Großbritannien in Europa?

Unsicherheit auf drei Ebenen

Handlungsempfehlungen

  1. Die neue Regierung Cameron ist gut beraten, das versprochene EU-Referendum auf den Sommer 2016 vorzuziehen, um die anstehende Phase der Unsicherheit zu ver­kürzen.
  2. Die europäischen Partner sollten auf die komplexe Ausgangslage des zweiten Kabi­netts Cameron reagieren und ihm hinreichende symbolische Erfolge gewähren, die ihm ermöglichen, überzeugend für einen Verbleib Großbritanniens in der EU einzu­treten.
  3. Die Europäische Union kann jedoch keine Zugeständnisse anbieten, die über den symbolischen Bereich hinausgehen und ihre vertraglichen Grundlagen berühren. Forderungen nach formaler Vertragsrevision sind substanziell kaum und im anvi­sierten Zeithorizont gar nicht realistisch.

Zusammenfassung

Die britischen Unterhauswahlen haben nur vordergründig politische Handlungsfähigkeit produziert und zeigten gleichermaßen wie wenig Wählerverhalten in modernen Demokrati­en noch prognostiziert werden kann und wie fragil die territoriale Ordnung und institutio­nelle Stabilität des Vereinigten Königreichs geworden sind. Nach der Wahl folgt das politisch inszenierte und medial begleitete „Drama zweier Unionen“:
Erstens, Cameron wird sich auf das versprochene Referendum zum „Brexit“ einlassen müs­sen. Seine substanziellen Forderungen, und erst recht die Wünsche der nun mit Veto-Macht ausgerüsteten euroskeptischen Hinterbänkler, werden jedoch im selbst gesetzten Zeitplan kaum umsetzbar sein.
Zweitens, bereits die Diskussion um eine Abwendung von Europa sorgt für eine weitere Ent­fremdung Englands und Schottlands und bedroht den Zusammenhalt des Verei­nigten Königreichs.   Spätestens ein vollzogener „Brexit“ würde diesen defini­tiv sprengen.

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Die europäische Perspektive Großbritanniens steht nach den Wahlen zum britischen Un­terhaus infrage. Beinahe alle Politiker, Journalisten und Wissenschaftler hatten das nächste „hung parliament“ mit zwei praktisch gleichauf liegenden Großparteien erwartet und eine langwierige, komplexe Suche nach einer Regierungsmehrheit und eine schwie­rige Debatte um das Versagen der institutionellen Ordnung befürchtet. Der klare Wahlsieg der Konservativen entstand bei hoher Unsicherheit über die Vorhersagbarkeit des Wählerver­haltens und die politischen Konsequenzen des tradierten Mehrheitswahlsystems. Die zweite Regierung Camerons muss nun den selbst, durch umfangreiche Versprechungen und umfassende, vielleicht überzogene Zielstellungen produzierten Problemdruck bei ei­nem knappen Zeitplan erfolgreich managen.
Eine europäische Perspektive ist aber auch notwendige Bedingung für den Erhalt des Ver­einigten Königreichs. Klare Verhältnisse bei der Regierungsbildung sorgen nämlich nicht unbedingt für einen klaren politischen Ausblick und kohärente politische Handlungsfähigkeit. Die britische Drohung eines Ausstiegs aus dem vereinten Europa und seiner institutionellen Form, der Europäischen Union, steht in einem komplexen Wechselverhältnis mit der schottischen Drohung eines Ausstiegs aus dem Vereinigten Kö­nigreich.

1. Unsicherheit über das Wahlverhalten und Unsicherheit durch das Wahlsystem

Die Suche nach den Ursachen der ungewöhnlich deutlichen Fehlprognose des Wahlresul­tats dauert bei den britischen Demoskopen und Politikwissenschaft­lern noch an (vgl. etwa Benjamin Lauderdale, Washington Post vom 08. Mai 2015). Potenzi­elle Erklärungen liegen bei der stark gestiegenen Bereitschaft, die Präferenz zu wechseln und sich kurzfristig zu entscheiden. Wähler könnten insbesondere auf publizierte Wahl­prognosen reagieren und ihr Verhalten strategisch ändern. Weitere Erklärungs­faktoren betreffen die Datenerhebung, denn besonders bei den gegenwärtigen britischen Wahlprognosen sind theoretisch fundierte Zufallssamples durch quotierte Auswahl der Befragten oder billigere Internetumfragen ersetzt worden, deren Eigenschaften weniger bekannt und vorhersagbar sind.
„Wahlwunder“ und „Erdrutsch“ sind freilich durch das britische Wahlsystem mitbe­gründet. Trotz der teils erratischen Effekte des tradierten „first past the post“ verstellt das Wahlresultat wohl den Weg hin zu einer wirklichen, „großen“ Reform der britischen Mehrheitswahl, denn die konservative Parlamentsmehr­heit wird sicher dasjenige Wahlsystem bewahren, mit dem sie so gut gefahren ist. Stattdes­sen stehen eine moderate Verkleinerung des Unterhauses von 650 auf 600 Mandate auf der Agenda, und ein damit verbundener Neuzuschnitt der Wahlkreise soll die von den Kon­servativen ausgemachten „Ungerechtigkeiten“ zugunsten von Labour beseitigen (The Te­legraph vom 09. Mai 2015; zur britischen Wahlgeografie allgemein vgl. Johnston 2015).

2. Die unsichere Zukunft des Vereinigten Königreichs

Die britische Parlamentswahl hat deutlich illustriert, dass es nun endgültig kein nationa­les, territorial mindestens einigermaßen homogenes Parteiensystem im Vereinigten König­reich mehr gibt. Abbildung 1.1 zeigt eine Karte der britischen Wahlkreise, die nach den je­weils stärksten Parteien eingefärbt ist. Der Wahlsieger, die britischen Konservativen, ist nun eigentlich eine englische Partei. Das Blau der Tories dominiert weite Teile Englands, insbesondere die eher ländlichen Regionen in Süd- und Mittelengland. Labour, in rot dar­gestellt, konnte regionalisierte Hochburgen in weiten Teilen Londons, im Norden Eng­lands und im südlichen Wales verteidigen. Das früher von Labour dominierte Schottland ist nun beinah flächendeckend im gelb der SNP eingefärbt. Verglichen mit den vorherigen Wahlen, und auch verglichen mit dem Referendum vom September 2014, konnten sich die Links-Nationalisten deutlich steigern und beinah alle schottischen Wahlkreise mit teils er­heblichem Stimmenvorsprung gewinnen (detaillierte Resultate auf nationaler und auf Wahlkreisebene bei www.bbc.com/news/election/2015/results).

1.1 Stärkste Partei je Wahlkreis                                               1.2 Zweitstärkste Partei je Wahlkreis

Quelle: Kieran Healy, What the runners-up tell us about Britain‹s election, Washington Post vom 10. Mai 2015.
Die Abbildung zeigt 632 von 650 Wahlkreisen; die achtzehn nordirischen Wahlkreise haben ein eigenes, paralleles
Parteiensystem mit der Polarisierung der protestantischen Democratic Unionist Party und der katholischen Sinn Fein.

Abbildung 1.2 illustriert den politischen Wettbewerb und das politische Kräfteparallelo­gramm; sie ist nicht nach den jeweils stärksten, sondern den zweitstärksten Parteien je Wahlkreis eingefärbt. In Mittelengland ist das regelmäßig Labour, doch besonders im süd­lichen und östlichen England ist die ehemalige Arbeiterpartei oft nur mehr die drittstärks­te Kraft. Die violett eingefärbten Wahlkreise bezeugen weiterhin, dass die euroskeptische UKIP, obwohl sie nur ein Mandat gewonnen hat, weiterhin präsent und kampagnenfähig ist. UKIP-Kandidaten gelangten in etwa 120 englischen Wahlkreisen auf den zweiten Platz, und die Konservativen sind deshalb weiterhin unter Druck durch die euroskeptische Par­tei und das hohe euroskeptische Stimmenpotenzial. Selbst wer UKIP durch den Wahlaus­gang geschwächt sieht, wird die Option der baldigen Wiederbelebung durch das „Brexit“-Referendum und den zu erwartenden medialen Theaterdonner kaum als gering einschät­zen.
Diese beiden regionalen und politischen Pole markieren Spielfeld und Manövrierraum für Camerons Europapolitik. Die schottische SNP hat zwar nach dem verlorenen Referendum erklärt, das Thema der staatlichen Unabhängigkeit Schottlands sei damit für eine Genera­tion vom Tisch (so Alex Salmond in zahlreichen Interviews; vgl. The Scotsman vom 18. September 2014). Unter geänderten Kontextbedingungen könnte diese Forderung aber schnell wieder auf die Agenda gesetzt werden (so Aussagen aus der SNP; Guardian vom 13. Mai 2015). Die SNP hat mit Nicola Sturgeon eine neue, sehr populäre Vorsitzende, sie konnte ihre Wählerbasis nach dem Referendum noch einmal deutlich ausbauen, und das linke, SNP-geführte Schottland steht damit in einem noch schrofferem, sichtbarem Kontrast zum rechten, von den Tories dominierten England. Konflikte zwischen Schott­land und dem übrigen Vereinigten Königreich gehen deshalb deutlich hinaus über die simple Frage nach der nationalen Unabhängigkeit, und sie betreffen sozioökonomische Themen wie die Reform und den Leistungsumfang des Sozialstaats, die Regulierung von Banken und Wirtschaft und, nicht zuletzt, diametral unterschiedliche Positionen und Ziel­stellungen beim Thema Einwanderung.
Die schottische Politik lebt von der Einbettung in die Europäische Union und benötigt sie als Gegengewicht zum weiterhin reformresistenten britischen Zentralstaat. Sollte das „Bre­xit“-Referendum die europäische Perspektive Schottlands kappen, wäre die Annahme ei­nes zweiten Unabhängigkeitsreferendums wohl kaum mehr als eine Formalität. Gleich­wohl muss die zweite Regierung Cameron, auch wenn die britischen Wähler für einen Verbleib in der EU stimmen, vor dem schottischen Unabhängigkeitsreferendum gemachte Zusagen zügig und umfassend umsetzen und ihre Europapolitik mit einer weitgehenden Föderalisierung des Vereinigten Königreichs begleiten, die über die Qualität der bisheri­gen Devolution hinausgeht. Keine einfache Aufgabe für die Partei der Traditionsbewahrer.

3. Die unsichere Zukunft des „Vereinigten Königreichs“ im „vereinten Europa“?

Die Debatte um Großbritannien in Europa ist auf das unvermeidlich gewordene britische Referendum zentriert. Cameron hat den Euroskeptikern in der englischen Öffentlichkeit (und in seiner eigenen Partei) vor zwei Jahren ein in/out-Referendum unbedingt zugesagt. Freilich war dieses Referendumsversprechen nicht Baustein einer langfristig und planvoll angelegten Europastrategie, sondern wurde als eine Art Notbehelf gegen die aufstrebende UKIP und den zunehmend unzufriedenen rechten, euroskeptischen Parteiflügel der Tories hektisch improvisiert.
Obgleich das Referendum bis Ende 2017 geplant ist, erscheint ein früherer Termin möglich und wohl wahrscheinlich. Politik und Wirtschaft Großbritanniens würden durch eine fort­geschriebene, länger währende Situation der Unsicherheit tendenziell blockiert. Ohne über den Verbleib in der Europäischen Union, und damit beinah alle Rahmenbedingungen, si­cher zu sein, können politische Akteure keine langfristigen Projekte angehen, Unterneh­men nicht hinreichend sicher planen und keine langfristigen Engagements oder Investitio­nen beschließen. Referendum und Referendumskampagne im Jahr 2017 würden zudem terminlich mit den französischen Präsidentschaftswahlen (etwa im April oder Mai) und mit den deutschen Bundestagswahlen (etwa im September) kollidieren. In dieser Phase wären die beiden wichtigsten europäischen Verhandlungspartner durch die eigene Innen­politik und eigene Wahlkampagnen beschränkt. Britische Medien diskutieren deshalb be­reits über ein zügig, im Sommer 2016 organisiertes Referendum (vgl. etwa Guardian vom 15. Mai 2015).­­
Vor dem Referendum soll jedoch hart verhandelt werden, und konkrete Inhalte und Ziel­stellungen des „new deal“ für Großbritannien in der Eu­ropäischen Union sind weiter sehr unklar. Die Tories haben sich im Wahlkampf, abseits vom versprochenen Referendum, nur vage geäußert, Änderungen beim Reizthema Zuwanderung gefordert und wenig konkret vom Zurückholen irgendwelcher Kompetenzen aus Brüssel und der Errichtung von Schranken gegen eine weitere Integration Großbritanniens in die Europäische Union gere­det (The Conservative Election Manifesto, 72-74; einsehbar via https://www.conservatives.­com/manifesto).
Konkrete Verhandlungen werden sich mindestens auf die Zuwanderung von EU-Auslän­dern und ihre Teilhabe am britischen Sozialstaat beziehen. Bei den Konservati­ven ist bereits von einer vierjährigen Sperrfrist vor der Gewährung von Sozial- und Fami­lienleistungen die Rede. Initiativen darüber hinaus könnten die weitere Reduzierung oder min­destens die Deckelung des britischen EU-Beitrags und weitreichende Garantien zur „Ab­wehr“ sozioökonomischer Regulierungsmaßnahmen, insbesondere zum Schutz der Fi­nanzwirtschaft in der Londoner City, betreffen. Dies sind nur einige Elemente einer sum­marischen Zusammenstellung möglicher Forderungen durch die BBC (einsehbar bei www.bbc.com/news/uk-politics-32695399).
Substanzielle Behinderungen oder Einschränkungen des freien Personenverkehrs werden nicht nur bei den osteuropäischen Regierungen kaum durchsetzbar sein. Einigermaßen wenig verständlich ist zudem, dass sich Cameron frühzeitig auf die Forderung nach Än­derungen bei den formalen und vertraglichen Grundlagen der EU festgelegt hat (Financial Times vom 12. Mai 2015). Weil diese Änderungen durch jeden einzelnen Mitgliedsstaat ra­tifiziert werden müssten, und zwar teils wiederum durch Referenden, werden die übrigen Regierungen dem sicher nicht zustimmen, und zudem ist ein so aufwändiges Procedere mit dem engen Zeitplan, den Cameron selbst gesetzt hat, vollkommen unvereinbar.
Forderungen des euroskeptischen Parteiflügels gehen freilich deutlich über die Vorstellun­gen des Premiers hinaus. Einer ihrer Wortführer, David Davis, hat sofort deutlich gemacht, dass­ es den Euroskeptikern weniger um die Gewin­nung neuer Vetopositionen gegen Integrationsschritte der übrigen Mitgliedstaaten geht, sondern vielmehr um die Erreichung einer sehr umfassenden Option zum „opt out“ bei allen von der EU angestoßenen und/oder beschlossenen Legislativakten, die mit irgendwie definierten „nationalen Interessen“ Großbritanniens als unvereinbar verstan­den werden (The Independent vom 11. Mai 2015).
Die europäischen Partner werden sich sicher bemühen, Camerons neue Regierung mit einigen symbolischen Erfolgen auszurüsten, die er zuhause präsentieren kann. Came­rons Spielplan sieht offenbar vor, den Wahlsieg der Tories und die neugewonnene Parla­mentsmehrheit auszuspielen, um bei der Europäischen Union und bei den europäischen Partnern vorzeigbare Zugeständnisse zu erreichen, die ihm im zweiten Schritt ermöglichen, überzeugend für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union zu werben. Er wird dann darauf angewiesen sein, auch kleine, eher symbolische Zugeständnisse als große substanzielle Erfolge zu verkaufen.
Der Verhandlung folgt das Referendum, und natürlich hängt sein Ausgang auch davon ab, ob Cameron in Brüssel etwas herausholen konnte. Über den Ausgang zu spekulieren ist gegenwärtig aber sehr unsicher; nicht zuletzt die gerade vergangenen Wahlen haben ge­zeigt, dass Wahlen und Abstimmungen zunehmend weniger prognostizierbar und, aus Camerons Perspektive, nur schwer planbar und kaum lenkbar sind. Anfang 2015 schien sich eine potenzielle Mehrheit für einen Austritt anzudeuten, im Vorfeld der Wahl gaben mehr als vierzig Prozent der Befragten an, auf jeden Fall für den Verbleib in der EU stim­men zu wollen, während die übrigen sechzig Prozent etwa zu gleichen Teilen den „Bre­xit“ befürworteten oder unentschlossen waren (über die Zwischenstände informieren die re­gelmäßigen YouGov-Befragungen; https://yougov.co.uk/news/categories/europe/). Ab­hängig von der Qualität eines „new deal“ für Großbritannien, der Kampagne der Regie­rung und von der medialen Begleitmusik kann sich das jedoch schnell in die eine oder die andere Richtung ändern.
Vielleicht sollte noch hinzugesetzt werden, dass gleichermaßen Großbritannien und Schottland in der Vergangenheit „konservativ“ gewählt haben. Risi­koscheue Schotten sind im September letzten Jahres doch nicht aus der Union ausgetreten. Risikoscheue Engländer haben einen bekannten Premier mit einer recht mediokren Leis­tungsbilanz immer noch dem möglichen Wechsel hin zum Unbekannten vorgezogen. Viel­leicht wird es mit Blick auf das „Brexit“-Referendum risikoscheuen Briten gleichermaßen schwerfallen, die europäischen Perspektiven ihres vereinten Königreichs zu kappen und es alleine zu versuchen (zu allgemeinen Befunden der britischen Wahlforschung vgl. Whi­teley u.a. 2013).

Drei Unsicherheiten, kombiniert

Die britischen Konservativen stehen auch nach ihrem vermeintlich historischen Wahlsieg vor einem sehr komplexen Szenario: Die Diskussion um die europäische Zukunft Großbri­tanniens wird die britische Politik bis hin zum Referendum bestimmen. Die neue Regie­rung tut deshalb gut daran, ein schnelles, vorgezogenes Referendum zu suchen, um diese Phase von Lähmung und Handlungsunsicherheit für Politik und Wirtschaft zu verkürzen. Cameron hat sich freilich selbst in eine Art Handlungsnotstand gebracht, vor der Wahl einen Referendumstermin versprochen und nach der Wahl eine umfassende Vertragsrevi­sion als Verhandlungsziel definiert. Die beschriebenen Überlegungen, das Referendum vorzuziehen, forcieren diese etwas unglückliche Mixtur aus engem Terminplan und wohl zu ambitionierten Zielstellungen noch. Substanziell wäre eine britische Verhandlungsstra­tegie, die in einem so knappen Zeitfenster, auf umfassende (und durch die übrigen Mit­gliedstaaten formal ratifizierungspflichtige) Vertragsrevisionen zielt, sicher sehr unrealis­tisch und perspektivisch hochriskant.
Das zweite Kabinett Cameron sieht sich eingeklemmt in einem komplexen Kräfteparallelo­gramm zwischen UKIP und dem eigenen euroskeptischen Flügel auf der rechten und der SNP auf der linken Seite, und diese undurchsichtige Ausgangslage ist von Cameron ei­gentlich selbst herbeigeführt worden. Dennoch sind die europäischen Partner gut beraten, auf die Ausgangssituation der britischen Regierung einzugehen und ihr schnell Verhand­lungserfolge unterhalb der Vertragsrevision zu ermöglichen. Viel mehr als symbolisch ver­wertbare Erfolge kann die Union aber wohl nicht anbieten. In der gegenwärtigen Phase fortgeschriebener Stagnation des Integrationsprojekts und fortgeschriebener Probleme im Euroraum steht die EU selbst zu sehr unter Stress, um sich auf eine schnelle Neuverhand­lung vertraglicher Grundlagen mit folgendem Ratifizierungsprozess einzulassen. Damit scheinen die Weichen gestellt für eine Reihe kontroverser Verhandlungsrunden in Brüssels Hinterzimmern.

  • Johnston, Ron (2015), Which Map? Which Government? Malapportionment and Gerry­mandering, UK-Style, Government and Opposition 50(1), 1-23.
  • Whiteley, Paul, Harold D. Clarke und David Sanders (2013), Affluence, Austerity and Electo­ral Change in Britain, Cambridge: Cambridge University Press.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Tiemann, G. (2015). Großbritannien in Europa? Unsicherheit auf drei Ebenen. ÖGfE Policy Brief, 18’2015

Dr. Guido Tiemann

Dr. Guido Tiemann arbeitet als Politikwissenschaftler am Institut für Höhere Studien in Wien. Seine Forschungsinteressen umfassen Methoden der empirischen Sozialforschung, formale Modelle von Wahlverhalten und Parteistrategie und politische Konsequenzen von Wahlsystemen.