Lernen von Amerika?

Die Wiederwahl Obamas und Europa

Handlungsempfehlungen

  1. Am Beispiel des US-Wahlergebnisses vom 6. November muss die Vielfalt der EU nicht als Grund für die Unmöglichkeit eines europäischen Bundesstaates sondern für dessen Stärke gesehen werden.
  2. Die Demokratie in der EU kann sich stärker auf das Modell einer Konsens- als auf das einer Konfliktdemokratie beziehen, und zwar auch mit Berufung auf die USA.
  3. Der Prozess der Entstehung der US-Verfassung, die aus den gegenläufigen Interessen der einzelnen Staaten entstanden ist, kann in den wesentlichen Eckpunkten als Vorlage für eine (über weite Strecken ja vorhandene) EU-Verfassung gesehen werden.

Zusammenfassung

Die Ergebnisse der US-Wahlen vom 6. November beinhalten zwei zentrale Botschaften für die Zukunft der Europäischen Union: Die wachsende Vielfalt der US-amerikanischen Gesellschaft ist ganz offenkundig kein Grund, dass der Zusammenhalt der Union gefährdet wäre. Obamas Erfolg unterstreicht  die ungebrochene Integrationskraft der USA. Dass – neben der Wiederwahl des demokratischen Präsidenten – auch die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus bestätigt wurde, verstärkt im US-System den Zwang zum Kompromiss und damit zum politischen Konsens.
Die erste Botschaft unterstreicht, dass Europas nationale, religiöse und kulturelle Vielfalt kein Grund ist, die Vertiefung der EU in Richtung auf einen Bundesstaat in Frage zu stellen. Die zweite Botschaft hebt eine Gemeinsamkeit des US-amerikanischen und des europäischen Demokratieverständnisses hervor: Demokratie ist nicht einfach Mehrheitsherrschaft. Demokratie ist auch und wesentlich der Kompromiss zwischen Interessen, von denen keines von einer eindeutigen Mehrheit vertreten wird.

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Lernen von Amerika?

Der Wappenspruch der USA ist “E Pluribus Unum“: Einheit aus der Vielfalt. Was das bedeuten kann, wurde am 6. November eindrucksvoll demonstriert. Der US-Präsident war erfolgreich, weil er das komplizierte Puzzle der amerikanischen Vielfalt zu einer Allianz zwischen der einzigen natürlichen Mehrheit – der Frauen – mit ethnischen und religiösen Minderheiten politisch umzusetzen verstand. Das, was Barack Obama schon 2008 zusammenbrachte, was damals aber auch als Einmalerfolg angesichts eines zuletzt extrem unpopulären republikanischen Präsidenten gewertet wurde, konnte trotz einer insgesamt nicht sehr beeindruckenden Performance des Präsidenten wiederholt werden: Die Mehrzahl der Frauen und der Afro-Amerikaner, der Hispanics und der Jungen, der Katholiken und der Juden entschieden sich für Obama und sicherten so seinen Erfolg. Verlierer war das in mehrfacher Hinsicht alte Amerika –  das der alten Männer, der alten protestantischen Weißen. Amerikas Buntheit hat sich politisch durchgesetzt.

Wachsende Vielfalt – Abnehmende Eindeutigkeit

2004, im Jahr der relativ sicheren Wiederwahl George W. Bushs, veröffentlichte Samuel P. Huntington sein Buch „Who are We?“. Er untersuchte die Frage, wie die von weißen protestantischen Männern gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika mit dem gesellschaftlichen Wandel politisch umzugehen in der Lage wären. Das 21. Jahrhundert wird das Ende der Mehrheit der „Weißen“ bringen – das steht seit langem fest. Die Einwanderungsströme aus Asien und Lateinamerika werden die amerikanische Vielfalt noch komplexer machen. Und damit ist das Selbstbild der USA herausgefordert: Können sich die USA noch uneingeschränkt mit dem Amerika George Washingtons und Thomas Jeffersons identifizieren? Und was bedeutet dieser rasante Wandel für die weltpolitische Orientierung der USA? Der zweite Wahlsieg Obamas gibt eine erste Antwort: Gesellschaft und Politik der USA verlieren nicht ihre Fähigkeit, eine komplexe Vielfalt zu integrieren.
Diese für die USA grundsätzlich positive Entwicklung beinhaltet eine klare Botschaft für Europa. Die hier noch immer zu beobachtende Vorstellung, eine Demokratie würde gesellschaftliche Homogenität voraussetzen, ist falsifiziert – wie auch das Beispiel Indiens zeigt, das (ähnlich wie Europa, aber anders als die USA) auch ein Land des Nebeneinanders einer großen Zahl von Sprachen ist. Die Abnahme gesellschaftlicher Homogenität in den USA gefährdet ganz offensichtlich nicht die Integrations- und Demokratiekapazität des Landes. Amerika wird bunter – und bleibt dennoch eine demokratische Union. Warum sollte die europäische Buntheit für eine demokratische, eine politische Union Europas ein unübersteigbares Hindernis sein? Warum sollten die kulturellen Besonderheiten polnischer oder portugiesischer, protestantischer oder agnostischer oder auch muslimischer Europäer nicht Platz in einer Europäischen Union haben, die Vielfalt nicht negiert, sondern respektiert?
Dass die EU auf unterschiedlichen, ja gegenläufigen nationalen Narrativen baut, die sich nicht leicht zu einer europäischen Identität verbinden lassen und auch immer wieder Anlass zu nationalistischen Reflexen sind; dass die EU mit einem starken Gefälle ökonomischer und kultureller Entwicklungen zu kämpfen hat; dass die EU auch durch Migrationsströme aus allen Teilen der Welt herausgefordert wird – das alles schafft Probleme. Aber diese wachsende Vielfalt und die damit verbundene wachsende Komplexität sind kein entscheidender Grund dafür, dass die Entwicklung hin zu einer europäischen Föderation stecken bleiben oder gar rückgängig gemacht werden muss.

Demokratie als Machtteilung

Und noch eine Lehre kann Europa aus dem 6. November ziehen: Dass das Repräsentantenhaus weiterhin eine republikanische Mehrheit aufweist, dass also die USA abermals durch „split government“ regiert wird – und der notwendige Kompromiss zwischen Präsident und Kongress äußert mühsam sein wird, deutet auf eine lange negierte amerikanisch-europäische Gemeinsamkeit. In den meisten europäischen Demokratien und in der EU selbst fehlt es an eindeutigen Mehrheiten im Wahlvolk und in den Parlamenten. Entscheidungen müssen nach dem Muster einer Konkordanz- oder Konsensdemokratie ausgehandelt werden. Das bedeutet, dass Blockaden und damit immer wieder auftretende politische Lähmungen zum Alltag des Entscheidungsprozesses gehören. „Split government“, 2012 in den USA bestätigt, ist die amerikanische Variante des europäischen Zwanges zur Bildung von Koalitionen. So weit sind die USA und Europa also nicht voneinander entfernt.
Arend Lijphart hat in einer erstmals 2002 publizierten Analyse das demokratische Modell der Europäischen Union als Sonderform der Konkordanzdemokratie ausgewiesen. Und tatsächlich weist die EU deutlich Züge auf, wie sie in einer auf Machtteilung („Power sharing“) aufgebauten Demokratie wie in der Schweiz im Zentrum stehen: Ein Europäisches Parlament, dessen Entscheidungen zumeist von den beiden großen Fraktionen ausgehandelt und dann gemeinsam getragen werden; eine Kommission, die aus Personen unterschiedlicher parteipolitischer Herkunft besteht, die aber in vielem einer Großen Koalition gleicht; und einer Tendenz, hinter den Kulissen um Kompromisse zu ringen, bevor man mit Lösungen vor die Öffentlichkeit tritt.
Eine solche Demokratie à la Schweiz ist eben auch die EU. Und dass auch die Demokratie in den USA solche Merkmale aufweist, widerspricht zwar der üblichen Annahme eines durch eine dominante Persönlichkeit charakterisierten Präsidentialismus. Diese Parallele unterstreicht aber die Analogie demokratischer Prozesse auf beiden Seiten des Atlantiks.

Konstitutionelle Analogien

Diese Analogie weist auf einige weitere Gemeinsamkeiten zwischen den USA und der EU. Die 1787 in Philadelphia ausgehandelte US-Verfassung war, wie Richard Beeman nachzeichnet, ein Kompromiss zwischen Staaten, die oft unterschiedliche Interessen verfolgten. Die Südstaaten wollten Garantien, dass die Sklaverei nicht durch die Verfassung beeinträchtigt wird. Die Nordstaaten waren durch die wachsende moralische Empörung bestimmt, die sich gegen die Institution der Sklaverei richtete. Der Kompromiss: Die Sklaverei blieb konstitutionell ausgeklammert – auf einige Jahrzehnte, bis hin zum Bürgerkrieg. 1787 wollten die kleinen Staaten, dass die Machtverteilung innerhalb der Union in erster Linie auf die Staaten selbst abgestellt wird; die großen hingegen, dass es auf die Bevölkerungszahl ankommen soll. Der Kompromiss: Der Senat zählt Staaten, das Repräsentantenhaus baut auf der Zahl der Köpfe; und das „Electoral College“ berücksichtigt beides, das Prinzip der Staatlichkeit und das der Einwohnerzahl –  ein Kompromiss im Kompromiss.
Vor solche oder zumindest ähnliche konstitutionelle Herausforderungen war und ist die EU ebenfalls gestellt. Zwar sind die Menschen- und Grundrechte (anders als in den USA des Jahres 1787) in Europa heute außer Streit gestellt. Aber die Gewichtung der Staaten bei der Verteilung der Sitze im Parlament, bei der Nominierung von Mitgliedern der Kommission (auch des Europäischen Gerichtshofes), vor allem aber im Rat ist eine prinzipiell und dauerhaft nicht gelöste Frage, die mit jedem Erweiterungsschritt immer dringlicher wird. Hier könnte der US-Kompromiss von 1787 tatsächlich Modellcharakter für die EU haben: Im Europäischen Parlament sollte nur die Einwohnerzahl bei der Verteilung der Mandate berücksichtigt werden, was das schon jetzt deutliche Überwicht der Großen noch verstärken würde; dafür könnte im Rat – erst recht, wenn dieser in einen Senat umgewandelt wird – jeder Staat gleich gewichtet sein, was den Kleinen zugute käme.
Der Unterschied zwischen den USA liegt freilich in der Schwerfälligkeit des europäischen Entscheidungsprozesses, wenn es um Vertragsänderungen (und damit um Änderungen der De facto-Verfassung) der EU geht. Das Vetorecht, das jeder einzelne Mitgliedstaat bezieht, und die Notwendigkeit mühsamer, oft direkt demokratischer Ratifizierungen in allen Staaten stellt jede Änderung der Regeln über die politische Entscheidungsfindung vor erheblich größere Schwierigkeiten als dies in den USA der Fall ist. Überdies räumt der sehr allgemeine und eben deshalb interpretationsbedürftige Charakter der US-Verfassung der Möglichkeit, die Realität der Verfassung an geänderte gesellschaftliche Voraussetzungen anzupassen, erheblichen (vor allem vom Supreme Court genützten) Raum ein. Einen solchen Spielraum gibt es innerhalb der EU nicht – das komplizierte, geradezu kasuistische Vertragswerk von Lissabon macht dies deutlich.

Lernen aus den US-Erfahrungen

Dennoch: Langfristig kann die EU von den Erfahrungen des US-Bundesstaates lernen. Für einen solchen Lernprozess scheint derzeit die Europäische Union freilich noch nicht weit genug zu sein. Zu sehr steht die Verteidigung der nationalen Rechte im Mittelpunkt der Innenpolitik der Mitgliedstaaten. Zu stark sind – vor allem im Vereinigten Königreich, aber auch in der Tschechischen Republik und zunehmend in Österreich – die Vorbehalte, gegen eine Vertiefung der Union. Das Bekenntnis zu einem europäischen Bundesstaat als eigentliches Ziel des Integrationsprozesses ist, europaweit, eine  Minderheitsmeinung. Doch ein Blick auf die Erfahrungen der USA zeigt, dass ein solcher Bundesstaat möglich ist – es braucht nur den politischen Willen zu einem solchen Schritt.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise Europas könnte beides sein – der Anlass zu einer europäischen Resignation, die zu einer Renationalisierung führt und damit das Ende der nach 1945 so erfolgreichen Einigung einläutet. Die Krise kann aber auch der Antrieb sein, das umzusetzen, was so vielen in den letzten Jahren über die Lippen gekommen ist: „Mehr Europa“ sei nötig, um den Problemen Herr zu werden. Wenn diesen zunächst unverbindlichen Bekenntnissen Taten folgen, dann ist das Design, dann ist das Script für die Konsequenzen schon klar: Mehr Kompetenzen für die Union, und nicht weniger. Und das wäre nichts anderes als ein großer Schritt in Richtung europäische Bundesstaatlichkeit.
„E Pluribus Unum“? Das könnte auch der Wappenspruch des sich einigenden Europas sein. Die EU ist zwar ein spezieller Fall, der in der Lehre der politischen Systeme zwischen dem Typus Bundesstaat und dem Typus Staatenbund eingeordnet wird. Und die Unterschiede zwischen der US-amerikanischen und der europäischen Vielfalt können nicht ignoriert werden. Aber so verschieden vom Typus eines Bundesstaates à la USA ist dieses Europa ganz bestimmt nicht mehr. Die US-Wahlen vom 6. November haben das wieder in Erinnerung gerufen.

Beeman, Richard, Plain, Honest Men. The Making of the American Constituti-on. New York 2009.

Huntington, Samuel P., Who Are We? America’s Great Debate. New York 2005.

Lijphart, Arend, Europe, the European Union, and Democracy. In: Thinking About Democracy. Power sharing and majority rule in theory and practice. New York 2008, 156 – 158.

Pelinka, Anton, Europa. Ein Plädoyer. Wien 2011.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen, der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Zitation
Pelinka, A. (2012). Lernen von Amerika? Die Wiederwahl Obamas und Europa. Wien. ÖGfE Policy Brief, 04’2012

Anton Pelinka

Anton Pelinka ist Professor of Nationalism Studies and Political Science an der Central European University, Budapest.