Europäisches Semester neu: Nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in den Mittelpunkt rücken

Handlungsempfehlungen

  1. Die politische Verpflichtung der neuen EU-Kommission, das Europäische Semester neu auszurichten, sollte nicht nur zu einzelnen neuen Schwerpunkten führen. Vielmehr sollte der jährliche Prozess grundlegend reformiert und deutlich demokratischer gestaltet werden.
  2. Die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen sollte dabei als übergeordnetes Ziel verankert und kohärent verfolgt werden.
  3. In diesem Rahmen braucht es Räume für evidenzbasierte Debatten mit Hilfe ambitionierter Teilziele und geeigneter Indikatoren.

Zusammenfassung

Gesellschaftliches Wohlergehen, nachhaltige Entwicklung und soziale Rechte gewinnen in der Zielformulierung der europäischen Institutionen zuletzt an Bedeutung, u.a. im Rahmen des Projekts eines „europäischen Grünen Deals“. Das Europäische Semester – der zentrale politische Steuerungsprozess der EU – ist allerdings noch nicht kohärent auf diese Zielsetzungen ausgerichtet. Wenn die in den EU-Verträgen verankerten Ziele des „Wohlergehens“, der „nachhaltigen Entwicklung“ und des „sozialen Fortschritts“ tatsächlich in den Mittelpunkt der EU-Politik gerückt werden sollen, müssen sie auch übergeordnete Ziele innerhalb des Europäischen Semesters darstellen. In dem jährlichen Prozess haben jedoch nach wie vor restriktive Fiskalregeln und sogenannte (auf ein verkürztes Bild von Wettbewerbsfähigkeit abzielende) „Strukturreformen“ die Rolle maßgeblicher Orientierungspunkte.
Mit dem im Dezember 2019 eingeleiteten Europäischen Semester 2020 sind erste Schritte in Richtung einer stärkeren Gewichtung nachhaltiger Entwicklung zu erkennen – die jedoch widersprüchlich bleiben. Ein erster Gradmesser für die Ernsthaftigkeit der Reform werden die länderspezifischen Empfehlungen im Frühjahr sein. Weitere, umfassendere Schritte sollten spätestens mit dem im Herbst startenden neuen Zyklus des Europäischen Semesters verankert werden. Es gilt, die nachhaltige Entwicklung von gesellschaftlichem Wohlstand und Wohlergehen als zentrales Ziel des Europäischen Semesters zu verankern, Räume für evidenzbasierte Debatten – u.a. über geeignete Maßnahmen und Zielkonflikte – zu eröffnen sowie Entscheidungen demokratischer zu treffen.

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Europäisches Semester neu:

Nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in den Mittelpunkt rücken

„Ich will, dass Europa noch mehr erreicht, wenn es um soziale Gerechtigkeit und Wohlstand geht“, verkündete Ursula von der Leyen (2019: 9) als Kandidatin für das Amt der Kommissionspräsidentin gegenüber dem Europäischen Parlament. „Denn unsere Union fußt auf diesem Gründungsversprechen“ (ebd.). Die politischen Leitlinien, mit denen von der Leyen um die Zustimmung des Europäischen Parlaments warb, enthalten zudem das Versprechen, „das Europäische Semester entsprechend den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung neu aus[zu]richten“ (ebd.: 10) – ein Ziel, das beispielsweise bereits von der „Unabhängigen Kommission für Nachhaltigkeit und sozialen Zusammenhalt“ (vgl. Feigl/Hofmann 2019) vorgeschlagen wurde.
Die ambitioniert formulierten Ankündigungen ergänzen die politischen Ansagen der im Oktober 2019 vom Rat beschlossenen Schlussfolgerungen zur „Ökonomie des Wohlergehens“ (Rat der Europäischen Union 2019). Diese geben die Ausrichtung vor, „die Menschen und ihr Wohlergehen in den Mittelpunkt der Politik und der Entscheidungsfindung“ (ebd.: 2) zu stellen.

Jedoch waren Ansagen, die soziale Dimension der EU zu stärken, bereits bislang laufend Bestandteil zahlreicher ‚EU-politischer Sonntagsreden‘.

Auf den ersten Blick wirkt es, als wären die Appelle der sogenannten „Beyond GDP“-Debatte (siehe etwa Stiglitz et al. 2018), ganzheitlichere ökonomische Konzepte als Grundlage für die wirtschaftspolitische Politikgestaltung heranzuziehen, nun bei den Spitzen der EU-Institutionen angekommen. Jedoch waren Ansagen, die soziale Dimension der EU zu stärken, bereits bislang laufend Bestandteil zahlreicher „EU-politischer Sonntagsreden“. „Unter der Woche“ – also im laufenden politischen Prozess, insbesondere innerhalb des sogenannten Europäischen Semesters, des zentralen EU-Steuerungsrahmens – bestimmen dann jedoch oftmals die Einhaltung von restriktiven Fiskalregeln und die Umsetzung angebotsseitiger Reformen der Wirtschaftsstruktur die Agenda.
Sind die aktuellen Ansätze ausreichend, um das Europäische Semester tatsächlich in Richtung gesellschaftlichen Wohlergehens neu auszurichten? Welche Defizite weist die Ausgestaltung des Steuerungsprozesses derzeit auf, die es zu überwinden gilt? Und welche Ansätze könnten dazu beitragen, eine substanzielle Neuausrichtung des Europäischen Semesters tatsächlich einzuleiten?

Soziale Ziele im Schatten restriktiver Fiskalregeln

Die EU verfügt über ein breites Repertoire an allgemein formulierten sozialen Zielsetzungen – darunter die im EU-Primärrecht verankerten Ziele des „Wohlergehen[s]“ (Art. 3 Abs. 1 EUV), des „sozialen Fortschritt[s]“ und der „sozialen Gerechtigkeit“ (Art. 3 Abs. 3 EUV). Die im November 2017 proklamierte „europäische Säule sozialer Rechte“ stellt die letzte größere Initiative in diesem Zusammenhang dar. Das Dokument enthält Prinzipien zu einer Reihe von sozial- und beschäftigungspolitischen Politikbereichen – hat jedoch einen rechtlich unverbindlichen Charakter (Soukup 2019: 21).
Bestimmt wird die gesamthafte sozioökonomische Ausrichtung der EU-Politik jedoch bereits seit mehreren Jahrzehnten von den Leitzielen Wirtschaftswachstum, Wettbewerbsfähigkeit und „schwarze Null“, die tief in der politischen Steuerungsarchitektur der EU verankert sind. Wesentliche Weichenstellungen in diese Richtung wurden Anfang der 1990er mit der Einigung auf eine Wirtschafts- und Währungsunion getroffen. Diese enthielt bereits wesentliche Elemente des heutigen Steuerungsrahmens, einschließlich des Fokus auf restriktive Regeln zur Einschränkung nationaler Budgetpolitik. Gleichzeitig wurde mit dem Weißbuch der EU-Kommission „Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung“ erstmalig eine Entwicklungsstrategie bis zum Ende des laufenden Jahrzehnts vorgelegt, welche die politische Agenda der kommenden Jahre bestimmen sollte. Die darauffolgenden Weiterentwicklungen des wirtschaftspolitischen Steuerungsrahmens – mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) und seinen unzähligen Überarbeitungen bzw. Verschärfungen sowie der Lissabon- und der Europa-2020-Strategie – stellten zumeist inhaltlich ein „more of the same“ dar.

Das Europäische Semester in der Vergangenheit:
einseitig und technokratisch

Das seit 2011 bestehende Europäische Semester wurde mit dem Anspruch geschaffen, die laufende politische Steuerung in der EU kohärenter zu gestalten. Die wirtschaftspolitischen Aktivitäten auf europäischer und nationaler Ebene sollen seitdem – theoretisch basierend auf der mittelfristigen Europa-2020-Strategie – zusammengeführt und besser abgestimmt werden, sowohl inhaltlich als auch zeitlich. Im Laufe der Jahre wurden die Analysen und Empfehlungen in der Praxis auf weitere Bereiche wie die Beschäftigungs- und Sozialpolitik ausgeweitet. Gestartet wird im Herbst mit den generellen Prioritäten für die EU bzw. die Eurozone. Nach Diskussionen und den formellen Beschlüssen im Rat folgt eine länderspezifische Phase: Eingeleitet von den Länderberichten folgen die Pläne der Mitgliedstaaten für wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitische Maßnahmen und schließlich vor der Sommerpause die Empfehlungen, gewissermaßen „Politikaufträge“ (einschließlich der Auflagen aus dem SWP) seitens der EU an die nationalen Regierungen.
In seiner jetzigen Form ist das Europäische Semester ein mittlerweile etablierter Abstimmungsprozess und somit ein wesentliches Instrument der Politikgestaltung. In der Praxis weist es jedoch drei Hauptprobleme auf:

  • Anstatt den Fokus auf nachhaltigen Wohlstand und Wohlergehen – basierend auf einer umfassenden sozialen, ökologischen und ökonomischen Perspektive – zu rücken, steht oftmals eine einseitig auf BIP-Wachstum, Wettbewerb und Austerität ausgelegte Wirtschaftspolitik im Vordergrund.
  • Der Prozess ist technokratisch und wenig partizipativ: Weder das Europäische noch die nationalen Parlamente spielen eine entscheidende Rolle. Sozialpartner und andere wichtige Interessengruppen werden bestenfalls angehört, abweichenden Meinungen jedoch oftmals zu wenig Raum gegeben.
  • In der länderspezifischen zweiten Semesterhälfte geht die gesamteuropäische Orientierung oftmals verloren. Beispielsweise kommt in den Länderanalysen selten vor, was im einzelnen Mitgliedstaat für eine aus gesamteuropäischer Sicht empfehlenswerte Lohn- oder Budgetpolitik getan werden kann. Stattdessen bleibt die Darstellung oft darauf reduziert, wie das einzelne Land gemessen an den anderen Einzelstaaten oder bestimmten Vorgaben abschneidet.

Sozial-ökologische Akzente sind noch keine Reform

Erste Verbesserungen brachten in den letzten Jahren bereits einzelne Anpassungen im Europäischen Semester auf der Grundlage der europäischen Säule sozialer Rechte.

Diese Probleme gilt es zu überwinden, sofern das Europäische Semester als Instrument für die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen genutzt werden soll. Erste Verbesserungen brachten in den letzten Jahren bereits einzelne Anpassungen im Europäischen Semester auf der Grundlage der europäischen Säule sozialer Rechte. Dazu zählen der größere Fokus, der durch das sozialpolitische Scoreboard auf die Darstellung von sozialen und beschäftigungsbezogenen Indikatoren gerichtet wird, sowie zum Teil zusätzliche an einzelne Mitgliedstaaten gerichtete Empfehlungen, Sozialleistungen zu verbessern.

Auch die Ende Februar 2020 veröffentlichten Länderberichte lösen den Anspruch einer tatsächlichen Neuausrichtung des Europäischen Semesters nicht ein.

Mit dem aktuellen Herbstpaket führte die Kommission weitere Neuerungen ein. So wurde aus dem bisherigen „Jahreswachstumsbericht“ die „Jährliche Strategie für nachhaltiges Wachstum“ (Europäische Kommission 2019). Diese erhebt den Anspruch, die UN-Ziele zur nachhaltigen Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) als übergeordnete Orientierung zu verfolgen. Soziale und ökologische Ausrichtungen werden in der neuen Strategie stärker als bisher betont und gemeinsam mit der bisherigen wirtschaftspolitischen Orientierung zu einem neuen Modell verschmolzen, welches die vier Dimensionen „Ökologische Nachhaltigkeit“, „Produktivitätswachstum“, „Gerechtigkeit“ und „Makroökonomische Stabilität“ umfasst. Diese Zusammenführung der „alten“ Wirtschaftspolitik mit einem neuen auf nachhaltige Entwicklung abzielenden Paradigma führt jedoch – den Innovationen zum Trotz – zu sichtbaren Widersprüchen, die sich etwa im neuen paradoxen Leitbegriff „wettbewerbsfähige Nachhaltigkeit“ widerspiegeln. Denn die zentrale Prämisse der neuen Strategie, wonach „Wirtschaftswachstum […] kein Selbstzweck“ sei und „vielmehr […] die Rechnung für die Menschen und den Planeten aufgehen“ (ebd.: 1) müsse, lädt eigentlich dazu ein, bisherige Konzepte, die verengt auf Kürzungen öffentlicher Haushalte und auf die preisliche Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen fokussieren, zu hinterfragen – anstatt diese fortzusetzen und sie lediglich durch neue Ziele zu ergänzen. Auch die Ende Februar 2020 veröffentlichten Länderberichte lösen den Anspruch einer tatsächlichen Neuausrichtung des Europäischen Semesters nicht ein. In der „Jährlichen Strategie für nachhaltiges Wachstum“ bezeichnete die EU-Kommission die Integration der UN-Ziele zur nachhaltigen Entwicklung als „eine einzigartige Gelegenheit, die Menschen, ihre Gesundheit und unseren Planeten ins Zentrum der Wirtschaftspolitik zu rücken“ (ebd.: 4). Würde diese Gelegenheit zielgerichtet genutzt, müsste das Wohlergehen der Menschen und ihrer Lebensumwelt tatsächlich jene Zielsetzung darstellen, der bei einer Abwägung unterschiedlicher Ausrichtungen die höchste Priorität zuteil wird.

Die geänderte Struktur der Länderberichte beschränkt sich jedoch im Wesentlichen auf ein zusätzliches – relativ knapp gehaltenes – Kapitel zur ökologischen Nachhaltigkeit und die Kennzahlen des SDG-Scoreboards von Eurostat (2019). Letztere werden jedoch in keine Analyse eingebettet, weder in Bezug auf die Wechselwirkungen zwischen den Zielen und Indikatoren im Scoreboard selbst bzw. mit anderen Teilen der Länderberichte noch bezüglich der Ursachen für fehlenden Fortschritt zur Erreichung der SDGs. Darüber hinaus ist mehr noch als bei anderen Reformprioritäten der auf Klimaschutz fokussierte umweltpolitische Abschnitt des Länderberichts für Österreich (Europäische Kommission 2020) eher eine thematische Rundschau als eine fokussierte Gesamtanalyse. Die heuer gesetzten Neuerungen sollten jedenfalls nicht den Standard für die Folgejahre definieren, sondern – in Anbetracht der knappen Vorbereitungszeit nach dem Amtsantritt der neuen Kommission – lediglich erste Schritte in Richtung einer umfassenden und kohärenten Reform des Europäischen Semesters darstellen.

Wesentlich wäre es aber vor allem, grundlegend neue Empfehlungen zu erarbeiten, die einer klaren Ausrichtung auf die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen entspringen.

Den nächsten relevanten Gradmesser, um den Reformwillen der Kommission beurteilen zu können, werden die für Mai 2020 erwarteten Kommissionsvorschläge für die länderspezifischen Empfehlungen darstellen. Der bereits vorliegende Entwurf für die Empfehlungen an die Eurozone deutet darauf hin, dass im Wesentlichen mit etwas ausführlicher formulierten „Vorgaben“ zu rechnen ist, die soziale und ökologische Aspekte stärker betonen. Wesentlich wäre es aber vor allem, grundlegend neue Empfehlungen zu erarbeiten, die einer klaren Ausrichtung auf die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen entspringen. Beispielsweise ginge es darum, Prioritäten für effektive wohlstandsfördernde Budgetpolitik zu definieren, anstatt innerhalb der übergeordneten Vorgaben für Defizite und Verschuldung nach wohlstandsfördernden Spielräumen zu suchen.

Ein Europäisches Semester mit Fokus auf nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen

Insbesondere die Vorbereitungszeit auf den nächsten Zyklus des Europäischen Semesters gilt es zu nutzen, um substanzielle Schritte in Richtung einer umfassenden Neuausrichtung nicht nur des Europäischen Semesters, sondern der wirtschaftspolitischen Steuerungsarchitektur insgesamt einzuleiten. Die eben erst gestartete Konsultation der Europäischen Kommission auf Basis ihrer –eher enttäuschenden – Überprüfung der „Economic Governance“ bildet hier ebenso einen Ansatzpunkt wie die Mitteilungen zum „europäischen Grünen Deal“ und zu einem „starken sozialen Europa“. Im Folgenden sollen Ansätze für wesentliche Änderungen dargestellt werden, die Schritte in Richtung einer Fokussierung des Europäischen Semesters auf eine nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen darstellen können.

Demokratischer gestalten

Über die unmittelbaren Handlungsnotwendigkeiten hinaus ist jedenfalls sicherzustellen, dass die Parlamente in sämtlichen Phasen des Europäischen Semesters mitentscheiden.

Der Prozess des Europäischen Semesters muss deutlich demokratischer gestaltet werden. Das Europäische Parlament kann derzeit im Europäischen Semester lediglich seine Meinung abgeben, aber nicht mitentscheiden. Die Kommission hat bereits angekündigt, das Parlament in den Prozess informell stärker einzubinden. Weitergehende Schritte wären aber bereits derzeit möglich. So könnte sich die Kommission etwa dazu verpflichten, die Inhalte von Entschließungen des EU-Parlaments zum Europäischen Semester bei der Erstellung von Kommissionsdokumenten im Steuerungsprozess zu berücksichtigen. Darüber hinaus sollen die Sozialpartner und andere zivilgesellschaftliche Akteure (wie etwa der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und die Multi-Stakeholder-Plattform zu den SDGs) nicht nur angehört, sondern tatsächlich einbezogen werden, indem Vorschläge zur Konkretisierung der Nachhaltigkeitsausrichtung aufgegriffen werden. Über die unmittelbaren Handlungsnotwendigkeiten hinaus ist jedenfalls sicherzustellen, dass die Parlamente in sämtlichen Phasen des Europäischen Semesters mitentscheiden.

Nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen als zentrales Ziel verankern

Anstatt sich auf verengte Reformprioritäten zu fokussieren, sollte die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen als zentrale Zielsetzung des Europäischen Semesters verankert werden.

Darüber hinaus kann von einer echten Neuausrichtung des Europäischen Semesters nur gesprochen werden, wenn die beteiligten Akteure den Prozess tatsächlich neu ausrichten, d.h. auf geänderte Ziele hinsteuern. Anstatt sich auf verengte „Reformprioritäten“ zu fokussieren, sollte die nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen als zentrale Zielsetzung des Europäischen Semesters verankert werden. Um eine evidenzbasierte zielorientierte Debatte zu ermöglichen, sollen auf dieser Grundlage jene Faktoren analysiert werden, die Wohlstand und Wohlergehen der Menschen – und deren gerechte gesellschaftliche Verteilung –  verhindern bzw. fördern – ohne Zielkonflikte auszusparen. Was hilft etwa eine stabile Staatsschuldenquote deutlich unter 60 % des BIP, wenn die Kehrseite eine stärkere Erhitzung des Planeten ist, weil mit dem dringend benötigten Ausbau des öffentlichen Verkehrs und der besseren Isolierung von Gebäuden zu spät begonnen wurde?

Die übergeordnete Ausrichtung auf gesellschaftliches Wohlergehen muss sich zudem kohärent auf alle EU-Politikbereiche erstrecken. Beispielsweise gilt es in der EU-Handelspolitik, verbindliche und sanktionierbare Arbeits- und Umweltstandards in Handelsabkommen zu verankern und auf privilegierte InvestorInnenrechte zu verzichten (vgl. Dessewffy 2018). Die immer wieder mitschwingenden impliziten Definitionen von Wettbewerbsfähigkeit im Sinne von Standorten mit möglichst niedrigen Produktionskosten müssen klar überwunden und durch adäquate, auf gesellschaftlichen Fortschritt abzielende Ausrichtungen ersetzt werden (vgl. Feigl 2017).

Fortschritt in Richtung ambitionierter Teilziele messen

Zudem müssen ambitionierte gemeinsame Teilziele festgelegt und der Fortschritt in Richtung dieser Ziele überprüft werden. Mit Hilfe von aussagekräftigen Kennzahlen können Abweichungen rechtzeitig erkannt und im politischen Prozess bearbeitet werden. Dabei kann etwa am SDG-Scoreboard von Eurostat (2019) angeknüpft werden, das allerdings noch – unter anderem um Aspekte prekärer Arbeit erweitert – im politischen Prozess verankert und durchgängig mit mittelfristigen Zielwerten versehen werden müsste.
Darüber hinaus gilt es, die möglichen Auswirkungen im Europäischen Semester empfohlener Maßnahmen – u.a. hinsichtlich der Erreichung der einzelnen SDGs – zu analysieren und eine ganzheitliche Abschätzung zu treffen, ob sie sich zu einem ausreichenden Gesamtfortschritt zusammenfügen. Konkret hieße das etwa, dass die Kommission, bevor sie Mitgliedstaaten wie Österreich die sachlich nicht nachvollziehbare Empfehlung ausstellen würde, das gesetzliche Pensionsalter an die durchschnittliche Lebenserwartung zu koppeln, die sozialen Auswirkungen dieser Empfehlung eingehend analysieren müsste. Das würde auch einschließen zu untersuchen, welche Einkommensverluste für Menschen zu erwarten wären, die nicht bis zu einem erhöhten gesetzlichen Pensionsalter in Beschäftigung bleiben können, und wie sich diese Maßnahme angesichts der höchst ungleichen sozioökonomischen Verteilung der Lebenserwartung insbesondere auf Menschen mit niedrigen Einkommen auswirken würde (vgl. Türk/Soukup 2019).

Schlussfolgerungen

Die aktuellen politischen Verpflichtungen der EU-Institutionen hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen gilt es jetzt zu nutzen, um nicht nur neue stärker auf sozial-ökologischen Fortschritt abzielende Initiativen im laufenden politischen Prozess zu starten. Vielmehr müssen auch die Prozesse, Zielausrichtungen und Analyseinstrumente reformiert werden – das gilt insbesondere für das Europäische Semester.
Die vor kurzem veröffentlichen Länderberichte zeigen jedoch nur begrenzten Fortschritt. Ein weiterer Gradmesser für die Ernsthaftigkeit der Reform werden die länderspezifischen Empfehlungen im Frühjahr sein.
Weitere, umfassendere Schritte sollten spätestens mit dem im Herbst 2020 startenden neuen Semester in einen kohärenten Rahmen zusammengeführt werden. Dabei gilt es, Räume für evidenzbasierte Debatten über die zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen wie die Klimakrise und vielfältige soziale Ungleichheiten zu eröffnen sowie Entscheidungen demokratischer zu treffen. Schließlich muss eine Politik, die den Alltag der Menschen verbessern soll, breit diskutiert und entschieden werden.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die die Autoren arbeiten, überein.

Schlüsselwörter
EU, Europäisches Semester, nachhaltige Entwicklung, Wohlstand, Wohlergehen, Europäische Kommission

Zitation
Feigl, G., Soukup, N. (2020). Europäisches Semester neu: Nachhaltige Entwicklung von Wohlstand und Wohlergehen in den Mittelpunkt rücken. Wien. ÖGfE Policy Brief, 06’2020

Georg Feigl

Georg Feigl (@GeorgFeigl) ist Referent für öffentliche Haushalte und europäische bzw. wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik in der AK Wien. Zudem ist er Redakteur des Blogs „Arbeit & Wirtschaft“ und Mitorganisator des europäischen TUREC-Netzwerks gewerkschaftsnaher Ökonom:innen. Er studierte Volkswirtschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

Nikolai Soukup

Nikolai Soukup ist Referent in der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien mit einem Arbeitsschwerpunkt im Bereich der EU-Sozialpolitik. Er ist Mitglied des Redaktionsteams des A&W Blogs, Stellvertreter der Geschäftsführung des Beirats für Wirtschafts- und Sozialfragen und Vorstandsmitglied des Beirats für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM).