Die Europäische Union und das größere Europa

Zwischen Vertiefung und Erweiterung: eine Strategie der abgestuften Integration

Handlungsempfehlungen

  1. Umbau des jetzigen „Kerneuropa“ zu einer sozialen Rechtsgemeinschaft, die sich auf die Festlegung menschenrechtlicher und sozialer Mindeststandards konzentriert; die Realisierung letzterer sollte durch einen funktionalen Finanzausgleich erfolgen.
  2. Anerkennung der Tatsache, dass „Europa“ weit mehr umfasst als die Europäische Union, dass insbesondere auch Russland und die europäischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, ja selbst die Mittelmeer-Anrainerstaaten bis hin zum Vorderen Orient noch zu Europa im weiteren Sinne gehören.
  3. Ersetzung der derzeitigen bilateralen Verträge, die im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik abgeschlossen wurden, durch einen umfassenden gemeinsamen Rahmenvertrag.

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass zwischen Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union ein Zielkonflikt besteht: Erweiterung führt zu steigender Heterogenität der Union, macht damit aber institutionelle Vertiefung immer schwieriger. So ist evident, dass mehrere bisherige vollzogene bzw. ins Auge gefasste Erweiterungsschritte (Aufnahme von Griechenland, Zypern, Türkei, aber auch schon Großbritannien) Ursache für tiefgehende Krisen waren, ebenso wie Vertiefungsschritte (so insbesondere die Währungsunion), in welche dafür noch nicht ‘reife’ Länder einbezogen wurden. Abgestufte Integration würde bedeuten, dass ein Kreis von Ländern, die auf absehbare Zeit noch nicht als EU-Mitglieder in Frage kommen, durch umfassende Verträge dennoch in einen erweiterten europäischen Wirtschafts- und Sozialraum einbezogen werden. Kandidaten dafür wären vor allem zwei Regionen, die direkt oder im erweiterten Sinne als Teil von Europa gesehen werden müssen: Russland und die anderen postsowjetischen Staaten in Osteuropa, die Mittelmeer-Anrainerstaaten in Nordafrika und im Nahen Osten. Die EU im engeren Sinne sollte sich auf die Struktur einer sozialen Rechtsgemeinschaft beschränken, welche ausreichend Möglichkeiten zu einer starken Integration bietet, ohne dafür eine große Bürokratie und institutionelle Vereinheitlichung notwendig zu machen.

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1. Einleitung

Dieser Beitrag geht aus von der These, dass die Krise in Europa ihre Ursachen in zwei Problemen hat: Zum einen in dem seit Jahrzehnten von den Eliten vorangetriebenen Erweiterungsprozess, der nach widersprüchlichen Zielsetzungen erfolgt, zum anderen in Prozessen der institutionellen Vertiefung, hinter denen noch immer das Bild der intern weitgehend homogenen ursprünglichen Sechsergemeinschaft steht. Vertiefung und Erweiterung der EU erfolgten weitgehend parallel und unkoordiniert; es war gerade die zu schnelle Erweiterung und die zu starke institutionelle Vertiefung der EU, die diese Krisen selbst erst erzeugt und zu der neuen Spaltung innerhalb der EU beigetragen hat. Notwendig ist daher eine Besinnung darauf, welche Ziele regionale Integration grundsätzlich verfolgen kann und eine Koordination von Vertiefung und Erweiterung. Eine solche ist möglich durch die Strategie der abgestuften Integration.

2. Die Idee der abgestuften Integration

Die Idee der abgestuften Integration ist nicht neu[1]; sie wurde auch von prominenten Politikern und Intellektuellen vertreten. Von manchen wird diese Idee kritisiert als ein fragwürdiges „Europa à la carte“, wo sich jedes Mitgliedsland die Rosinen herauspicken könne; es werde damit die Grundidee der umfassenden und solidarischen Integration Europas in Frage gestellt. Aber auch die faktische Integration der EU entspricht in wichtigen Aspekten tatsächlich der Idee der abgestuften Integration, wichtigen Verträgen ist nur ein Teil der EU-Mitgliedsstaaten beigetreten.[2]
Wie würde abgestufte Integration aussehen? Als erstes ist festzustellen, dass die Europäische Union auf keinen Fall – wie es heute weithin explizit geschieht – mit „Europa“ gleichgesetzt werden kann. Das größere „Europa“ umfasst drei Makroregionen:
(1) die Mitglieds-Staaten der Euro-Gruppe, als deren „Kern“ man wiederum die sechs Gründungsmitglieder der EWG betrachten kann;
(2) die weiteren EU-Mitgliedsstaaten sowie die durch bilaterale Verträge sehr eng mit der EU verflochtenen Länder (Island, Lichtenstein, Norwegen, Schweiz);
(3) Staaten außerhalb der EU, die jedoch entweder eindeutig zum geographischen Raum „Europa“ gehören (wie Russland und die südosteuropäischen Staaten), oder für welche Europa der mit Abstand wichtigste ökonomische und politische Partner ist (wie die Staaten des Mittelmeerraums).
Im Hinblick auf die weitere institutionelle Entwicklung der EU wird die These vertreten, dass noch in mancher Hinsicht Vertiefungen notwendig sind, in anderen Aspekten jedoch eher Rücknahmen bestimmter Aspekte der Integration geboten wären.

3. Begrenzung der EU auf eine „soziale Rechtsgemeinschaft“ und von „Kerneuropa“ auf eine Wirtschafts- und Währungsunion

Meiner Meinung nach braucht die EU weder eine „Wirtschafts- noch eine sonstige „Regierung“, wie häufig gefordert wird. Vielmehr würden ihre derzeitigen Probleme in Zukunft nicht mehr auftreten, wenn sich ihre Mitgliedsstaaten an die Regeln halten würden, die sie sich als eine Rechtsgemeinschaft selbst bereits gegeben haben und die sie noch weiter vertiefen sollten. Als „soziale Rechtsgemeinschaft“ kann man dieses Modell bezeichnen, weil es sich bewusst von der neoliberalistisch inspirierten, durch den EuGH vorangetriebenen derzeitigen EU-Verfassung unterscheiden würde[3]. Bedeutende Staatswissenschaftler seit Max Weber und Hans Kelsen sahen eine Rechtsordnung als ausreichende Basis für die Möglichkeit zur Bildung einer politischen Gemeinschaft ohne exzessive Bürokratie, weil die Geltung des Rechts auch sanktioniert werden kann[4]. Eine Rechtsgemeinschaft stellt bereits eine sehr weitgehende und wirksame Integration dar, sie verzichtet jedoch auf direkte staatliche Interventionen und Umverteilungsmaßnahmen. Die EU hat auch bei weitem nicht die Mittel, um etwa die massive Beschäftigungskrise in Südeuropa wirkungsvoll zu reduzieren. Generell gilt, dass selbst unter den glühendsten Befürwortern einer EU-Sozialpolitik kein Wunsch nach einem supranationalen europäischen Wohlfahrtsstaat besteht, nicht zuletzt deshalb, weil die nationalen Wohlfahrtssysteme zu unterschiedlich sind[5].
Drei Reformschritte erscheinen aus der Sicht der EU als einer sozialen Rechtsgemeinschaft als essentiell; die beiden ersten betreffen vor allem die Mitglieder der Währungsunion („Kerneuropa“).
(1) Für diese Gruppe von Staaten ist vor allem sicherzustellen, dass eine strikte Kontrolle der Einhaltung der gemeinsamen Regeln im Hinblick auf eine verantwortliche Wirtschaftspolitik (u.a. auch die Einbremsung von Budgetdefiziten) erfolgt.[6]
(2) Einen Abbau der landwirtschaftlichen Subventionen und der EU-Struktur- und Regionalfonds und ihre Ersetzung durch einen „funktionalen“ Finanzausgleich. In Bezug auf erstere wird von nahezu allen Fachleuten argumentiert, dass sie mehr negative als positive Effekte haben.[7] In einem funktionalen Finanzausgleich zwischen reichen und armen Ländern bzw. Regionen wäre an Steuererleichterungen für Unternehmen in den letzteren zu denken, die Arbeitsplätze schaffende, dauerhafte Investitionen tätigen. Damit würden die derzeit zwischengeschalteten Politiker und Behörden überflüssig, fragwürdige Großinvestitionen verhindert und an ihrer Stelle produktive Investitionen gefördert. Eine andere Maßnahme wäre die Einführung einer EU-weiten Arbeitslosenversicherung, die zumindest einen Sockelbetrag für alle Mitgliedsländer sicherstellt. Dies wäre gerade angesichts der negativen Folgen der Euro-Einführung für die südeuropäischen Mitgliedsländer geboten.
(3) Die EU müsste energisch dafür eintreten, dass weltweit in vielen Bereichen Mindeststandards etabliert werden. Wenn ein wirtschaftlich so einflussreicher Akteur wie die EU sich massiv für Reformen einsetzt, hätte dies globale Auswirkungen.[8]

4. Bildung eines umfassenden „Europäischen Wirtschafts- und Sozialraums“

Die wirtschaftsgeographische Dimension ist für die europäische Integration zentral: Sie wurde initiiert als „Wirtschaftsgemeinschaft“ und ist noch immer primär eine solche. Das Kriterium  für die Bildung regionaler Assoziationen ist eine enge Verflechtung der Wirtschaften von Ländern, die auch geographische Nachbarn sind. Die theoretische und politische Grundlage dafür ist die ökonomische Annahme, dass alle Nationen profitieren, wenn sie miteinander Handel treiben. Wenn man Europa unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ergibt sich ein recht überraschender Befund. Die Entwicklung der wirtschaftlichen Verflechtungen über die Zeit zeigt, dass der Umfang des internen Handels zwischen den EWG/EU-Mitgliedern nur in den 1960er und 1970er Jahren stark anstieg, dagegen kaum mehr seit 1980[9], obwohl einige Länder erst später EU-Mitglieder wurden und der volle Gemeinsame Markt erst 1992 Realität wurde. Eine starke Zunahme gab es natürlich im Handel mit den neuen Mitgliedern in Mittelosteuropa, jedoch ist dieser zum größten Teil auf den Fall des Eisernen Vorhangs zurückzuführen und nicht auf deren EU-Beitritt. So stieg der Handel mit diesen Ländern schon vor dem EU-Beitritt und er stieg auch stark (ebenso wie die österreichischen Investitionen) mit den Nicht-EU-Mitgliedern wie Ukraine und Russland. Aus der Sicht der ökonomischen Theorie sind diese Fakten nicht überraschend. Wenn in einer Region einmal ein bestimmtes Niveau der Integration erreicht worden ist (mit oder ohne wirtschaftliche Union), bringt eine weitere Expansion des intra-regionalen Handels nur wenig zusätzliche Vorteile. Betrachtet man die tatsächlichen wirtschaftlich-sozialen Verflechtungen in dieser Hinsicht, so würde sich eine ganz andere Großregion als adäquate Basis für eine Wirtschaftsgemeinschaft nahelegen, nämlich eine solche zwischen der EU und ihren großen Nachbarländern bzw. -regionen im Osten und im Süden. Betrachten wir diese beiden etwas näher.

Russland als integraler Teil Europas

Zwischen Russland und der EU bestehen schon derzeit enorm wichtige, wenngleich hochspezialisierte, z.T. einseitige und konflikthafte wirtschaftliche Beziehungen[10]. Seit Putin’s Amtsantritt als Ministerpräsident 2001 haben sich die Beziehungen zwischen Russland und der EU zunächst zum Positiven geändert. Die neuen russischen Machteliten waren an einer Öffnung und Modernisierung der russischen Wirtschaft interessiert und es erfolgte eine „Ökonomisierung“ der Außenpolitik, die sich pragmatisch an wirtschaftlichen Interessen orientiert und selbst in militärischer Hinsicht die EU nicht mehr als bloßen Alliierten der USA und damit als Feind begreift. Man sollte die Potentiale dieser neuen Orientierung auch trotz der aktuellen Krise zwischen Russland und den westlichen Ländern nicht aus den Augen verlieren.
Russland muss auch aus historischer Sicht, politisch und kulturell, eindeutig als Teil von Europa gesehen werden. Es gehört zum christlichen Kulturkreis und seine Sprache ist Teil der indogermanischen Sprachfamilie[11]. Auch in politischer Hinsicht war die Geschichte Russlands seit Jahrhunderten auf das Engste mit Europa verflochten. Die Notwendigkeit, Russland als integralen Teil und Partner und nicht als Gegner „Europas“ zu sehen, hat sich in den jüngsten Konflikten zwischen der Ukraine und Russland in besonders eklatanter Weise gezeigt.  Wenn man über die derzeitigen Spannungen hinausblickt, legen alle diese Fakten die Idee einer formellen und für beide Seiten akzeptablen umfassenden Wirtschaftsgemeinschaft zwischen der EU und Russland und allen postsowjetischen osteuropäischen Ländern nahe. Derzeit richtet sich die Europäische Nachbarschaftspolitik in Osteuropa getrennt an die Ukraine, Weißrussland, Moldawien und die Kaukasusländer Armenien, Aserbeidschan und Moldawien einerseits, Russland andererseits; die EU-Russland-Beziehungen werden separat unter der Bezeichnung „EU-Russia Common Spaces“ behandelt. Mit all diesen Ländern einen gemeinsamen Rahmenvertrag zu schließen, legt sich nicht zuletzt aufgrund der Ukraine-Krise nahe. Diese ist ja zu einem guten Teil deshalb entstanden, weil die multinationale Ukraine zwischen (West-) Europa und Russland innerlich massiv gespalten war und Russland aufgrund der Avancen der EU (und weniger direkt auch der NATO) sich zusehends hintergangen fühlte; die sowjetische bzw. später russische Zustimmung zur Neuordnung Mittelosteuropas war zunächst wohl eindeutig auf einem Grundkonsens dahingehend basiert, dass die ehemaligen kommunistischen und sowjetischen Länder nicht dem westlichen „Lager“ zugeschlagen würden.

Der Mittelmeerraum als Vorhof Europas

Kontroverser mag die Idee erscheinen, auch die afrikanischen Länder nördlich der Sahara als Teil eines funktionalen  „Europäischen Wirtschafts- und Sozialraums“ zu sehen. Die Europäische Gemeinschaft hat hier eine klare Entscheidung getroffen, als sie 1987 das Beitrittsansuchen Marokkos ablehnte. Allerdings schließt die EU-Nachbarschaftspolitik mit den Mittelmeerstaaten inzwischen alle Länder Nordafrikas und sogar jene des Vorderen Orient (Libanon, Israel, Syrien) ein, jedoch werden auch hier vielfach individuelle Verträge ausgehandelt. Für eine gemeinsame Behandlung all dieser Länder und ihre Betrachtung als wichtige Nachbarn und Partner der Europäischen Union sprechen drei Gründe.
Der erste Grund ist ein historisch-kultureller. Es ist unbestritten, dass das Mittelmeer durch Jahrtausende viel eher verbindend als trennend war.[12]
Zum Zweiten gilt, dass fast alle nordafrikanischen Länder wirtschaftlich am stärksten mit Mitgliedsländern der EU verflochten sind. Demgegenüber sind die Handelsbeziehungen der nordafrikanischen Länder mit ihren Nachbarn südlich der Sahara und der übrigen Welt weit weniger bedeutsam. Die bereits genannte Nachbarschaftspolitik der EU wurde von der EU-Kommission schon 2004 initiiert; 2008 wurde auf Vorschlag des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy die Union méditerranéenne etabliert; der geringe Erfolg dieser Initiative stellt ihre grundsätzliche Sinnhaftigkeit nicht in Frage[13]. In diesem Zusammenhang ist auch Israel ein sehr wichtiges Land. Man kann sagen, dass Israel eine auf asiatischem Boden gegründete europäische politische Gemeinschaft darstellt.[14] Würden Israel und seine Nachbarländer Ägypten, der Libanon usw. Teil eines großen Europäischen Wirtschaftsraums, könnten sich völlig neue Perspektiven für den Frieden in diesem konfliktreichsten Teil der Welt eröffnen.
Ein dritter Grund, warum man die nordafrikanischen Länder als Teil eines umfassenden europäischen Wirtschafts- und Sozialraums sehen sollte, liegt in der zunehmenden Verflechtung im Hinblick auf legale und illegale Migration. Angesichts des starken Bevölkerungswachstums in Afrika, der politischen Instabilität und – noch bis vor kurzem – Bürgerkriegen in vielen Staaten, sowie der nachhinkenden wirtschaftlichen Entwicklung besteht ein starker Migrationsdruck, auf den die EU bislang vor allem durch Abschottung und die Errichtung eines neuen Eisernen Vorhangs zwischen Afrika und Europa reagiert hat[15]. Die dabei getroffenen, quasi-militärischen Sicherheitsmaßnahmen sind vielfach menschenrechtswidrig. Eine solche Abschottung ist auch aus der Sicht wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Interessen der EU selbst kontraproduktiv. Die schrumpfende und älter werdende Bevölkerung Europas benötigt massive Zuwanderung. Zugleich ist es für Europa von größtem Interesse, dass sich alle nordafrikanischen Staaten wirtschaftlich und politisch konsolidieren und positiv entwickeln; dadurch würde der Migrationsdruck abnehmen, die internationale Sicherheit erhöht, und es würde sich ein neuer, riesiger Absatzmarkt für europäische Waren und Dienstleistungen erschließen.

5. Zusammenfassung

In diesem Beitrag wurde argumentiert, dass Vertiefung und Erweiterung der EU in einem klaren Widerspruch zueinander stehen: Erweiterung bedeutet mehr Heterogenität, diese macht zunehmende institutionelle Vertiefung schwieriger, ja unmöglich. Einige der schwersten Krisen der EU – die neue Nord-Süd-Spaltung, die Krise Griechenlands, der Beitritt der Türkei – hängen direkt damit zusammen. Es ist daher eine grundlegende Neuorientierung der Integrationspolitik notwendig, die Vertiefung und Erweiterung gleichzeitig in den Blick nimmt. Aus dieser Sicht ergibt sich die Idee der abgestuften Integration als logischer Weg: Die gemeinsame Währung, ein sehr weitgehender Schritt, sollte auf „Kerneuropa“ beschränkt bleiben, d.h. jene Länder, welche die Voraussetzungen dafür erfüllen. Aber selbst für diese Gruppe sollte das Ziel einer „ever closer union“ ad acta gelegt werden. Die EU sollte sich neu als soziale Rechtsgemeinschaft definieren und keine weiteren Regierungsfunktionen übernehmen bzw. diese – soweit sie schon bestehen – sogar zurück nehmen. Weiters sollte man der Tatsache Rechnung tragen, dass der Begriff Europa auch Russland und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion umfasst, im weiteren Sinne selbst die nordafrikanischen Staaten und den Nahen Osten, deren primärer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Anker ja ebenfalls Europa ist. Durch die Schaffung eines so definierten neuen, umfassenden Wirtschafts- und Sozialraumes könnten Frieden, Sicherheit und Prosperität viel besser gesichert werden als in der derzeitigen „Festung Europa“, von der aus Russland und Nordafrika eher als Gegner und gefährliche Bedrohung gesehen werden.

1) vgl. Grabitz/ Franzmeyer 1984; Breuss/ Griller 1998; Maurer 2007; Schäfer 2007;  Keutel 2012
2) Beispiele sind das Schengener Abkommen von 1997, die ständige Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik; und vor allem die Europäische Währungsunion. Im Vertrag von Amsterdam wurde die „verstärkte Zusammenarbeit“ zwischen einer Untergruppe von mindestens neun Mitgliedsstaaten sogar institutionalisiert.
3) vgl. auch Haller 2009:453-468
4) vgl. auch Stone Sweet/Brunell 1998; Wind 2003
5) Treib 2004: 29
6) Damit würde auch die Wirksamkeit der no-bail-out Klausel, d.h. des Verbots, dass EU-Institutionen oder Staaten andere Mitgliedsstaaten der Eurozone im Krisenfall unterstützen, gewährleistet.
7) Sie kommen vor allem landwirtschaftlichen Großbetrieben und Nahrungsmittelkonzernen zugute und bewirken eine regelrechte Umverteilung von unten nach oben (Haller 2009: 195ff).
8) Einer der wichtigsten Bereiche in diesem Zusammenhang wäre eine Reform des internationalen Bankensystems und eine Unterbindung der Verschiebung riesiger Summen in Steueroasen, wodurch vor allem den ärmeren und krisengeschüttelten Staaten Milliarden von Steuereinnahmen entzogen werden.
9) Haller 2009, S.172-183
10) Jovanovic 2013: 10–14.
Die EU ist in hohem Maße auf die Lieferung von fossilen Energierohstoffen (vor allem Erdgas) aus Russland angewiesen; gut ein Drittel aller externen Brennstoffimporte der EU kamen 2010 aus Russland. Für Russland ist die EU der wichtigste Exportmarkt; rund 64 % der Warenexporte Russlands entfielen auf Brennstoffe, davon ging die Hälfte in die EU (Koopmann 2012). Durch die Unterentwicklung der Konsumgüterindustrie in der Sowjetunion und den Niedergang der Industrie seit der Wende stellen Russland und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion (Weißrussland, Ukraine) einen potentiell enormen Exportmarkt für die EU-Industrie dar. Die EU ist auch zum größten ausländischen Investor in Russland aufgestiegen.
11) Jordan 1988
12) In der Antike verband das mare nostrum ganz Nordafrika und den Nahen Osten mit dem Römischen Reich. Nach einer Unterbrechung dieser Beziehungen (die aber nie vollständig war) durch die arabisch-islamische Expansion gelangte Nordafrika mit Beginn der Neuzeit wieder stark in den Fokus europäischer Interessen; der Kolonialismus von Portugal, Spanien, Frankreich, Italien und Großbritannien hat diese Länder nicht nur ausgebeutet, sondern ihnen auch wichtige sozio-kulturelle Impulse vermittelt.
13) vgl. auch Heese 2009
14) Führende israelische Politiker haben einen EU-Beitritt Israels als Zukunftsvision angesprochen und auch in der Bevölkerung gäbe es eine breite Mehrheit dafür. Israel ist Mitglied des europäischen Fußballverbands (UEFA) und nimmt am Eurovisions-Songcontest teil; die EU selbst hat 2014 einen spezifischen Action Plan für eine engere Zusammenarbeit mit Israel entworfen.
15) Haller 2015

  • Breuss, Fritz/ Stefan Griller, Hrsg. (1998), Flexible Integration in Europa, Einheit oder „Europa a la carte“? Wien: Springer
    Faber, Anne (2007), „Die Weiterentwicklung der Europäischen Union: Vertiefung versus Erweiterung?“ Integration 30:103-116
  • Grabitz, Eberhard/ Fritz Frantzmeyer, Hrsg. (1984), Abgestufte Integration. Eine Alternative zum herkömmlichen Integrationskonzept? Kehl am Rhein: Engel
  • Haller, Max (2009), Die europäische Integration als Elitenprozess. Das Ende eines Traums? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
  • Haller, Max (2009a), »2050: Ein Afrikaner reist durch Europa«, in: Attac, Hrsg., Wir bauen Europa neu. Wer baut mit?, St. Pölten/ Salzburg: Residenz Verlag, S. 209-226
  • Haller, Max (2015), »Why empires build walls. Sociological considerations about the new Iron Curtain between Africa and Europe«, in: Alberto Gasparini, ed., The Walls between Conflict and Peace?, Leiden: Brill
  • Heese, Benjamin (2009), Die Union für das Mittelmeer: zwei Schritte vor, einen zurück? Berlin: Lit
  • Jordan, Terry G. (1988), The European Culture Area. A Systematic Geography, New York: Harper & Row
    Keutel, Anja (2012), Die Europäische Union zwischen einheitlicher Integration und Abstufung, Institut für Soziologie der Universität Leipzig, Arbeitspapier Serie Europa No.5
    Maurer, Andreas (2007), “Chancen und Grenzen eines Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten”, Wirtschaftsdienst 87:499-502
    Schäfer, Wolf (2007), „Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?“ Wirtschaftsdienst 87:495-498
    Stone Sweet, Alec/Thomas Brunell (1998), „Constructing a Supranational Constitution: Dispute Resolution and Governance in the European Community“, American Political Science Review 92: 63–81
    Treib, Oliver (2004) Der EU – Verfassungsvertrag und die Zukunft des Wohlfahrtsstaates in Europa, Institut für Höhere Studien Wien, Reihe Politikwissenschaft 99
    Wind, Marlene (2003), „The European Union as a Polycentric Polity: Returning to a Neo-Medieval Europe?“ In: Joseph H. H. Weiler/Marlene Wind, Hrsg. European Constitutionalism Beyond the State, Cambridge: Cambridge University Press, S. 103–31

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Haller, M. (2015). Die Europäische Union und das größere Europa. Zwischen Vertiefung und Erweiterung: eine Strategie der abgestuften Integration. Wien. ÖGfE Policy Brief, 13’2015

Max Haller

Max Haller, born 1947, Austrian and Italian citizen, was Professor of Sociology at the University of Graz. He is a member of the Austrian Academy of Science (vice-chair of its Commission on Migration and Integration) and president of the Viennese Sociological Association. His recent works are on economic nationalism and migration; they include the two edited books Migration und Integration - Fakten oder Mythen? Siebzehn Schlagwörter auf dem Prüfstand (Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2019) and Die Lebenssituation von Migantinnen und Migranten in Österreich. Ergebnisse einer Umfrage unter Zugewanderten (Springer, Wiesbaden 2019).