlgemerkt werden Staaten dadurch allerdings nicht zu „Mitkriegführenden“ – dazu braucht es ein höheres Maß an direkter Beteiligung an kriegerischen Handlungen.[21] Weder Kenntnis über die Verwendung von Geldern noch direkte Waffenlieferungen reichen dafür aus.[22]

Unabhängig davon gibt es stets Raum für kreative Sonderwege. So hat sich Österreich beim Beschluss zur Finanzierung tödlicher Kampfmittel für die Ukraine konstruktiv enthalten. Der österreichische Anteil an der „Europäischen Friedensfazilität“ soll daher nicht für die Beschaffung von Waffen verwendet werden, sondern für zivile Zwecke wie den Wiederaufbau.[23] Dabei handelte es sich allerdings einmal mehr um eine politische Entscheidung: Auf EU-Ebene tritt die Neutralität wie gesagt hinter die GASP zurück. Man darf sich fragen, ob Österreich auf Grundlage eines Ratsbeschlusses Waffen für Kriegsparteien mitfinanzieren oder selbst exportieren dürfte.

Österreich vertritt allerdings weiterhin die „klassische“ Neutralität, die nicht zwischen angegriffenen und sich verteidigenden Staaten unterscheidet, sondern allein auf das Factum eines zwischenstaatlichen Krieges abstellt.

Darüber hinaus sei nicht unerwähnt, dass es auch weniger strenge Zugänge zu Neutralität gibt. So ist seit dem Zweiten Weltkrieg ein qualifiziertes Neutralitätsverständnis entstanden, das Waffenlieferungen (nur) an angegriffene Staaten erlaubt.[24] Dies umso mehr, als hier ein eindeutig völkerrechtswidriger Angriff vorliegt, bei dem kollektive Maßnahmen des Sicherheitsrats durch den Aggressor selbst verhindert wurden.[25] Österreich vertritt allerdings weiterhin die „klassische“ Neutralität, die nicht zwischen angegriffenen und sich verteidigenden Staaten unterscheidet, sondern allein auf das Factum eines zwischenstaatlichen Krieges abstellt.

Obwohl Bundeskanzler Karl Nehammer unter Verweis auf das Neutralitätsgesetz direkte Waffenlieferungen von Anfang an explizit ausgeschlossen hat, dient Österreich als Transitland für derartige Transporte.[26] Hier wird zum einen betont, dass diese Waffen nicht direkt über österreichischen Luftraum in die Ukraine gebracht werden. Andererseits besteht hier ohnehin ein Ratsbeschluss und damit eine europarechtliche Grundlage – womit die Neutralität einmal mehr hinter die GASP/GSVP zurücktritt.

Schlussbemerkungen

Neutrale Staaten können auf vielfache Art und Weise einen Beitrag zur globalen Sicherheit leisten, ohne mit ihren außenpolitischen Traditionen brechen zu müssen: Die Beteiligung an UN-Sanktionen ist ebenso unproblematisch wie die seit den 1960er Jahren bestehenden Entsendungen österreichischen Personals zu UN-Friedensmissionen, zu denen in jüngerer Vergangenheit die Beteiligung an EU-Einsätzen hinzugetreten ist.[27] Solange ein UN-Mandat vorliegt, liegt schließlich kein Krieg im Sinne des Neutralitätsgesetzes vor. Wie der Golfkrieg 1990/91 gezeigt hat, sind in solchen Fällen beispielsweise Überflüge zu Kampfeinsätzen möglich, theoretisch könnte Österreich sogar selbst Truppen entsenden.

Daneben besteht für neutrale Staaten freilich die Möglichkeit, humanitäre und finanzielle Hilfe zu leisten, allen voran durch die Unterstützung einschlägiger internationaler Organisationen und sonstiger Initiativen. Hier fallen die im Vergleich zu  lange bündnisfreien Staaten wie Finnland oder Schweden äußerst geringen österreichischen Zahlungen an das Welternährungsprogramm, die UN-Flüchtlingshilfe oder die Weltgesundheitsorganisation ins Auge.[28] Auch bei der finanziellen Unterstützung der Ukraine hat Österreich – wie übrigens auch die Schweiz und Irland – bislang „geknausert“.[29]

Innerhalb der EU nimmt die GSVP wiederum auf die Sonderstellung neutraler Staaten Rücksicht, Artikel 42 EUV betont gleich zwei Mal, „den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“ unberührt zu lassen.

Damit werden die Solidaritätspflichten durch zusätzlichen außenpolitischen Spielraum ausgeglichen: Aus verfassungsrechtlicher Sicht gibt es aufgrund des Vorrangs von Artikel 23j B-VG keine grundsätzlichen neutralitätsrechtlichen Einwände gegen Beteiligungen an Maßnahmen im Rahmen der GASP und GSVP. Gleichzeitig können und werden neutrale Staaten dazu nicht verpflichtet.

Aus völkerrechtlicher Sicht sind diese Auswirkungen der EU-Mitgliedschaft auf die militärischen Zurückhaltungspflichten des „immerwährend neutralen“ Österreichs nicht restlos geklärt. Vor allem bleibt offen, ob Österreich als neutraler Staat dazu angehalten ist, sich bei EU-Ratsbeschlüssen zu Maßnahmen wie der Finanzierung von Waffen oder gar direkten -Lieferungen zu enthalten und diese auch nicht aktiv selbst vorzunehmen. Ein robustes Neutralitätsverständnis lässt sich damit nicht vereinbaren. Dagegen spricht aber, dass man aufgrund des fehlenden Protests anderer Staaten bei den Reformen seit Nizza und insbesondere im Rahmen des Vertrags von Lissabon von völkerrechtlicher Verschweigung oder stillschweigender Zustimmung zur Umwandlung und Weiterentwicklung der EU und den damit einhergehenden Auswirkungen auf Österreichs Status ausgehen kann.[30] Dazu passt auch, dass die Neutralität im Ausland ungleich weniger Beachtung findet als in der Innenpolitik: „Die zentrale, geradezu dominante Präsenz der Neutralitätsthematik in der europäisch-internationalrechtlichen Diskussion in Österreich steht in eigenartigem Gegensatz zum weitgehenden Desinteresse daran außerhalb des Landes“, wie Peter Hilpold bereits 2010 vermerkt hat.[31]

Innerhalb der GASP und der GSVP wurde die Neutralität durch die Solidarität verdrängt. Österreich kann sich zwar vielfach, allen voran bei der Beistandspflicht und der militärischen Unterstützung von Nicht-EU-Mitgliedern wie der Ukraine, auf die Neutralität berufen. Im Regelfall handelt es sich dabei allerdings um politische Argumente. Die rechtlichen Grenzen, etwa bei Waffenlieferungen, wurden indes noch nicht endgültig ausgelotet.  Wer will, findet Wege. Wer nicht will, hat die Neutralität.

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Fotograf: Etienne Ansotte
© Europäische Union, 2018
Quelle: EU-Kommission – Audiovisueller Dienst

[1] Franz Cede, ‘Österreichs Neutralität und Sicherheitspolitik nach dem Beitritt zur Europäischen Union’ (1995) 36/4 Zeitschrift für Europarecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung 142.

[2] Österreich hat sich bereits 1965 zum ersten Mal an internationalen Sanktionen beteiligt, konkret gegen das Apartheidsregime im damaligen Rhodesien (heutiges Simbabwe). Siehe dazu Karl Zemanek, ‘Das Problem der Beteiligung des immerwährend neutralen Osterreich an Sanktionen der Vereinten Nationen, besonders im Falle Rhodesiens’ (1968) 28 Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 16.

[3] Franz Cede, ‘Sicherheitspolitische Standortbestimmung Österreichs 2022’, AIES Kommentar Nr. 2/2022, https://www.aies.at/download/2022/AIES-Kommentar-2022-02.pdf.

[4] Allen voran Theo Öhlinger, ‘Neutralität als Staatszielbestimmung in einer künftigen Bundesverfassung’, http://www.konvent.gv.at/K/DE/AVORL-K/AVORL-K_00186/fnameorig_014581.html.

[5] Pahr/Cede zitiert in W. Hummer, Die Europäische Union – das unbekannte Wesen. Die EU in 40 Artikeln. Band 3 (Verlag Österreich 2017), 175.

[6] Independent International Commission on Kosovo, The Kosovo Report: Conflict, International Response, Lessons Learned (Oxford University Press 2000).

[7] Ibid.

[8] “War is the state or condition of governments contending by force.” John Westlake, International Law, Vol. II, War (1912), 1. Diese alte, aus dem 19. Jahrhundert stammende Definition hat sich bis heute nicht geändert. Allerdings ist der Begriff des Krieges über weite Strecken aus dem Völkerrecht verschwunden und Begriffen wie „Gewalt“, „Aggression“ oder „bewaffneten Konflikten“ gewichen.

[9] Siehe dazu http://www.airpower.at/news02/1022_violations/index.html?http&&&www.airpower.at/news02/1022_violations/violations08.htm und https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20020825_OTS0004/profil-nato-jets-im-kosovokrieg-dutzendfach-ueber-oesterreich.

[10] https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de.

[11] Peter Hilpold, Solidarität und Neutralität im Vertrag von Lissabon unter besonderer Berücksichtigung der Situation Österreichs (Facultas 2010), 65.

[12] https://milnews.at/2015/anschlaege-von-paris-eu-verkuendet-die-erstmalige-anwendung-der-militaerischen-beistandsklausel/#Oesterreichs_militaerischer_Beitrag.

[13] https://www.derstandard.at/story/2000027949252/oesterreich-schickt-hercules-flugzeug-und-zusaetzliche-soldaten-nach-mali.

[14] Pahr/Cede, zitiert in Hummer (Fn. 5), 175.

[15] Artikel 9a B-VG.

[16] Siehe Artikel 6 XIII. Haager Abkommen 1907.

[17] Artikel 7 V. Haager Abkommen 1907.

[18] Artikel 7 XIII. Haager Abkommen 1907.

[19] James Upcher, Neutrality in Contemporary International Law (Oxford University Press 2020), 79ff.

[20] Ibid., 61f.

[21] Siehe Markus Krajewski, ‘Weder neutral noch Konfliktpartei? Zur rechtlichen Bewertung von Waffenlieferungen an die Ukraine’, https://voelkerrechtsblog.org/de/weder-neutral-noch-konfliktpartei/.

[22] Ibid.

[23] Siehe dazu das Interview mit Walter Obwexer in der Presse vom 2. März 2022, S. 9 und https://tinyurl.com/mr2he5pp.

[24]Michael N. Schmitt, ‘Providing Arms and Material to Ukraine: Neutrality, Co-Belligerency, and the Use of Force’, https://lieber.westpoint.edu/ukraine-neutrality-co-belligerency-use-of-force/.

[25] Wolff Heintschel von Heinegg, ‘Neutrality in the War Against Ukraine’, https://lieber.westpoint.edu/neutrality-in-the-war-against-ukraine/.

[26] https://www.vienna.at/oesterreich-schliesst-waffenlieferungen-an-die-ukraine-aus/7310689 und https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/2146418-Oesterreich-schickte-Ukraine-Armeeausruestung.html.

[27] Siehe dazu https://www.bundesheer.at/pdf_pool/publikationen/02_intinf_15_hazdra.pdf, https://www.bundesheer.at/ausle/zahlen.shtml und https://www.consilium.europa.eu/de/policies/defence-security/#:~:text=Die%20EU%20hat%20seit%202003,im%20Nahen%20Osten%20im%20Einsatz.

[28] Siehe dazu https://orf.at/v2/stories/2299192/2299122/, https://www.addendum.org/coronavirus/who-china/ und https://www.derstandard.at/story/2000022628674/oesterreich-blieb-un-essenshilfe-fuer-heuer-schuldig.

[29] https://www.nzz.ch/international/ukraine-krieg-neutrale-staaten-wie-die-schweiz-helfen-wenig-ld.1685428?reduced=true.

[30] Andreas Th. Müller, ‘BVG Neutralität’ in Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (26. Lfg 2021), 52.

[31] Hilpold (Fn. 11), 14.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Schlagwörter

Neutralität, Österreich, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Europäische Union, NATO, Völkerrecht, Beistandspflicht

Zitation

Janik, R. (2022). Neutralität und der österreichische Beitrag zur EU-Sicherheitspolitik. Wien. ÖGfE Policy Brief, 14’2022

MMag. Dr.iur. Ralph Janik, LL.M.

MMag. Ralph Janik, LL.M. forscht an der Sigmund Freud PrivatUniversität, außerdem ist er Lehrbeauftragter an der Universität Wien, der Andrássy Universität Budapest und der Universität der Bundeswehr München.

© Elisabeth Pfneisl