Mobilitätspolitik als Pandemie-Politik. Folgen der Corona-Krise für das Schengen-Regime

Handlungsempfehlungen

  1. Die Ausnahmeregeln im Schengen-Kodex sind keine Gefährdung für den Europäischen Integrationsprozess. Vielmehr bieten sie Möglichkeiten, auf akute Probleme flexibel zu reagieren. Freilich sollten diese Möglichkeiten sparsam genützt werden.
  2. Intendierte und nicht intendierte Effekte der pandemiepolitischen Mobilitätseinschränkungen an Außen- und Binnengrenzen der EU müssen sorgfältig evaluiert werden. Es sollte geprüft werden, ob die Einschränkungen Ansteckungsketten unterbrochen haben (intendiert) und welche sozialen sowie ökonomischen Kosten gegebenenfalls dabei entstanden sind (nicht intendiert).
  3. Die Corona-Pandemie führt zur rascheren Einführung neuer Kontrolltechnologie an den EU-Außengrenzen, was den Trend zu „selective borders“ deutlich verstärkt. Die daraus resultierenden Folgen sollten politisch unter Kontrolle gehalten werden.

Zusammenfassung

Die Ausnahmeregeln des Schengen-Kodex sind als Flexibilitätsreserve im Europäischen Integrationsprozess zu verstehen. Die pandemiepolitischen Mobilitätseinschränkungen im Schengen-Raum werden durch politisch wirksame Interessen an freier Mobilität modifiziert und begrenzt. Die Pandemie-Politik führt zur Weiterentwicklung der Grenzpolitik in Richtung „selective borders“ und wirkt als Treiber für biotechnische Grenzkontrollen. Dies wird an den EU-Außengrenzen stärker bemerkbar als an den Binnengrenzen. Damit rückt die Migrationsproblematik wieder an die Spitze der politischen Agenda.

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Mobilitätspolitik als Pandemie-Politik. Folgen der Corona-Krise für das Schengen-Regime

Für Caspar Einem
1948 – 2021

I. Zwischen Sorge und Hysterie

Jahrelang Tagesthema: Die Mobilitätspolitik in der Pandemie. Hier Grenzschließungen, denn die Bedrohung kommt ja – so wollen es die Populisten[1] – von außen. Da Grenzkontrollen, erst um die Mobilität generell zu bremsen, dann um sie selektiv wieder zu ermöglichen.  Jammern der Impfunwilligen. Anschwellender National-Egoismus durch die politisch verordnete Abschottung. Schengen in Gefahr. Scheitert Schengen, scheitert Europa. Die Europäische Union (EU) wankt. Die Aufgeregtheit und Tendenz zur Übertreibung haben in dieser Phase ihres Gleichen gesucht.

Die Europäische Kommission reagierte weniger hysterisch, aber doch besorgt: „Die COVID-19-Pandemie stellt eine noch nie dagewesene Herausforderung dar und hat den Schengen-Raum stark belastet, was viele weitere Mitgliedstaaten dazu veranlasst hat, wieder Kontrollen an den Binnengrenzen einzuführen. … Die Auswirkungen dieser Kontrollen wurden besonders durch die mangelnde Koordination, vor allem in grenzüberschreitenden Gebieten, spürbar. Als die Kontrollen an den Binnengrenzen wieder eingeführt wurden, mussten LKW stundenlang in Warteschlangen ausharren, um von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu gelangen, wodurch die Lieferketten innerhalb der EU ernsthaft gestört wurden. … Darüber hinaus stellen die Grenzschließungen ein echtes Problem für die Bürger dar, insbesondere in den Grenzregionen, da sie einen echten Einfluss auf ihr tägliches Leben haben.”[2] In eigentümlichem Kontrast zu dieser Sorge steht freilich das Schweigen der Europäischen Kommission angesichts der Tatsache, dass die maximal zulässige Dauer für die temporäre Wiedereinführung von Grenzkontrollen an Binnengrenzen im Schengen-Raum von einzelnen Ländern[3] irritierend großzügig interpretiert wird.

Was hat sich an den Grenzen im Schengen-Raum während der Corona-Pandemie tatsächlich geändert, und welche Änderungen werden nachhaltig sein?

II. Eckpunkte des Schengen-Kodex

Das politische Feld der europäischen Mobilitäts- und Grenzpolitik wird durch das Schengen-Abkommen, geltendes Recht Stand 9. März 2016 (Schengener Grenz-Kodex), geregelt. Die Pandemiepolitik traf somit auf institutionalisierte europäische Regelungen. Was sind die Eckpunkte?

Das Schengen-Abkommen wirkt im Inneren und nach außen. Innerhalb des Schengen-Raumes regelt es den grundsätzlich freien Personenverkehr. Artikel 22 des Schengener Grenzkodex lautet: „Die Binnengrenzen dürfen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden.“ Im Inneren wirkt Schengen als ein großräumiges Liberalisierungsprogramm. Durch die Bewegungsfreiheit im Inneren konstituiert sich ein gemeinschaftliches Interesse an Kontrollen gegenüber außen. Damit entstehen „doppelt codierte Grenzen“[4], also Grenzen, die zugleich Staatsgrenzen und EU-Außengrenzen sind. Artikel 5 des Schengen-Kodex regelt die Modalitäten an den EU-Außengrenzen: „Die Außengrenzen dürfen nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden.“ Das Passieren der Außengrenzen durch Drittstaatsangehörige setzt voraus: ein gültiges Reisedokument, meist ein Visum, ausreichend finanzielle Mittel, einen anerkannten Einreisegrund, kein Eintrag im Schengener Informationssystem (SIS) – also nicht zur Fahndung ausgeschriebene und sonst unerwünschte Personen.

Sowohl durch die Liberalisierung im Inneren als auch durch die doppelte Codierung der Außengrenzen geben die Mitgliedstaaten Kontrolle über ihre Staatsgrenzen ab.

Liberalisierung im Inneren und doppelte Codierung nach außen sind geradezu revolutionäre Neuerungen. Sie bauen ein Grundelement klassischer Staatlichkeit in Richtung einer „postnationalen Grenzkonstellation“[5] um. Warum? Sowohl durch die Liberalisierung im Inneren als auch durch die doppelte Codierung der Außengrenzen geben die Mitgliedstaaten Kontrolle über ihre Staatsgrenzen ab. An den Binnengrenzen sind Kontrollen im Normalfall nicht mehr vorgesehen. Bezüglich der Außengrenzen entstehen komplexe Interessenverwicklungen und Kompetenzüberschneidungen zwischen der staatlichen und der EU-Ebene mit weitgehender Grenzschließung als gemeinsamem Nenner. Ein Ausdruck von Letzterem ist etwa die Expansion der Kompetenzen und Finanzmittel von Frontex, der EU-Grenzagentur.

An den Binnengrenzen sind Kontrollen im Normalfall nicht mehr vorgesehen.

III. Flexibilität im Schengen-Kodex

Der Schengen-Kodex sieht sowohl für die Regulierung der Außengrenzen als auch des Binnenraumes in einem gewissen Umfang Ausnahmen vor. Sowohl die Lockerung von Einreisekontrollen an den Außengrenzen als auch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Inneren sind unter Bedingungen möglich. „Bei außergewöhnlichen und unvorhergesehenen Umständen können die Grenzübertrittskontrollen an den Außengrenzen gelockert werden. Solche außergewöhnlichen und unvorhergesehenen Umstände liegen vor, wenn unvorhersehbare Ereignisse zu einem derart starken Verkehrsaufkommen führen, dass sich trotz Ausschöpfung aller personellen, räumlichen und organisatorischen Möglichkeiten unzumutbare Wartezeiten an der Grenzübergangsstelle ergeben.“ (Artikel 9) Man könnte dies vielleicht die Tourismus-Ausnahme nennen. Die ausnahmsweise Wiederaufnahme von Kontrollen an den EU-Binnengrenzen regelt das Kapitel II des Schengen-Kodex (Artikel 25 bis 35). Der Grundsatz lautet: „Ist im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht, so ist diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. Die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen darf in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist.“ (Art. 25(1)) Die längstmögliche Dauer sind zwei Jahre. Der Ausnahmecharakter dieser Regeln wird dadurch betont, dass ihre Inanspruchnahme als „letztes Mittel (Ziffer 2) bezeichnet wird.

Sowohl die Lockerung von Einreisekontrollen an den Außengrenzen als auch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Inneren sind unter Bedingungen möglich.

Manche „Integrationsfreunde“ tendieren dazu, die im Schengen-Kodex vorgesehenen Ausnahmeregeln als Inkonsequenz und ihre Inanspruchnahme als unerwünschte Rückschläge im Integrationsprozess anzusehen. Mir scheint fraglich, ob diese Sichtweise ohne Alternative ist. Insbesondere die Migrationskrise 2015f. und die Corona-Pandemie 2020f. haben einen Druck entfaltet, an dem das Schengen-Regime wohl zerbrochen wäre, hätte es nicht die Möglichkeit gegeben, die Ausnahmeregeln in Anspruch zu nehmen. So gesehen sind die Ausnahmemöglichkeiten im Schengen-Kodex eine Flexibilitätsreserve. Die Flexibilität, die durch die Ausnahmen institutionalisiert ist, ermöglicht es Probleme zu absorbieren, die den Institutionenbestand ansonsten wohl überfordern würden. Natürlich ist ein hypothetisches Scheitern kein Beweis für die Leistungsfähigkeit der Ausnahmeregeln im Schengen-Kodex. Aber zumindest sollte man die beiden Lesarten gegeneinander abwägen: Ausnahmen von der Freizügigkeit als Gefährdungspotential oder als Flexibilitätsreserve der Europäischen Integration. Die Grenze zwischen der flexiblen Handhabung der Freizügigkeits-Regeln zur Gefährdung der Integration ist freilich dann überschritten, wenn Mobilitätseinschränkungen von temporären Maßnahmen zur Prinzipienfrage staatlicher Souveränität mutieren. Aber wer macht das?

IV. Die Tendenz zur Einschränkung zwischenstaatlicher Mobilität

Damit sind wir bei der Pandemiepolitik als Mobilitätspolitik. Seit dem Inkrafttreten des Schengen-Kodex erhielt die Europäische Kommission 312 „Member States‘ notifications of the temporary reintroduction of border control at internal borders (Stand 19. Juli 2021). Insgesamt steigt die Frequenz der Meldungen mit der Zeit exponentiell an. Von 2006 bis zum 16. Mai 2015 waren es 36 Meldungen. Am 13. September 2015 erfolgte die erste Meldung (von Deutschland) an die Europäische Kommission im Zusammenhang mit Flüchtlingsströmen. Von da an bis zum Beginn der Corona-Pandemie gab es 81 Meldungen – und zwar überwiegend, aber nicht ausschließlich mit Bezug auf Flüchtlingsströme. Die erste Wiedereinführung von Grenzkontrollen mit Bezug auf Corona wurde (von Frankreich) am 31. Oktober 2019 gemeldet. Bis zum 19. Juli 2021 wurden dann 194 Meldungen über temporäre Wiedereinführungen von Grenzkontrollen gemacht, fast ausschließlich mit der Eindämmung der Pandemie als Begründung.

Die Möglichkeiten von Grenzschließungen sind durch transnationale Verflechtungen der Arbeitsmärkte und der Produktionsabläufe begrenzt.

Die Grenzschließungen am Beginn der Pandemie waren eine Art politische Schreckreaktion. Aber es stellte sich sehr bald heraus, dass das Blockieren der grenzüberschreitenden Mobilität nur bedingt möglich und sinnvoll ist. Die Möglichkeiten von Grenzschließungen sind durch transnationale Verflechtungen der Arbeitsmärkte und der Produktionsabläufe begrenzt. Soweit grenzüberschreitender Personenverkehr ökonomisch zwingend ist, war die Freizügigkeit darum bald wiederhergestellt, insbesondere soweit es um Arbeitspendler und den Warenverkehr ging. Pandemiepolitisch sinnvoll sind Mobilitätsschranken ohnehin nur zwischen Regionen mit deutlich unterschiedlichen Inzidenzen. Es dauerte relativ lange bis dies politisch relevantes Handlungswissen wurde, und wird immer wieder von der politischen Retorsions-Logik überlagert: Einreisebeschränkungen als Reaktion auf Einreisebeschränkungen, die als unfreundliche Akte anderer Staaten angesehen werden.

Nach dem kurzen Rückfall in allgemeine Grenzschließungen an dem Beginn der Pandemie (Frühling, Frühsommer 2020), waren die Grenzen bald wieder für spezielle Personengruppen wie LKW-FahrerInnen, ErntehelferInnen, Pflegepersonal, PendlerInnen durchlässig. Das betraf jedoch nicht die viel weiteren Kreise der Bevölkerungen, deren Mobilität zwecks Pandemiebekämpfung eingeschränkt wurde. Hier griffen zahlreiche, immer wieder sich ändernde, Restriktionen durch Einreisebeschränkungen, Beherbergungsverbote für Einreisende und Quarantäne-Auflagen für Rückkehrende.

V. Das Interesse an Mobilität

Woher kommt der Druck, der Richtung freie Personen-Mobilität wirkt und die Errungenschaften von Schengen sozial absichert? Am 4. September 2020 gab die Europäische Kommission eine Reihe eher kraftloser Empfehlungen „zur Verbesserung der Klarheit und Vorhersehbarkeit von Maßnahmen zur Beschränkung der Freizügigkeit in der Europäischen Union“ ab.[6] Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament verstehen sich als Hüterinnen der Freizügigkeit, doch sind sie nur sehr beschränkt durchsetzungsfähig. Was also kann die Personen-Freizügigkeit schützen? Ist der Schengen-Raum über die staatlichen Selbstverpflichtungen im Schengen-Kodex hinaus sozial unterfüttert?

Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament verstehen sich als Hüterinnen der Freizügigkeit, doch sind sie nur sehr beschränkt durchsetzungsfähig.

Die wichtigsten Mobilitäts-Treiber sind TouristInnen und die Tourismusindustrie. Erstere sind sehr viele, letztere ist in manchen EU-Mitgliedstaaten sehr einflussreich. Das Mobilitätspotential in Europa ist gewaltig. Im Jahr 2016 fanden in Europa etwa 400 Millionen Reisen statt. Ungefähr 40 % der Reisen der Europäerinnen und Europäer führen ins Ausland, die meisten davon (ca. 80 %) sind Reisen innerhalb von Europa. Jan Delhey et al. kommen auf der Grundlage solcher Zahlen zu dem Ergebnis, dass Europa das am dichtesten integrierte Mobilitätsnetzwerk der Welt ist. „Man lehnt sich mit der Feststellung, dass Europa heute touristisch nahezu vollständig integriert ist, (und EU-Europa ohnehin), keineswegs zu weit aus dem Fenster.“[7] Es ist davon auszugehen, dass transnationale Mobilität heute als eine Art Gewohnheitsrecht angesehen wird, und dass Mobilitätseinschränkungen auf Dauer kaum hingenommen werden.[8] Die durch Schengen erzeugten Erwartungen und Praktiken der Leute stützen die Institution Schengen sozial ab. Die Europäische Integration wird dadurch zwar nicht irreversibel gemacht, aber doch stark abgesichert. Man erkennt das auch daran, dass Reisefreiheit ein wichtiges Impfmotiv ist.

Die wichtigsten Mobilitäts-Treiber sind TouristInnen und die Tourismusindustrie.

Die grenzüberschreitende Mobilität im Schengen-Raum kam in der Pandemie keineswegs zum Erliegen. Ein paar Zahlen zur Veranschaulichung: Statistik Austria meldet für das Jahr 2020 einen Rückgang der ausländischen Ankünfte in Österreich um 52,7 %. Das ist ein starker Rückgang, es sind aber immerhin noch 15,09 Millionen Fälle, also 30,18 Millionen Übertritte österreichischer Grenzen. Die Zahl der ausländischen Ankünfte in Deutschland ging von 2019 auf 2020 von 39,56 Millionen auf 12,45 Millionen zurück. Das ist eine Reduktion um ca. zwei Drittel – für Beherbergungsbetriebe etc. sehr viel, aber immerhin 24,9 Millionen Grenzübertritte.

Die grenzüberschreitende Mobilität im Schengen-Raum kam in der Pandemie keineswegs zum Erliegen.

VI. Von allgemeinen Einschränkungen zu „selective borders“

Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen allen Mobilitätseinschränkungen im Schengen-Raum (sozusagen den normalen Ausnahmen) vor Corona und der Mobilitätspolitik in der Pandemie. In den Normalfällen geht es darum, Grenzübertritte bestimmter Personengruppen („Gefährder“) zu unterbinden. Die Mobilitätsbehinderungen für alle anderen sind „Kollateralschäden“. Der Zweck der Grenzkontrollen am Beginn und in den Hochzeiten der Pandemie dagegen war, generell Hindernisse für Mobilität aufzubauen und Anreize für Mobilität abzubauen, um Ansteckungsketten zu unterbrechen. In beiden Versionen geht es um „selective borders“[9]: Einmal ist das Ziel, spezielle Gruppen nicht durchzulassen, das andere Mal, nur spezielle Gruppen durchlassen.  In einem Fall geht es um Mobilitätsbehinderungen für eine definierte Gruppe, im anderen Fall um Mobilitätseinschränkungen für alle. Den Unterschied kann man sich als eine Art Beweislastumkehr an der Grenze vorstellen: Im Fall der „normalen Ausnahmen“ muss von der Behörde nachgewiesen werden, dass Personen die Bedingungen für den Grenzübertritt nicht erfüllen. In der Pandemie wird dagegen prinzipiell von allen der Nachweis verlangt, dass sie die Bedingungen für den Grenzübertritt erfüllen. Auch wenn beide Versionen unter die Ausnahmeregeln des Schengen-Kodex fallen, so unterscheiden sie sich im konkreten Vollzug der Grenzkontrollen doch erheblich: Im Normalfall ist die Verweigerung des Grenzübertritts begründungsbedürftig und die Ausnahme, im Pandemie-Fall ist der unbehinderte Grenzübertritt an spezifische Bedingungen geknüpft (Impfzertifikate etc.).

Diese Unterscheidung hat eine wichtige Konsequenz: In den normalen Ausnahmefällen kann es nur um Grenzkontrollen gehen, im Fall der Mobilitätspolitik in der Pandemie gibt es neben Grenzkontrollen noch andere Instrumente zur Mobilitätseinschränkung.  Erstens gibt es in einem gewissen Umfang digitalen Ersatz für Mobilität (Video- bzw. Webkonferenzen etc.). Die Teilnahme an Konferenzen lässt sich per Video erledigen, die lautstarke Unterstützung einer Fußballmannschaft nicht. Zweitens verlagerte sich die Politik von Einschränkungen der Mobilitätsmöglichkeiten auf Mobilitätsmotive. Beherbergungsverbote und Quarantäneverpflichtungen machten Grenzübertritte nicht unmöglich, aber unattraktiv. Bei Protest-Tourismus ist das nicht so leicht. Und drittens kam es zu Kontrollen nicht nur an Staatsgrenzen, sondern auch innerhalb einzelner Länder. Hier sind einige Beispiele. Österreich: Ausreise aus Wiener Neustadt nur mit Negativ-Test (SZ 9. März 2021), grundsätzlich Kontrollen an der Grenze von Gebieten mit Sieben-Tages-Inzidenz von mehr als 400; Portugal:  Vom 19. bis zum 21. Juni 2021 durfte Lissabon nur aus triftigen Gründen und von Ausländern sowie Touristen verlassen werden. Italien:  Vielfältige Beschränkungen der Mobilität nach unterschiedlichen Inzidenzen in einzelnen Regionen und unterschiedlichem Immunitätsstatus (Geimpft, Getestet, Genesen) der Reisenden.[10]

So lange die Pandemie zumindest latent andauert, ist der Impfstatus ein wesentliches Kriterium.

Hier zeichnet sich die nähere Zukunft ab. Mit der Dauer der Pandemie entwickelten sich die generellen Einschränkungen der Mobilität im Schengen-Raum zunehmend zu normalen Ausnahmen zurück – beinahe. Das bedeutet: Die allgemeine Durchlässigkeit der Grenzen wird wieder zum Normalzustand. Einschränkungen der Mobilität werden zur Ausnahme für Personen mit speziellen Merkmalen – in diesem Fall: für Personen, die nicht den Nachweis erbringen können, dass sie nicht ansteckend sind. Das aber setzt allerdings voraus, dass der Immunitätsstatus prinzipiell von allen feststellbar ist. Dies lässt sich näherungsweise durch gezielte Stichproben perfekt mittels biotechnischer Kontrollsysteme realisieren, die nach mobilitätsrelevanten Kriterien fein sortieren, für die Mehrheit kaum bemerkbar sind oder als administrative Vereinfachung wahrgenommen werden.[11] So lange die Pandemie zumindest latent andauert, ist der Impfstatus ein wesentliches Kriterium. Impfverweigerer zementieren den Zustand, den sie als „Impfapartheid“ beklagen. Die Rückkehr zu prinzipieller Mobilitätsfreiheit im Schengen-Raum geht einher mit der Weiterentwicklung von „selective borders“ auf technisch avanciertem Niveau: kaum sichtbar und hochauflösend.

VII. Eine asymmetrische Dynamik

In die Beziehung von Binnengrenzen und Außengrenzen der Europäischen Union war immer schon eine Dynamik eingebaut. Ändert sich die Konstellation im Inneren der EU bzw. des Schengenraumes, hat dies unmittelbar Auswirkungen auf die Außengrenzen. Abbau von Kontrollen im Inneren begründen strikte Kontrollinteressen an den EU-Außengrenzen.[12] Spätestens die Pandemie hat eine ergänzende Erkenntnis gebracht: Diese Dynamik operiert asymmetrisch. Öffnungen im Inneren führen zur Schließung der Außengrenzen. Die Wiedereinführungen von Grenzkontrollen im Inneren dagegen bewirken keineswegs die Reduzierung der Abschottung nach außen.

Ändert sich die Konstellation im Inneren der EU bzw. des Schengenraumes, hat dies unmittelbar Auswirkungen auf die Außengrenzen.

Die Erklärung der Europäischen Kommission zur Bestärkung und Weiterentwicklung des Schengen-Systems fügt sich dieser Logik. In ihrem Zentrum stehen Vorschläge zu Kontrollen an der EU-Außengrenzen. „Da jeder, der die Außengrenzen – auf dem Luft-, Land- oder Seeweg – überschreitet, frei in die anderen Mitgliedstaaten und innerhalb dieser reisen kann, setzt die Existenz von Schengen ein hohes Maß an Vertrauen in einen robusten Schutz der Außengrenzen voraus.“[13] Dies steht in der Perspektive der Bekämpfung der so genannten „irregular migration“, setzt den Schwerpunkt auf informationstechnische Aufrüstung (Eurodac System[14]) und hat mit der Pandemie auf den ersten Blick nichts zu tun. Ebenso wird die Bedeutung der Kooperation mit der äußeren Peripherie der EU – im Sinn der Europäischen Nachbarschaftspolitik als vorverlagerte Migrationsabwehr[15]  –  betont. Maßnahmen im Inneren sind genauso ausgerichtet. Das Advance Passenger Information-System (API) soll auf Intra-Schengen Flüge ausgedehnt werden. Dies würde, schreibt die Europäische Kommission, „den Strafverfolgungsbehörden einen risikobasierten, datengestützten Ansatz im Schengen-Raum ermöglichen.”[16] Das kann auch Infektionsrisiken einschließen.

Das Kommissionspapier 2021 verwendet die COVID-19-Pandemie entweder nur als eine Art Rahmenerzählung, um die EU-Grenzpolitik auf technologisch fortgeschrittenem Niveau fortzuschreiben. Oder COVID-19 ist der weiße Elefant im grenzpolitischen Ideen-Raum: Als Motiv für die technische Aufrüstung der Gefahrenabwehr an den EU-Außengrenzen und im Schengen-Raum selbst wird Ansteckung zwar nicht erwähnt, ist aber gemeint. Mehr noch: Pandemiepolitische Registrierung und Zertifizierung des Immunitätsstatus (Impfregister, Impfpass etc.) tragen zu einem Entwicklungsschub der Kontrolltechnologien bei.

Diese Dimension der Ungleichheit von Lebenschancen weltweit wird weiter zunehmen.

Die Unterschiede im Mobilitätswert von Reisepässen sind groß. EU-Reisepässe liegen weltweit im Spitzenfeld (Ränge 3 bis 16 von 110). Ein deutscher Reisepass ohne Visum berechtigt zur Einreise in 191 Staaten, ein kroatischer Reisepass zur Einreise in 173 Länder. Als Kontrast: Mit einem afghanischen Reisepass kann man in 26 Länder ohne Visum einreisen (The Henley Passport[17] Index 2021). Diese Dimension der Ungleichheit von Lebenschancen weltweit wird weiter zunehmen. Denn die globale Ungleichheit der Immunitätsniveaus steigert einerseits die Attraktivität einzelner Zielregionen und senkt andererseits den Mobilitätswert der Pässe vieler Staaten noch zusätzlich. Zugleich wird der Impfrückstand außerhalb der nördlichen Hemisphäre zur zynischen, aber wirksamen Legitimation für Grenzschließungen der EU nach außen.

VIII. Und danach?

Die EU bleibt über die Pandemie hinaus in weltweite Mobilitätsprobleme verstrickt.

Der Umstand, dass die Herausforderungen der Pandemie im Inneren des Schengen-Raumes weitgehend ohne Probleme bewältigt wurden, kann nicht verdecken, dass das Schengen-System dringend weiterentwickelt werden muss. Denn die EU bleibt über die Pandemie hinaus in weltweite Mobilitätsprobleme verstrickt. Befestigungen der EU-Außengrenzen und die Aufstockung des Personals der Grenzschutz-Agentur FRONTEX ist keine Lösung. Das Elend der Menschen an den Grenzen zwischen Belarus und Polen, zwischen der Türkei und Griechenland und anderswo zeigt, dass die Außengrenzpolitik der Europäischen Union nicht auf der Höhe der Zeit ist. Programmatisch, geopolitisch und technisch-organisatorisch gibt es erhebliche Defizite. Programmatisch muss endlich geklärt werden, wer unter welchen Bedingungen jenseits des Asylrechts mit Aufnahme in der EU rechnen kann. Geopolitisch bedarf es fairer Abkommen mit Ländern der äußeren Peripherie Europas, um Migrationsströme zu absorbieren. Und technisch-organisatorisch fehlen Instrumente, die Aufnahmekriterien praktisch so durchzusetzen, dass Chancen und Grenzen der Migration individuell vorhersehbar werden. Solche Defizite gehen an die politisch-moralische Substanz der Europäischen Union.

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Foto: A passenger at Pleso airport holding a smartphone with the QR code of an EU Digital COVID Certificate.
Fotograf: Denis Lovrovic
Ⓒ Europäische Union, 2021
Quelle: EU-Kommission – Audiovisueller Dienst

[1] Vgl. Georg Vobruba, Einfachdenken in der komplexen Gesellschaft. Das Volk, die repräsentative Demokratie und der Populismus. In: Martin Endreß, Sylke Nissen, Georg Vobruba, Aktualität der Demokratie. Weinheim, Basel 2020: Beltz Juventa. S. 145ff.

[2] European Commission 2021. A strategy towards a fully functioning and resilient Schengen area. Brussels, 2.6.2021. COM(2021) 277 final. S. 1 (im Original Englisch).

[3] Das Landesverwaltungsgericht Steiermark hat dem EuGH zur Vorabentscheidung die miteinander verbundenen Fälle vorgelegt: C-368/20 NW v Landespolizeidirektion Steiermark und C-369/20 NW v Bezirkshauptmannschaft Leibnitz. Ein niederländischer Staatsbürger hat sich an der slowenisch-österreichischen Grenze der Passkontrolle verweigert, die verhängte Verwaltungsstrafe (EURO 36.-) bezahlt und angefochten. Vgl. Pola Cebulak, Marta Morvillo, The Guardian Is Absent. (https://verfassungsblog.de/the-guardian-is-absent/) und dort die weiterführenden Bemerkungen. Mit der für nationale Gerichte bindenden Entscheidung des EuGH in diesem offensichtlich „strategischen Prozess“ – der Kläger forscht zu EU-Recht und internationalem Recht an der Universität von Amsterdam – wird eine Interpretation des Schweigens der Europäischen Kommission zu der Frage erwartet, wie unmittelbar aufeinander folgende Störungen der öffentlichen Ordnung auf den Fristenlauf für Grenzkontrollen wirken.

[4] Isabel Hilpert, Die doppelt codierte Grenze und der Nationalstaat in Europa. Eine Untersuchung am Beispiel der Republik Italien. Wiesbaden 2020: Springer VS.

[5] Ebd.

[6] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_1555

[7] Jan Delhey, Emanuel Deutschmann, Monika Verbalyte, Auke Aplowski 2020. Netzwerk Europa. Wie ein Kontinent durch Mobilität und Kommunikation zusammenwächst. Wiesbaden. Springer VS. S. 154.

[8] Muss man wirklich an die soziale Sprengkraft der Reiseeinschränkungen im ehemaligen Ostblock erinnern?

[9] Steffen Mau, Heike Brabandt, Lena Laube, Christof Roos 2012. Liberal States and the Freedom of Movement. Selective Borders, Unequal Mobility. Hundmills, Basingstoke: Palgrave. Georg Vobruba, Der postnationale Raum. Weinheim, Basel 2012: Beltz Juventa. S. 103 f.

[10] Reiseinformation des deutschen Außenministeriums. https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/italiensicherheit/211322 (21. 6. 2021)

[11] Torsten Heinemann, Martin G. Weiß, Biotechnologische Grenzregime. In: Torsten Heinemann, Martin G. Weiß (Hg.), An der Grenze. Die biotechnologische Überwachung von Migration. Frankfurt a. M., New York 2016: Campus.

[12] Georg Vobruba, Die Dynamik Europas. Wiesbaden 2007: Springer VS.

[13] European Commission 2021. A strategy towards a fully functioning and resilient Schengen area. Brussels, 2.6.2021. COM(2021) 277 final. S. 4.

[14] European Dactyloscopy, „Fingerabdruck-Identifizierungssystem für den Abgleich der Fingerabdruckdaten aller Asylbewerber sowie von bestimmten Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen, wenn die betreffenden Personen älter als 14 Jahre sind. Der Datenabgleich soll verhindern, dass Personen in mehreren EU-Mitgliedstaaten Asyl beantragen können.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/EURODAC)

[15] Georg Vobruba, Der Postnationale Raum. Weinheim, Basel 2012: Beltz Juventa. S. 75. F.

[16] European Commission 2021. A strategy towards a fully functioning and resilient Schengen area. Brussels, 2.6.2021. COM(2021) 277 final. S. 13.

[17] https://www.henleyglobal.com/passport-index/ranking

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor tätig ist, überein.

Schlagwörter

Schengen-Regime, Mobilität, Grenzen, EU, Pandemie, selective borders, Migration

Zitation

Vobruba, G. (2021). Mobilitätspolitik als Pandemie-Politik. Folgen der Corona-Krise für das Schengen-Regime. Wien. ÖGfE Policy Brief, 18’2021

Prof. Dr. Georg Vobruba

Georg Vobruba ist Professor für Soziologie an der Universität Leipzig.