Geht’s der Wirtschaft gut, sollten wir Arbeitsmigration ganzheitlich betrachten

Handlungsempfehlungen

  1. Der politische Diskurs sollte weniger auf die „Verdrängungsdebatte“ sondern mehr auf das Thema Sozialdumping fokussieren.
  2. Arbeitsrechtliche Vorgaben sollten strenger geregelt und intensiver kontrolliert werden, um die Anstellung von Arbeitskräften „zweiter Klasse“ zu erschweren.
  3. Europäische Gewerkschaften benötigen eine Stärkung ihrer transnationalen Ressourcen und Strategien, um die Interessen der ArbeitnehmerInnen auf grenzübergreifenden Märkten vertreten zu können.

Zusammenfassung

Haben die ÖsterreicherInnen durch die EU-Osterweiterung ihre Arbeit verloren? Zum Teil ja. Statt über Verdrängung sollte man aber über Unternehmen debattieren, die bewusst Standards des Arbeits- und Sozialrechts unterwandern. Denn Sozialdumping ist kein schier unveränderbarer Zustand, den EU-MigrantInnen verursachen. UnternehmerInnen ziehen in der Praxis großen Nutzen aus der Perspektivenlosigkeit von benachbarten Arbeitskräften. Osteuropäische ArbeiterInnen dienen als flexibler Arbeitskräftepool für wirtschaftlich starke EU-Länder – häufig ohne rechtliche Absicherung. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung und antieuropäischer Ressentiments wäre es wichtig, den Fokus der Debatte zu verändern. Statt zu fragen, ob osteuropäische Arbeitskräfte das Lohnniveau in Österreich drücken, sollten wir uns der Frage widmen, ob UnternehmerInnen die hier geltenden sozialrechtlichen Standards unterwandern. Die Konfliktlinie, anhand welcher der Diskurs verlaufen sollte, ist demnach nicht „ÖsterreicherInnen“ versus „EU-MigrantInnen“, sondern „ArbeitnehmerInnen“ versus „UnternehmerInnen, die arbeitsrechtliche Vorgaben nicht einhalten“.

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Geht’s der Wirtschaft gut, sollten wir Arbeitsmigration ganzheitlich betrachten

Nach der Arbeitsmarktöffnung 2011 hat auch der Fall der Barrieren für bulgarische und rumänische Arbeitskräfte 2014 wieder Anstoß für Debatten gegeben. Mit Schlagwörtern wie „Massenansturm“ oder „Verdrängung“ wurde mediale Panikmache betrieben. Dem gegenüber werden immer wieder Arbeitsmarktanalysen hochgehalten, die die volkswirtschaftlich positiven Seiten von innereuropäischer Arbeitsmobilität hervorstreichen.
Inwieweit hat sich nun aber der österreichische Arbeitsmarkt seit der Grenzöffnung tatsächlich verändert? Haben ÖsterreicherInnen durch die EU-Osterweiterung ihre Arbeit verloren? Fand die im Voraus vielfach diskutierte Verdrängung im Niedriglohnsektor statt? Hier ist es entscheidend, eine differenzierte Betrachtungsweise einzunehmen.

Verdrängung durch offene Grenzen?

Erstens ist es nicht nur die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen, die den Arbeitsmarkt verändert. Auch offene Warenmärkte und verstärkter grenzüberschreitender Konsum führen zu neuen Dynamiken. In Grenzorten in Niederösterreich und im Burgenland ist die Nachfrage nach Arbeitskräften gestiegen, die neben deutsch auch slowakisch oder ungarisch sprechen, um fit für die Kundschaft aus den Nachbarländern zu sein. Derartige Fremdsprachenkenntnisse sind in Österreich eher Merkmal von hochqualifizierten Fachkräften, weshalb es für geringqualifizierte Ansässige in manchen Bereichen im Handel oder Service schwieriger geworden ist.

Es ist nicht nur die Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen, die den Arbeitsmarkt verändert.

Zudem sind neue Nischen entstanden. Tätigkeiten in Haushalt und Pflege werden in der österreichischen Mittelschicht immer häufiger auf ökonomisch benachteiligte Zuwanderinnen verlagert, meist ohne rechtliche und soziale Absicherung (Weicht/Österle 2016). Demnach findet eine „ethnisierte Umverteilung“ (Degele/Winkler 2011: 77) von Hausarbeit innerhalb der Gruppe der Frauen statt. Hier kann man eher von Ersatz als von Verdrängung sprechen, da diese Arbeit zuvor unbezahlt von ansässigen Frauen durchgeführt worden ist. Damit erfolgt in Österreich eine scheinbare Angleichung der Geschlechterungleichheit durch Entlastung „unserer“ Frauen auf Kosten „anderer“ Frauen.
Die Freizügigkeit bringt aber auch tatsächlich nachteilige Effekte für bestimmte Berufssparten, wie z.B. FreiberuflerInnen in persönlichen Dienstleistungsbereichen. Eine selbstständige Kosmetikerin im Burgenland wird durch das weitaus günstiger angebotene Service der ungarischen Konkurrenz ihren Lebensunterhalt kaum mehr bestreiten können.

Unternehmen: Der blinde Fleck im Diskurs

Was in der Debatte auffällt: Wenn es um Lohndruck durch Arbeitskräfte aus Osteuropa geht, werden immer wieder zwei Problemfelder thematisiert: Europäisierung und EU-MigrantInnen. Sozialdumping wird im öffentlichen Diskurs als exogener unveränderbarer Zustand thematisiert, den EU-MigrantInnen verursachen. Kaum jemand spricht über jene UnternehmerInnen, die EntscheidungsträgerInnen in dieser Sache sind. In der Praxis ziehen sie großen Nutzen aus der Perspektivenlosigkeit von benachbarten Arbeitskräften. In der Baubranche gibt es zum Beispiel Firmen, die die Lohnabrechnung offiziell nach Kollektivvertrag durchführen, aber monatlich von ihren MitarbeiterInnen 400 Euro in bar retour verlangen (Wiesböck 2016).

Sozialdumping wird im öffentlichen Diskurs als exogener unveränderbarer Zustand thematisiert, den EU-MigrantInnen verursachen.

Andere UnternehmerInnen bezahlen osteuropäische ArbeitnehmerInnen für weitaus weniger Stunden, als sie tatsächlich beschäftigt sind. Ein Indiz dafür: Vor der Arbeitsmarktöffnung 2011 war die Beschäftigungsbewilligung in Österreich an einen 40 Stunden Vertrag verknüpft. Mit der Auflösung dieser Auflage im Zuge der Öffnung wurden viele ArbeitnehmerInnen auf 20 Stunden oder weniger umgemeldet – für denselben Job (Wiesböck 2016).
Auch einzelne Betriebe in Branchen wie Gastronomie, Hotellerie oder Transportgewerbe sind von der Einhaltung arbeitsrechtlicher Standards weit entfernt, Stichwort Überstundenabgeltung, Urlaubsanspruch, 13. und 14. Monatsgehalt sowie Mutterschutz. Und dabei reden wir hier von Arbeitskräften in einem formalen Dienstverhältnis.
So manche ungarische ErntehelferInnen im Burgenland bekommen einen Stundenlohn von rund drei Euro in bar und arbeiten häufig auf Feldern ohne Zugang zu Toiletten oder fließendem Wasser. Diese Verhältnisse betreffen nebenbei bemerkt keineswegs nur osteuropäische ArbeiterInnen – man erinnere sich an die Enthüllungen über die Arbeitsbedingungen spanischer Zeitarbeitskräfte in Amazon-Lagern in Deutschland.

Niedriglohnsektor für heimische Arbeitskräfte unattraktiv

Unabhängig davon gibt es aber auch ArbeitgeberInnen, die Arbeitskräfte aus den benachbarten Ländern ordnungsgemäß beschäftigen. Häufig berichten sie davon, kein qualifiziertes Personal vor Ort zu finden. Osteuropäische Beschäftigte sind ihren Angaben zufolge großteils besser ausgebildet als lokal ansässige. Zudem ist ihre Bereitschaft für Mobilität höher. Insgesamt werden sie als fleißiger und motivierter wahrgenommen als lokale Arbeitskräfte, die als wenig engagiert und zu anspruchsvoll gelten (Wiesböck 2016).
Überraschen kann dieser Eindruck kaum. Dass es z.B. unattraktiv ist, manuelle Tätigkeiten im verarbeitenden Gewerbe auszuführen, ohne Aussicht auf Aufstiegsmöglichkeiten, und dabei trotz Vollzeitbeschäftigung an der Armutsgrenze zu leben, ist wenig verwunderlich. Ein Beschäftigungsbonus, der die in Österreich Arbeitslosen gegenüber neu Zuziehenden bevorzugt, indem den Unternehmen für sie drei Jahre lang die Hälfte der Lohnnebenkosten erlassen werden, kann dieses Problem aber nicht lösen. Und selbst in Kombination mit einem Mindestlohn von € 1.500 ist fraglich, ob und wie lange dieser Ansatz funktionieren kann. Denn durch fortschreitende Digitalisierungsprozesse und Automatisierungstechniken stehen wir weitgreifenden Transformationen am Arbeitsmarkt gegenüber, und damit einem Verlust von Jobs, insbesondere im Dienstleistungsbereich. Oder in den Worten des Philosophen Richard David Precht: „Wir versuchen im Moment den Arbeitsmarkt von gestern mit einem Mindestlohn zu stabilisieren. […] Was wir im Augenblick machen: wir dekorieren auf der Titanic die Liegestühle um.”

EU-MigrantInnen: Halber Lohn, dennoch zufrieden

Für EU-MigrantInnen zeichnet sich ein anderes Bild. Sie können den vergleichsweise höheren Lohn mit den geringeren Lebenserhaltungskosten in ihrer Herkunftsregion finanziell positiv nutzen. Ihre Arbeitstätigkeiten nehmen für sie auch in geringerem Ausmaß eine identitätsstiftende Funktion ein, da sie ihr soziales Leben und ihr Ansehen nicht damit verknüpfen.
Dennoch verdienen sie trotz guter Qualifikation und Engagement im Schnitt um die Hälfte weniger als ansässige ArbeitnehmerInnen in derselben Branche (Wiesböck et al 2016). So werden Arbeitserfahrungen, die sie im Ausland gemacht haben, im Kollektivvertrag nicht angerechnet oder sie werden in den unteren Positionen der Hierarchie beschäftigt.
Unzureichende Arbeitsbedingungen werden von vielen EU-MigrantInnen in Kauf genommen, da die sozialen Standards in den Herkunftsländern meist noch niedriger sind, sie rechtlich nicht ausreichend informiert sind oder aus existenziellen Gründen vom Einkommen abhängen.

Wirtschaftlicher Zweckverband oder politische Union?

Die EU weist nach den letzten Erweiterungsrunden hohe Wohlstandsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten auf. Berufliche Mobilität, ein zentrales Ziel zahlreicher politischer EU-Programme, wird in diesem Kontext häufig als win-win-win Situation angepriesen: die wirtschaftliche Situation der mobilen ArbeiterInnen verbessere sich, das Herkunftsland profitiere von finanziellen Rückflüssen und das Zielland von der gewonnenen Arbeitskraft. Alles dient dem gemeinsamen Wirtschaftswachstum, alle profitieren davon, so die Idee, so das Ideal.
Mobilität erfolgt dabei ganz nach den ökonomischen Spielregeln offener Märkte. Überspitzt ausgedrückt: gibt es Nachfrage so stehen flexible ArbeiterInnen zur Verfügung, lässt die Nachfrage nach so werden sie wieder zurückgeschickt – ohne dass man sich mit Integrationsfragen belasten müsste oder staatsbürgerschaftliche Ansprüche gestellt werden. Diese neue Art des Migrationsmanagements entspricht dem Flexibilitätsparadigma, das in den globalisierten Finanz-, Kapital- und Warenmärkten Europas seit Jahrzehnten vorherrscht.

Arbeitskräfte zweiter Klasse?

Bereits 2008 kennzeichnete der Soziologe Adrian Favell die Arbeitsmarktstrukturen des neuen Ost-West-Mobilitätssystems als potenzielle Strukturen der Ausbeutung und sozialen Exklusion. Die vielfach ambitionierten „neuen EuropäerInnen“ würden seinen Überlegungen zufolge Gefahr laufen, eine neue „viktorianische Dienstklasse“ für die „westeuropäische Aristokratie“ zu bilden. Zahlreiche Studien bestätigen die allgemein hohen Qualifikationen der mobilen OsteuropäerInnen sowie die häufige Entwertung dieser Qualifikationen durch die überwiegende Beschäftigung in den Branchen Gastronomie und Hotellerie, Baugewerbe, Produktion und Pflege.

Haben wir also nicht bereits eine Kategorie von Arbeitskräften zweiter Klasse geschaffen?

Haben wir also nicht bereits eine Kategorie von Arbeitskräften zweiter Klasse geschaffen? Und kommt es dadurch zu neuen sozialen Spaltungslinien innerhalb des europäischen Niedriglohnsektors? Fragen wie diese müssen fester Bestandteil der öffentlichen Debatte werden, um von der eindimensionalen Betrachtung des nationalen und des „gemeinsamen“ Bruttoinlandsprodukts weiterzukommen zu einem umfassenden Diskurs über eine wirtschaftliche, soziale und politische Union.

Weg von „Verdrängungsdebatte“

Insgesamt lässt sich feststellen: Die Arbeitskräftefreizügigkeit stärkt die Position von UnternehmerInnen und schafft neue Ungleichgewichte auf europäischen Arbeitsmärkten. Osteuropäische EinwanderInnen dienen als flexibler Arbeitskräftepool für wirtschaftlich starke EU-Länder. Verdrängungsdebatten oder Rufe nach Abgrenzung sind da aber keine Lösung.
Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung wäre es wichtig, den Fokus der Debatte zu verändern. Statt zu fragen: „Drücken osteuropäischen Arbeitskräfte das Lohnniveau in Österreich?“, sollten wir uns die Frage stellen: „Unterwandern UnternehmerInnen die hier geltenden sozialrechtlichen Standards?“
Die Konfliktlinie, anhand die der Diskurs verlaufen sollte, ist demnach nicht „ÖsterreicherInnen“ versus „EU-MigrantInnen“, sondern „ArbeitnehmerInnen“ versus „UnternehmerInnen, die sozialpartnerschaftliche Standards und arbeitsrechtliche Vorgaben nicht einhalten“. Um antieuropäischen Ressentiments und ethnischen Spannungen im europäischen Niedriglohnbereich entgegen zu wirken, sollten die Rechte von EU-ArbeitnehmerInnen gestärkt und geschützt werden – unabhängig ihrer nationalen Herkunft.

  • Degele, Nina; Winkler, Gabriele (2011): Intersektionalität als Beitrag zu einer gesellschaftstheoretisch informierten Ungleichheitsforschung. Berliner Journal für Soziologie, H. 21, 69-90.
  • Favell Adrian (2008): The New Face of East–West Migration in Europe. Journal of Ethnic and Migration Studies 34 (5): 701-716.
  • Precht, Richard David (2017): Die Zukunft der Arbeit. „Wir dekorieren auf der Titanic die Liegestühle um“. Deutschlandfunk, 07.06.2017, Link: http://www.deutschlandfunk.de/die-zukunft-der-arbeit-wir-dekorieren-auf-der-titanic-die.911.de.html?dram:article_id=385022
  • Weicht, Bernhard / Österle, August (Hg.) (2016): Im Ausland zu Hause pflegen. Die Beschäftigung von MigrantInnen in der 24-Stunden-Betreuung. Wien: LIT-Verlag.
  • Wiesböck, Laura (2016): A preferred workforce? Employment practices in the Central European region regarding East-West cross-border labour commuters. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 41 (4): 391-407.
  • Wiesböck, Laura / Reinprecht, Christoph / Haindorfer, Raimund / Verwiebe, Roland (2016): Cross-border commuting and transformational dynamics in the Central European Region. What is the link? In: Amelina, Anna / Horvath, Kenneth / Meeus, Bruno (eds.), An Interdisciplinary Anthology of Migration and Social Transformation: European Perspectives (187-200). Amsterdam: Amsterdam University Press.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die die Autorin arbeitet, überein.
Schlagworte
EU-Arbeitsmigration, Lohndumping, Transnationale Arbeitsmärkte
Zitation
Wiesböck, L. (2017). Geht’s der Wirtschaft gut, sollten wir Arbeitsmigration ganzheitlich betrachten. Wien. ÖGfE Policy Brief, 20’2017

Laura Wiesböck

Laura Wiesböck ist Soziologin an der Universität Wien. Sie absolvierte ihr Studium in Wien mit Auslandsaufenthalten in Louvain La Neuve, Oxford und New York. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen soziale Ungleichheit, Migration und Europäisierung. Ihre Doktorarbeit über die Auswirkungen der Grenzöffnung auf den österreichischen Arbeitsmarkt wurde 2016 mit dem Theodor Körner Preis ausgezeichnet.