Eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik für die Eurozone

Handlungsempfehlungen

  1. Die europäische Wirtschaftspolitik sollte sich zukünftig an nachhaltigem Wohlstand, Wohlbefinden und Konvergenz orientieren.
  2. Aktive Nachfragesteuerung – in erster Linie via Fiskalpolitik und produktivitätsorientierte Lohnpolitik – muss wesentlicher Bestandteil der europäischen Wirtschaftspolitik werden.
  3. Mittels Verankerung einer „goldenen Investitionsregel“ sowie Orientierung an einer „goldenen Lohnregel“ kann über die kurzfristige Notwendigkeit hinaus eine stabile Nachfrageentwicklung gewährleistet werden.

Zusammenfassung

Die wirtschaftliche Situation in Europa zeichnet sich durch den flüchtigen Charakter der Erholung aus, die mit anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und Ungleichheit innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten einhergeht. Trotzdem hielten Kommission und Rat auch im diesjährigen Europäischen Semester weitgehend an ihren wirtschaftspolitischen Prioritäten – nämlich der Förderung privater Investitionen, Strukturreformen und verantwortungsvoller Budgetpolitik – fest. Dass es dazu Alternativen gibt und auch braucht, zeigte unter anderem der als iAGS („unabhängiger Jahreswachstumsbericht“) bekannte „Gegenbericht“, in dem Vorschläge für eine bessere wirtschaftspolitische Steuerung im Allgemeinen und eine stärkere Nachfragesteuerung im Besonderen vorgeschlagen werden. Anstelle der bisherigen restriktiven Ausrichtung soll im Sinne der europäischen Verträge verstärkt auf Wohlstand als übergeordnetes Ziel fokussiert werden.

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Eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik für die Eurozone[1]

Im November 2016 wurde das sogenannte Europäische Semester eingeläutet, mit dem insbesondere die Eurozone wirtschaftspolitisch koordiniert und gesteuert wird. Eine gute wirtschaftliche Entwicklung und die Vermeidung von Fehlentwicklungen wie vor der Finanz- und Wirtschaftskrise sollen dadurch gefördert werden.
Um besser steuern zu können, ist aber zunächst zu klären, wo man steht und wo die Reise hingehen soll. Mit dem sogenannten Jahreswachstumsbericht – gemeinsam mit einer Reihe von Begleitdokumenten – versucht die EU-Kommission, die entscheidende Grundlage zu liefern.[2] Darauf aufbauend trifft der Rat (insbesondere der Finanz- und WirtschaftsministerInnen) in einem mehrstufigen Prozess die Entscheidungen über die wirtschaftspolitische Ausrichtung – zunächst für die Eurozone bzw. die EU insgesamt (Nov.-März), dann[3] für die einzelnen Länder in Form von länderspezifischen Empfehlungen (Feb.-Juli).

Aus den Fehlern gelernt?

Sehr vereinfacht kam die Kommission zumindest bis 2015 stets zum Ergebnis, dass in der Eurozone bzw. der EU insgesamt die öffentlichen Defizite zu hoch und die Wettbewerbsfähigkeit mangelhaft sei.[4] Daraus folgerte die Kommission, dass weitere Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und angebotsseitige Strukturreformen mit einem Fokus auf eine Dämpfung der Lohnstückkosten geboten wären (was sich dann in den meisten länderspezifischen Empfehlungen widerspiegelt, wobei im Falle von Deutschland bzw. der Niederlande eher das Gegenteil gilt). Defizite und Reallöhne wurden in Folge tatsächlich gesenkt, allerdings führt dies zu „Nebenwirkungen“, die oftmals schlimmer als die Krankheit selbst waren: Weil die negative Wirkung auf die Inlandsnachfrage durch die Exportzuwächse mitnichten kompensiert werde konnte, kehrte die Eurozone erst dann wieder zu einem schwachen wirtschaftlichen Erholungspfad zurück, als die Europäische Zentralbank kompensierend aktiv wurde. Während in den USA erstmalig seit Beginn der Krise die Arbeitslosenquote (exklusive nichtsuchender Arbeitsloser und Unterbeschäftigter) unter 5 % liegt, wird es in der Eurozone noch bis 2023 dauern, bis das Vorkrisenniveau erreicht wird.
Aus diesen Fehlern hat die Europäische Kommission zum Teil gelernt. Ein wesentlicher Fortschritt erfolgte spätestens mit dem zeitlichen Vorziehen der Empfehlung für die Eurozone im Europäischen Semester im November 2015. Während analytisch zuvor die einzelnen Länder im Mittelpunkt standen und die Eurozone insgesamt als wenig informative Summe dieser Einzelbetrachtungen abgehandelt wurde, bildet nun der gemeinsame Wirtschafts- und Währungsraum den Ausgangspunkt, aus dem sich in Folge die Ableitungen für die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten ergeben. Dieser Schritt ermöglicht erstens eine inhärente Berücksichtigung von grenzüberschreitenden Wechselwirkungen, die in einem relativ eng verflochtenen Wirtschaftsraum zwangsläufig auftreten; zweitens eine sehr viel kohärentere Politik bzw. Koordinierung mit europäischem Mehrwert; und drittens eine Fokusverschiebung von „Bestrafung von einzelstaatlichen Regelabweichungen“ hin zu „situationsadäquater wirtschaftspolitischer Koordinierung“.
Dieser Fortschritt dürfte mit dazu beigetragen haben, dass die Kommission mittlerweile die Schwächung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage als potenzielles Problem erkannt hat. Erstmalig schlug sie in ihrer Eurozonen-Empfehlung eine expansive Budgetpolitik vor. In ihrer neu erstellten begleitenden Mitteilung über die adäquate budgetpolitische Ausrichtung kommt sie zum Schluss, dass zusätzliche öffentliche Investitionen im Ausmaß von 0,3 bis 0,8 % des BIP für die Eurozone angemessen wären.[5] Richtigerweise hielt sie aber auch fest, dass eine solche Ausrichtung im Widerspruch zu den restriktiven europäischen Fiskalregeln steht, die eigentlich neuerliche Budgetkürzungen erfordern würden. Die Kommission löste diesen Widerspruch jedoch nur bedingt auf und spielte den Ball an den ECOFIN weiter.

Kommission vs. Rat – goldene Investitionsregel als Kompromiss?

Beim Treffen der Eurogruppe am 5. Dezember zeigten sich die FinanzministerInnen wenig erfreut über die neue Analyse. Im Abschlussstatement richteten sie der Kommission aus, dass sie bereits im Juli den Schluss zogen, wonach eine insgesamt neutrale Fiskalpolitik angemessen sei und jene Länder, die ein Risiko für die Verletzung der Fiskalregeln aufweisen, gegebenenfalls sogar zusätzliche Konsolidierungsmaßnahmen einleiten sollten.[6] Es war ausgerechnet der deutsche Finanzminister, der als Erster gegen die – ohnehin abgeschwächte – Kommissionsempfehlung einer expansiven Ausrichtung von „bis zu“ 0,5 % des BIP gewettert hat,[7] weil sie nicht der Durchsetzung seiner Austeritätsdoktrin entspricht (obwohl gerade er es war, der in den Jahren zuvor noch eine verpflichtende Umsetzung der länderspezifischen Empfehlungen im Bereich der Fiskalpolitik durchsetzen wollte).

Gäbe es einen politischen Willen, könnte insbesondere mit Hilfe der sogenannten goldenen Investitionsregel ein Kompromiss zwischen anhaltender Regelbindung und ökonomischer Notwendigkeit gefunden werden.

Im Ergebnis wurde die Empfehlung dahingehend abgeändert, dass nun ein – letztlich unbestimmt bleibender – „angemessener“ gemeinsamer haushaltspolitischer Kurs angestrebt wird. Es ist daher zu erwarten, dass es bei der zuletzt prognostizierten neutralen Ausrichtung bleiben wird. Die Begründung, dass die bestehenden Regelungen gar keine expansive Ausrichtung erlauben würden, ist nur bedingt richtig. Einerseits gibt es bereits jetzt Flexibilisierungsregeln (die jedoch weit weniger flexibel sind als die Kommission darstellt), andererseits ist es ja die Politik selbst, die die Regeln gesetzt hat – und damit auch wieder ändern könnte: Gäbe es einen politischen Willen, könnte insbesondere mit Hilfe der sogenannten goldenen Investitionsregel[8] ein Kompromiss zwischen anhaltender Regelbindung und ökonomischer Notwendigkeit gefunden werden. Mitgliedstaaten wäre es dann möglich, fremdfinanziert öffentliche Investitionen auszuweiten, sofern diese auch tatsächlich das öffentliche Vermögen erhöhen – und somit ihre Nettovermögensposition unverändert bliebe. Diese Ausnahme hätte nicht nur relevante gesamtwirtschaftliche Effekte, sondern würde mittelfristig die Stabilität der öffentlichen Haushalte sogar verbessern.[9]

Produktivitätsorientierte Lohnpolitik als Lippenbekenntnis

So wichtig eine expansive Fiskalpolitik auch ist, so darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die private Konsumnachfrage in der Eurozone mit 6 Billionen Euro die betragsmäßig deutlich wichtigere Nachfragekategorie ist als die öffentlichen Investitionen (rund 0,3 Billionen Euro). Der private Konsum speist sich großteils aus Löhnen, sodass deren Entwicklung wesentliche Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage hat.

So wichtig eine expansive Fiskalpolitik auch ist, so darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die private Konsumnachfrage in der Eurozone mit 6 Billionen Euro die betragsmäßig wichtigste Nachfragekategorie ist.

Betrachtet man die Lohnentwicklung der letzten Jahre, so zeigt sich allerdings eine größer werdende Lücke zwischen der Soll-Lohnentwicklung gemäß produktivitätsorientierter Lohnpolitik[10] und ihrem tatsächlichen Verlauf: Gemäß dieser „goldenen Lohnregel“ sollten die Löhne im Ausmaß des Produktivitätswachstums zuzüglich der (Ziel-)Inflationsrate steigen. Steigen die Löhne in diesem Ausmaß, so kann eine für die wirtschaftliche Entwicklung wichtige stetige Nachfragesteigerung bei gleichzeitiger Wahrung der Preisstabilität und einer unveränderten Verteilung zwischen Arbeit und Kapital erzielt werden. Als Indikator für die goldene Lohnregel können näherungsweise die nominellen Lohnstückkosten (LSK) herangezogen werden. Nachdem die realen LSK eine neutrale Verteilungssituation widerspiegeln, sind die um Zielinflationsrate wachsenden nominellen LSK ein geeigneter Benchmark für die Soll-Lohnentwicklung.
Betrachtet man nun die Entwicklung der nominellen LSK in der Eurozone insgesamt, so blieben diese sowohl in den sieben Jahren vor als auch in jenen nach der Krise hinter dieser Benchmark zurück. Statt einem Plus von kumuliert 14,9 % stiegen sie bis 2007 (gegenüber 2000) lediglich um 12,7 %. In der Krise wurde diese Unterausschöpfung durch relativ konstante Löhne und Gehälter bei gleichzeitig sinkenden Gewinnen zwar mehr als ausgeglichen, doch danach (2016 gegenüber 2009) kam es mit einem Zuwachs um lediglich 4,9 % zu einer eklatanten Unterausschöpfung des Spielraums. Diese Zielverfehlung ist vor allem auf die Strategie der „internen Abwertung“ zum asymmetrischen Abbau der Leistungsbilanzungleichgewichte zurückzuführen, bei der mittels „lohnpolitischem Interventionismus“ versucht wurde, die Löhne zu drücken, um einen Rückgang der Importe sowie mittelfristig steigende Exporte – und damit eine Verbesserung der Leistungsbilanz – zu erzielen.[11]

Lohnstückkosten: Entwicklung in der Eurozone bleibt hinter der goldenen Lohnregel zurück

Grafik 1: Lohnstückkostenentwicklung in der Eurozone bleibt hinter der goldenen Lohnregel zurück

Quelle: iAGS, eigene Darstellung.

Im Sinne eines aktiven Nachfragemanagements braucht es daher in der Eurozone insgesamt nicht nur einen stärkeren fiskalischen Impuls, sondern auch eine Schließung der Lücke bei den Löhnen. Andernfalls ist mit einem weiteren Ansteigen der globalen Ungleichgewichte durch wachsende Importdefizite der Eurozone und Deflationstendenzen zu rechnen, die wiederum den Abbau der privaten und öffentlichen Verschuldung erschweren.
Dafür ist einerseits konzeptionell eine Abkehr von einer einer bewusst zu den Unternehmen umverteilenden Lohnpolitik notwendig, die für den Abbau der Arbeitslosigkeit bzw. ein stärkeres Exportwachstum auf eine Unterausschöpfung der goldenen Lohnregel abzielt. Obwohl die EU-Kommission zwar am Lippenbekenntnis zur produktivitätsorientierten Lohnpolitik festhält, machte sie im Kompendium zum Verfahren zum Abbau makroökonomischer Ungleichgewichte im Vorjahr erstmalig transparent, dass sie in der Praxis mit zwei anderen Benchmarks operiert, die zu einer Unterausschöpfung des Spielraums führen:[12] Erstens eine goldene Lohnregel mit explizitem Abschlag bei historisch überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit, und zweitens eine mit den sogenannten konstanten real-effektiven Wechselkursen kompatible Lohnentwicklung.
Andererseits braucht es insbesondere in den Ländern mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen eine Stärkung der Gewerkschaften, damit diese wieder überdurchschnittliche Lohnsteigerungen durchsetzen können. Die anhaltende Weigerung der deutschen Bundesregierung, die Überschreitung des – für eine Stabilisierung der Auslandsvermögensposition ohnehin zu hohen – Grenzwerts im Rahmen des präventiven Arms des Stabilitäts- und Wachstumspaktes hinsichtlich makroökonomischer Ungleichgewichte auch nur als Problem zur Kenntnis zu nehmen, darf nicht länger ohne Konsequenzen auf europäischer Ebene bleiben.

Änderung der wirtschaftspolitischen Steuerung gefragt

Im Rahmen der derzeitigen wirtschaftspolitischen Steuerungsarchitektur mit ihrem restriktiven Bias sowohl in der Lohn- als auch in der Fiskalpolitik ist eine Kursänderung nur sehr schwer zu erzielen. Spielraum besteht lediglich für Versuche, private Investitionen durch verbesserte Finanzierungsbedingungen (wie beim Juncker-Plan aka EFSI) oder angebotsseitige Strukturreformen zu fördern. Beides wird gemacht – mit äußerst bescheidenem Erfolg, da bei Unterauslastung der Wirtschaft die Steigerung der Endnachfrage den wichtigsten Anreiz für Investitionen darstellen würde.

Über die kurzfristigen budget- und lohnpolitischen Vorschläge hinaus braucht es deshalb eine weitergehende Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung.

Über die kurzfristigen budget- und lohnpolitischen Vorschläge hinaus braucht es deshalb eine weitergehende Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung. Ihre grundsätzliche Orientierung sollte auf nachhaltigen Wohlstand, Wohlbefinden und Konvergenz ausgerichtet werden, und zwar aus drei Gründen. Erstens ist ein solcher Fokus in Hinblick auf den Vertrag über die Europäische Union geboten, in dem in der Präambel die „Konvergenz ihrer Volkswirtschaften“ sowie die Stärkung des „wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt[s] ihrer Völker unter Berücksichtigung des Grundsatzes der nachhaltigen Entwicklung“ als oberste wirtschaftsbezogene Ziele angegeben sind. Zweitens gibt es ein eher diffuses, aber vielzitiertes europäisches Wohlstandsversprechen, dessen Einlösung eine wichtige Legitimitätsquelle für die europäische Integration darstellt.[13] Und drittens ist auch in der ökonomischen Fachdebatte spätestens mit dem bahnbrechenden Bericht der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission[14] weitgehend unumstritten, dass die wirtschaftspolitische Steuerung auf einen breiter verstandenen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt abzielen (und beides mit einem breiteren Indikatorenset auch statistisch erfassen) sollte.

Ein magisches Vieleck wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik

Über Jahrzehnte galt das magische Viereck der Wirtschaftspolitik als allgemein akzeptierter Referenzrahmen für wirtschaftspolitische Entscheidungen. Es fokussierte vor allem auf Wirtschaftswachstum, aber auch auf Vollbeschäftigung und die für die ökonomische Nachhaltigkeit wichtigen Größen Preisstabilität und außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Inhärente Widersprüche – beispielsweise zwischen Preisstabilität und Beschäftigung oder hohem Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht – wurden transparenter und besser verhandel- bzw. entscheidbar. Innerhalb dieses Rahmens ließen sich wirtschaftspolitische Differenzen und Interessengegensätze diskutieren und Entscheidungen evidenzbasiert in einem demokratischen Prozess treffen.

Ein magisches Vieleck der Wirtschaftspolitik, das diese Änderungen berücksichtigt, könnte als neuer politischer Referenzrahmen auf europäischer Ebene dienen.

Vor dem Hintergrund (1) der Auslöser und Verstärker der großen Rezession sowie (2) der Kritik am Wirtschaftswachstum als Maßstab für Wohlstand sollten diese Ziele geändert und ausgeweitet werden. Ein magisches Vieleck der Wirtschaftspolitik, das diese Änderungen berücksichtigt, könnte als neuer politischer Referenzrahmen auf europäischer Ebene dienen.[15]

Grafik 2: Magisches Vieleck

Quelle: AK

Mittels einer besseren Verankerung wohlstandsorientierter Wirtschaftspolitik im Europäischen Semester könnte der Spielraum für eine „bessere“ Wirtschaftspolitik deutlich vergrößert werden. In einem sehr viel breiteren Diskussionsprozess als bisher sollten die sozial-, wirtschafts- und umweltpolitischen Schwerpunkte zu Beginn des Semesters anhand des magischen Vielecks – und hierbei vor allem den vier Oberzielen wohlstandsorientierter Politik (fair verteilter materieller Wohlstand, Vollbeschäftigung und gute Arbeit, Lebensqualität, intakte Umwelt) – festgelegt werden. Anstelle des aktuellen Scoreboards, das weitgehend auf die vier Stabilitätsziele (Finanzmärkte, Preisentwicklung, Staatstätigkeit, außenwirtschaftliches Gleichgewicht) fokussiert, ist zudem ein breiteres Indikatorenset zu verwenden. Vorausgesetzt alle Ziele des magischen Vielecks werden dabei tatsächlich adäquat gemessen, kann so eine sehr viel bessere faktenbasierte Grundlage für die wirtschaftspolitische Diskussion auf europäischer Ebene geschaffen werden.

Fazit

Die Krise hat gezeigt, dass sozial- und wirtschaftspolitische Konvergenz und eine stabile wohlstandsorientierte Entwicklung keine Selbstverständlichkeiten sind. Sie erfordern eine aktive Koordinierung, die derzeit jedoch nicht gegeben ist. Zwar existieren bereits Regeln und Instrumente (zB das Europäische Semester oder die Überwachung makroökonomischer (Fehl-)Entwicklungen), auf die sinnvoll zurückgegriffen werden kann, doch müssen diese unter anderem so reformiert werden, dass sie kohärent zusammenwirken können. All das wird in der Debatte um eine sinnvolle Reform der Wirtschafts- und Währungsunion einfließen müssen, die nun für Ende Mai angekündigt ist.

Ein starker Anschub öffentlicher Investitionen zusammen mit einer Beschleunigung der ökologischen Transformation der Ökonomie sowie einer besser koordinierten expansiveren Lohnpolitik ist notwendig. Da eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik zwar notwendig, aber nicht ausreichend ist, muss das institutionelle Design der Eurozone geändert werden, um sozialen Fortschritt und Wohlstand zu erzielen.

[1] Dieser Beitrag orientiert sich am deutlich ausführlicheren iAGS 2017 (independent Annual Growth Survey), der nahezu zeitgleich mit dem AGS der Europäischen Kommission veröffentlicht wurde. Siehe Timbeau, X. et al. The Elusive Recovery, Nov. 23, 2016, https://emedien.arbeiterkammer.at/viewer/file?pi=AC13385395&file=AC13385395.pdf
[2] Europäische Kommission, Europäisches Semester – Herbstpaket: Hin zu einer stärkeren wirtschaftlichen Erholung zum Wohle aller, Pressemitteilung, Nov. 16, 2016, http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-3664_de.htm
[3] unter Berücksichtigung der bindenden allgemeinen Regeln (insbesondere Stabilitäts- und Wachstumspakt) und der länderspezifischen sozio-ökonomischen Lage (analysiert in den Länderberichten und der Planungsdokumente der Mitgliedstaaten selbst)
[4] Vgl. bspw. Empfehlung des Rates vom 14. Juli 2015 zur Umsetzung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (2015/C 272/26)
[5] Europäische Kommission, Communication on Fiscal Stance, Nov. 16, 2016, https://ec.europa.eu/info/publications/2017-european-semester-communication-fiscal-stance_en
[6] Eurogruppe, Eurogroup Statement on the Draft Budgetary Plans for 2017, Dez. 5, 2016, http://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2016/12/05-eurogroup-statement-dbp
[7] Zeit online, Schäuble wirft EU Kompetenzüberschreitung vor, Nov. 22, 2016, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-11/wolfgang-schaeuble-finanzminister-haushaltsberatung-bundestag-kritik-an-bruessel
[8] Truger, A. Implementing the Golden Rule for Public Investment in Europe, 2015, https://media.arbeiterkammer.at/PDF/Studie_Golden_Rule_for_public_investment.pdf
[9] Timbeau, X. et al., Figure 53.
[10] Mesch, M. Benya-Formel gleich produktivitätsorientierte Lohnpolitik, Dez. 2, 2015, http://blog.arbeit-wirtschaft.at/benya-formel-produktivitaetsorientierte-lohnpolitik
[11] Müller, T./Schulten, Th./Zuckerstätter, S. Löhne und wirtschaftliche Entwicklung in Europa – die 3 Irrtümer der „internen Abwertung“, Nov. 2, 2016, http://blog.arbeit-wirtschaft.at/loehne-und-wirtschaftliche-entwicklung-in-europa-die-3-irrtuemer-der-internen-abwertung
[12] Europäische Kommission, The Macroeconomic Imbalance Procedure. Rationale, Process, Application: A Compendium, Nov. 17, 2016, https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/file_import/ip039_en_2.pdf
[13] Vgl. bspw. Kern, Ch. Repowering Europe: How to combat austerity, alienation and Brexit, Sept. 27, 2016, https://www.socialeurope.eu/2016/09/europe-must-become-fair-again
[14] Stiglitz, J./Sen, A./Fitoussi, J.-P. Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, 2009, http://library.bsl.org.au/jspui/bitstream/1/1267/1/Measurement_of_economic_performance_and_social_progress.pdf
[15] Feigl, G. From growth to well-being: a new paradigm for EU economic governance, 2017, http://www.etui.org/Publications2/Policy-Briefs/European-Economic-Employment-and-Social-Policy/From-growth-to-well-being-a-new-paradigm-for-EU-economic-governance

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Feigl, G. (2017). Eine wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik für die Eurozone. Wien. ÖGfE Policy Brief, 09’2017

Georg Feigl

Georg Feigl (@GeorgFeigl) ist Referent für öffentliche Haushalte und europäische bzw. wohlstandsorientierte Wirtschaftspolitik in der AK Wien. Zudem ist er Redakteur des Blogs „Arbeit & Wirtschaft“ und Mitorganisator des europäischen TUREC-Netzwerks gewerkschaftsnaher Ökonom:innen. Er studierte Volkswirtschaft und Internationale Entwicklung an der Universität Wien.