Dialog statt Polarisierung: Europas Demokratie und die lokale Ebene

Handlungsempfehlungen

  1. Die lokale Ebene und ihre Vereine sind Orte des Dialogs und sollten daher in ihrer Europäisierung verstärkt gefördert werden.
  2. Die EU-Institutionen sollten auch auf lokaler Ebene mehr Präsenz zeigen und engere Kooperation suchen.
  3. Bereits bestehende Instrumente wie Städtepartnerschaften oder EU-Regio-Initiativen sollten für transeuropäischen Dialog genutzt werden.

Zusammenfassung

Eines der größten Probleme unserer Demokratien liegt derzeit darin, dass es eine starke Polarisierung gibt, die mit der Gefahr antidemokratischer Ideen und autoritärer Strömungen verbunden ist. Auch rund um die Zukunft und Ausgestaltung der Europäischen Union verschärfen sich die bestehenden Meinungsunterschiede an den Polen der Debatte. Daher ist es gerade jetzt dringend nötig, den Dialog zu fördern und dadurch die Europäische Union zu einem Raum der demokratischen Auseinandersetzung zu machen, um nicht nur die europäische Idee, sondern auch die Demokratie zu retten. Gelingen kann dies durch die Wiederbelebung und Stärkung bereits existierender Instrumente des europäischen Austausches sowie durch neue und verstärkte Bemühungen von der lokalen Ebene bis hin zur supranationalen. Eine besondere Rolle kommt dabei den Städten und Gemeinde sowie Vereinen zu, die in ihrer Europäisierung zu stärken sind und von denen manche als Vorbild für Dialog und Demokratie gelten können.

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Dialog statt Polarisierung: Europas Demokratie und die lokale Ebene

Einleitung

Europa ist in den letzten Jahren mit einer starken Polarisierung konfrontiert, die sich um verschiedene Politikfelder und Weltanschauungen dreht und die durch die COVID-19-Krise noch einmal einen Schub erlebt. Auch die Zukunft der Europäischen Union ist Gegenstand dieser Polarisierung. Für die einen soll der Weg in Richtung einer Renationalisierung gehen. Für die anderen ist eine Vertiefung der Union und ihre Stärkung das Ziel. Die besondere Gefahr von Polarisierung besteht in der Verhärtung von Positionen und dem Ende des Dialogs. Anstatt miteinander zu sprechen wird übereinander gesprochen. Für die Zukunft Europas und die Demokratie in den Mitgliedstaaten ist diese Entwicklung besorgniserregend. Gegenmaßnahmen sind dringend nötig. Auf der lokalen Ebene passiert schon viel. Der Nationalstaat kann davon lernen.

Die besondere Gefahr von Polarisierung besteht in der Verhärtung von Positionen und dem Ende des Dialogs.

Merkmale und Treiber der Polarisierung

Als Polarisierung bezeichnet man in der Politikwissenschaft einen Zustand oder Prozess verhärteter Meinungsunterschiede, denen vermeintliche oder tatsächliche Ungleichheiten zugrunde liegen (DiMaggio et al. 1996, 693). Es geht dabei stets um einen Kampf zwischen politischer Definitionshoheit und Machtfragen. Ungleiche Machtverhältnisse, strukturelle Marginalisierung, Diskriminierung oder Ausschluss bestimmter Gruppen können die Polarisierung vorantreiben.

Vier Merkmale zeichnen Polarisierungsprozesse aus (vgl. Pausch 2020):

1. Diskrepanz der Meinungen:

Zwei klar erkennbare und profilierte Meinungen stehen sich gegenüber. Diese Meinungen sind nicht kompatibel und konfigurieren sich in einem Entweder-Oder-Verhältnis. In Bezug auf die EU sind die beiden Pole, die sich gegenüberstehen, die Annahme, dass Europa die nationalstaatlichen Grenzen überwinden, eine gemeinsame föderale Zukunft aufbauen oder aber sich renationalisieren sollte und das unter der Garantie der vollen Souveränität der Mitgliedstaaten.

2. Gruppenbildung:

Die beiden Meinungen werden von zwei verschiedenen Gruppen vertreten, deren Mitglieder sich der Diskrepanz bewusst sind und sich einer der beiden Gruppen zugehörig fühlen. Unter dem Begriff „affective polarisation“ versteht man in der Politikwissenschaft die gegenseitige Abneigung der Gruppen (vgl. Iyengar et al. 2019). Notwendig ist das Bewusstsein, dass die eigene Meinung ein Pol in einem Spektrum ist, das viele Meinungen enthalten kann, und dass die eigene Position durch eine in irgendeiner Weise sichtbare Gruppe vertreten wird. Oft geben sich diese Gruppen selbst einen Namen, oder es werden ihnen Namen zugeschrieben. In Bezug auf die Positionierung zur EU kennen wir die Zuschreibungen als Pro- und Anti-Europäer oder Europaskeptiker.

3. Purismus:

Relative Positionen werden von den beiden Gruppen nicht berücksichtigt. Eine versöhnliche Position wird abgelehnt. Die Gruppen, die in einem Polarisierungsprozess die Pole bilden, können keine Mittelposition einnehmen, weil ihre Meinungen zu weit auseinanderliegen. Ein drastisches Beispiel kann das veranschaulichen: Gegner der Todesstrafe können nicht über die Todesstrafe verhandeln. Ihre Position ist nicht verhandelbar. Dasselbe gilt für Menschenrechtsaktivisten. Die historischen KämpferInnen für Demokratie konnten ihr Ziel nicht mit denen aushandeln, die ihre autoritäre Macht bewahren wollten. Jemand, der für die Rechte der Frauen kämpft, kann das Ziel der Gleichberechtigung nicht aufweichen oder schwächen. Umgekehrt geben autoritäre Kräfte, die sich der Emanzipation widersetzen, keinen Zentimeter nach. Die Positionen an den Polen sind daher für die VertreterInnen dieser Pole grundsätzlich nicht verhandelbar. Das gilt auch im Fall der Polarisierung um Europa. Wer sich für eine europäische Republik einsetzt, wird die Möglichkeit einer Renationalisierung nicht diskutieren. Umgekehrt gilt dasselbe.

4. Politischer Kampf:

Als viertes Merkmal ist zu nennen, dass ein politischer Kampf um Positionen geführt werden muss, um von Polarisierung reden zu können. Die bloße Existenz von großen Meinungsunterschieden ist nicht per se politisch relevant, denn es wäre auch denkbar, dass eine der Gruppen oder sogar beide einfach im Stillen existieren ohne einen politischen Kampf auszutragen. Erst wenn in der Öffentlichkeit darum gestritten wird, kann von einer Polarisierung ausgegangen werden.

Die COVID-19-Krise verschärft die Polarisierung weiter, denn sie politisiert sogar ansonsten privateste Lebensbereiche. Ausgangssperren, Schulschließungen, Einschränkungen der wirtschaftlichen Tätigkeit, Vorschriften zum Tragen von Masken und Abstandsregeln greifen so unmittelbar in das Leben jedes/jeder Einzelnen ein, dass man sich dazu kaum neutral verhalten kann. Damit steigt das Risiko, dass sich bereits länger existierende Polarisierungsthemen weiter verschärfen.

Die COVID-19-Krise verschärft die Polarisierung weiter, denn sie politisiert sogar ansonsten privateste Lebensbereiche.

Polarisierung und Demokratie

Polarisierungsprozesse sind allerdings nicht per se als gefährlich oder demokratiegefährdend zu betrachten. Sie gehören in pluralistischen Gesellschaften in einem gewissen Maße dazu. Historisch betrachtet sind Polarisierungsprozesse sogar häufig eine Voraussetzung für gesellschaftlichen Wandel hin zu mehr Demokratie. Oft geht Polarisierung von unten aus und entwickelt sich bottom-up. Wenn soziale Bewegungen einen Mangel an Gerechtigkeit oder Chancen für sich oder andere Gruppen erkennen und dagegen ankämpfen, ist zuerst mit einer Verhärtung der Positionen zu rechnen, da sich die herrschenden oder privilegierten Gruppen bedroht fühlen und die Forderungen zurückweisen können. Nur wenn der Druck der sozialen Bewegung so stark wird, dass er zu einem Einlenken führt, kann sich die Polarisierung hin zu einer Demokratisierung entwickeln. Damit es dazu kommt, muss der Polarisierungsprozess durch Dialog und Inklusion positiv gewendet werden (vgl. McCoy and Somer 2018, 234).

Im Gegensatz dazu entwickelt sich eine gefährlichere Form der Polarisierung als eine immer schärfere Zuspitzung der Positionen in der breiten gesellschaftlichen Mitte, die letztlich in Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung münden kann. Die politischen Meinungsunterschiede führen in einem solchen Fall zu starkem Misstrauen sowie Verhärtung und weiten sich relativ rasch unter den AnhängerInnen der jeweiligen Seite, bis weit in die Mitte der Gesellschaft hin, aus. Die Polarisierung führt zu sozialer Spaltung und zum Ende des Dialogs. Sie wird häufig von populistischen PolitikerInnen vorangetrieben und bewusst geschürt. „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“ lautet die zugespitzte Formel, die dieses Phänomen beschreibt. Der Einsatz von Medien spielt dabei eine wichtige Rolle. Medienmacht ist daher in Polarisierungsprozessen von größter Bedeutung. Kommunikationsmethoden, die dem Dialogprinzip widersprechen und auf Monologen aufbauen, werden typischerweise von spaltenden PolitikerInnen eingesetzt (Pausch 2020, 128).

In der Analyse von Polarisierung ist es daher auch für die Zukunft Europas wichtig, verschiedene Formen zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren. Wer die Demokratie Europas stärken will, kann sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen, dass jegliche Form der Polarisierung zu ersticken sei. Vielmehr geht es in vielen Fällen um die Unterstützung von Demokratisierungsprozessen und das Verhindern eines Abdriftens ins Autoritäre.

In der Analyse von Polarisierung ist es auch für die Zukunft Europas wichtig, verschiedene Formen zu erkennen und entsprechend darauf zu reagieren.

Polarisierung um die Zukunft Europas

Spätestens seit den 1990er Jahren ist der politische Diskurs über die EU und ihre Entwicklung von zwei gegensätzlichen Argumentationslinien geprägt, die in den Krisenzeiten der letzten Jahre mehr oder weniger öffentlich diskutiert wurden. Die Konfliktlinien spielen sich zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Ideen ab (Merkel 2017). Die kommunitaristische Idee, in ihrer Extremform eine nationale bis nationalistische Perspektive, verspricht die Rettung der Demokratie durch Renationalisierung und eine Schwächung der Union. Im Zusammenhang mit COVID-19 setzt sie auf nationale Abschottung und Grenzen. Sie wird von rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien, aber auch – in geringerem Maße – von einigen konservativen und manchen linken Parteien vertreten (Lefkofridi 2020, 111 f.). Karl Aiginger unterstreicht in einem Policy Brief von 2017, dass „zentrale Ursache für (…) den Ruf nach Protektionismus und Renationalisierung in der steigenden Ungleichheit und der hohen Arbeitslosigkeit“ liegen (2017, 2). Auch diese ökonomischen Faktoren sind Treiber einer Polarisierung rund um Europa.

Die kosmopolitische Idee und ihre proeuropäischen AkteurInnen kontern den NationalistInnen mit dem Argument, dass die Probleme der europäischen Politik nicht an nationalen Grenzen Halt machen und sich beispielsweise unter anderem auf globale Märkte, Migrationsbewegungen, ökologische Fragen, besonders auch auf Themen wie Gesundheit und die Bekämpfung von COVID-19 beziehen. Demokratie könne nicht länger im Käfig der Nationalstaaten eingesperrt werden, weil Kapital, Arbeit, Güter und – in erster Linie auch – die Bürgerinnen und Bürger mobiler geworden sind und weil sie von vielen Entscheidungen betroffen sind, die nicht im eigenen Land getroffen werden (Aiginger 2017, 2). Eine Demokratisierung der EU inklusive einem Macht- und Souveränitätsverlust für die Nationalstaaten sei daher die einzige vernünftige Antwort (vgl. Bresolin 2020).

Seit den 1950er Jahren stehen sich die zwei Pole gegenüber: die Idee eines supranationalen Europas und die eines intergouvernementalen Europas.

An sich ist die Frage, was die Europäische Gemeinschaft oder Union sein soll, nicht neu. Seit den 1950er Jahren stehen sich die zwei Pole gegenüber: die Idee eines supranationalen Europas und die eines intergouvernementalen Europas. Im ersten Modell werden Entscheidungen und Regelungen über dem Nationalstaat definiert, in supranationalen Institutionen wie dem Europäischen Parlament, wobei die Mitgliedstaaten als eine Art zweite Kammer abstimmen. Im zweiten Modell bleiben die Regierungen der Mitgliedstaaten durch das Einstimmigkeitsprinzip die entscheidenden Akteure; sie behalten ein Vetorecht oder zumindest Ausstiegsmöglichkeiten.

Gerade in den letzten Jahren hat sich die Polarisierung rund um diese Thematik zugespitzt. Die Renationalisierungsfront ist breiter geworden und gleichzeitig angriffiger gegenüber ihren GegnerInnen am anderen Pol des Spektrums. Der BREXIT kann als eine Folge dieser Polarisierung erachtet werden. Die Unstimmigkeiten über die Aufnahme von Geflüchteten sowie die Grenzschließungen im Zuge der COVID-19-Krise treiben die Polarisierung voran. Viele nationalstaatliche PolitikerInnen setzen bewusst auf diese emotionalisierte Thematik und spalten weiter, auch wenn sie sich nach außen hin als konziliant ausgeben (Pausch 2020, 136).

Soll eine Zunahme der Polarisierung vermieden werden, dann muss die Europäische Union im Mehrebenensystem demokratisiert werden und den BürgerInnen mehr Rechte, mehr Möglichkeiten zum Dialog und mehr Mitbestimmung einräumen.

Das funktioniert nicht zuletzt auch deswegen ganz gut, weil die EU es noch nicht geschafft hat, den BürgerInnen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Mitbestimmung zu vermitteln. Wenn wir davon ausgehen, dass Polarisierung sehr oft auf einem Kampf um Machtverhältnisse beruht, dann können wir auch den Streit um die Zukunft Europas als einen Kampf um Anerkennung oder um politische Teilhabe betrachten. Soll eine Zunahme der Polarisierung vermieden werden, dann muss die Europäische Union im Mehrebenensystem demokratisiert werden und den BürgerInnen mehr Rechte, mehr Möglichkeiten zum Dialog und mehr Mitbestimmung einräumen. Demokratie-Innovationen und Dialoge von der lokalen bis zur europäischen Ebene sind dann empfehlenswert.

Demokratie und Dialog gegen Polarisierung

Wichtige Schritte zu einer besseren Einbeziehung der BürgerInnen auf EU-Ebene und einer Frühprävention gegen gefährliche Polarisierungsprozesse wurden in ÖGfE Policy Briefs und anderen Publikationen der letzten Jahre bereits ausführlich diskutiert. Zuletzt hat Heinrich Neisser eindringlich darauf hingewiesen, dass es eine öffentliche Debatte über Europa braucht (Neisser 2020). Kurri und Schmidt (2020) haben die Öffnung der EU-Institutionen für die Jugend gefordert. Die ökonomischen Notwendigkeiten zur Linderung ökonomischer Ungleichheiten wurden von Weyerstrass/Kocher (2020), Bayer (2020) oder Nowotny (2020) dargestellt .Daher seien sie an dieser Stelle nur kurz genannt: Citizens‘ assemblies, Jugendräte oder andere Beteiligungsformate auf EU-Ebene, organisiert vom EU-Parlament, der Europäischen Kommission oder den EU-Mitgliedstaaten mit einem Austausch zwischen BürgerInnen und Politik wären wichtige Instrumente und müssten weiter gestärkt werden (vgl. Ehs 2020). Grundsätzlich kann man dabei von rechtlich zu verankernden Demokratie-Reformen mit stärkerer Partizipation und Dialogforen zwischen unterschiedlichen AkteurInnengruppen unterscheiden – etwa PolitikerInnen und BürgerInnen, letztere aus verschiedenen Mitgliedstaaten und mit unterschiedlichem sozio-ökonomischen Hintergrund.

Die EU-Kommission sollte sich noch viel intensiver darum bemühen, mit den Menschen in den Mitgliedstaaten in Kontakt zu kommen, sich der Kritik und der Diskussion stellen. Hier wäre die Kooperation mit der lokalen Ebene besonders wichtig. Denn die Lebenswelt der EuropäerInnen spielt sich in erster Linie in der Gemeinde, der Stadt oder dem Dorf ab, wo sie ihr tägliches Leben verbringen. Davon scheint die EU-Politik meilenweit entfernt. Sie könnte sich aber annähern.

Die EU-Kommission sollte sich noch viel intensiver darum bemühen, mit den Menschen in den Mitgliedstaaten in Kontakt zu kommen, sich der Kritik und der Diskussion stellen.

Was spricht dagegen, dass Kommissionspräsidentin von der Leyen alljährlich eine Tour durch europäische Städte macht und dort in öffentlich zugänglichen Veranstaltungen mit verschiedenen Zielgruppen diskutiert? In den Sommermonaten in Form einer Interrail-Reise der anderen Art mit Zügen, in denen sie von Reisenden begleitet wird und da und dort Station macht. Jeder Mitgliedstaat hat eine/n KommissarIn und mehrere EU-Abgeordnete. Auch sie sollten intensiver den Kontakt mit den BürgerInnen suchen, nicht nur in sozialen Medien, sondern in physischen Treffen in den Städten und Gemeinden, unter Einbindung der BürgermeisterInnen und GemeindepolitikerInnen. Während der Salzburger Festspiele gab es im Sommer 2020 ein von Europaministerin Karoline Edtstadler organisiertes Frühstück mit der Vizepräsidentin der EU-Kommission Věra Jourová und dem EU-Parlamentarier David McAllister, allerdings fernab der Öffentlichkeit im elitären Schloss Leopoldskron (SN 2020). Am Abend besuchte man gemeinsam eine Veranstaltung der Festspiele. Zusätzlich könnten aber auch andere Orte aufgesucht werden – warum nicht Sozialeinrichtungen oder alternative Kulturveranstaltungen?

Denn neben einem größeren Engagement im direkten Kontakt zu den BürgerInnen auf EU-Ebene können auch dem Nationalstaat untergeordnete Gebietskörperschaften aktiv dazu beitragen, der Polarisierung um das Thema EU entgegen zu steuern bzw. diese durchaus auch ins Positive zu wenden. Die Liste der möglichen Methoden ist lang. Auf lokaler Ebene gibt es bereits jetzt Initiativen, die eine lange Tradition haben, wie etwa europäische Städtepartnerschaften oder regionale Kooperationen im Zuge der EUREGIO-Initiativen oder des Ausschusses der Regionen. Diese Aktivitäten sind einerseits gut etabliert, andererseits scheinen sie zur Selbstverständlichkeit geworden und in der letzten Zeit zunehmend aus dem Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt zu sein. Gänzlich übersehen werden diese bestehenden Partnerschaften offenbar von anderen überlokalen bzw. überregionalen Ebenen. Dabei wäre es einfach, im Zuge einer bestehenden Städtepartnerschaft eine Veranstaltung, eine Initiative oder ein Projekt unter Einbeziehung von EU-Kommission oder EU-Parlament zu organisieren. Zu fehlen scheint der Wille.

Vieles muss in Europa nicht erst erfunden werden. Aber Programme wie diese, die explizit für den Dialog konzipiert sind, sind offenbar nicht bekannt genug und werden auch zu wenig genutzt, um Polarisierungsprozesse abzumildern. Ein konkreter Vorschlag für Städte und Regionen wäre die Planung von Veranstaltungen, die auf den Abbau von Polarisierung abzielen, also Foren zu schaffen, in denen sich Menschen aus verschiedenen EU-Ländern mit EuropapolitikerInnen und LokalpolitikerInnen treffen, um heiße Themen oder die Zukunft der EU zu diskutieren.

Österreichische Städte könnten außerdem eine intensivere Einbindung in europäische Netzwerke anstreben, die Dialogforen und Austausch bieten. Das Europäische Forum für Urbane Sicherheit in Paris, das auf Initiative des Europarats in den 1990er Jahren gegründet wurde, setzt sich in seiner Arbeit besonders auch für Polarisierungsprävention ein. Außer Wien ist keine österreichische Stadt dort Mitglied.

Eine weitere mögliche Intervention gegen Polarisierung ist die Einführung von so genannten BürgerInnen-Agoras auf lokaler Ebene. Deren Ziele lassen sich unter der allgemeinen Idee einer inklusiven BürgerInnenschaft zusammenfassen. Sie können verschiedene Formen annehmen. Um die Polarisierung der Meinungen abzuschwächen und die Kommunikation zu fördern, sind sie als Dialogforen konzipiert; sie können denjenigen eine Stimme geben, die oft nur wenig oder gar keinen Zugang zur öffentlichen Debatte haben, und sie können Menschen helfen und befähigen, sich an politischen Diskussionen und Entscheidungsprozessen zu beteiligen. In all ihren Formen ermöglichen BürgerInnen-Agoras demokratische Erfahrung, Empowerment und Selbstwirksamkeit. Richtet man sie themenspezifisch auf Europa aus und bindet Menschen aus unterschiedlichen sozialen Gruppen ein, so fördern sie das Verständnis und den Dialog über die EU. Um verschiedene Bevölkerungsschichten zu erreichen, empfiehlt sich die Zusammenarbeit mit schulischen Einrichtungen, Sozial- und JugendarbeiterInnen, Vereinen etc.

Die Förderung eines Europadialogs kann auch auf Vereinsebene in vielen Bereichen gelingen. Es ist etwa überraschend, dass im Breitensport wenig europäischer Austausch stattfindet, obwohl er im Profisport und für Fans zu einer Selbstverständlichkeit zählt. In diesem Bereich wären viele Initiativen denkbar, von der Gründung einer europäischen Fußball-Liga im Hobbysport, wo sich Teams aus verschiedenen Ländern einmal jährlich zu einem Turnier begegnen bis hin zu Fan-Zusammenkünften bei internationalen Matches in der Europa-League. Ähnliches ist freilich für alle möglichen Sportarten und insbesondere auch im ehrenamtlichen Kulturbetrieb denkbar. Kleine Kulturvereine könnten in den Möglichkeiten des europäischen Austausches gestärkt werden, durch einfach zu beantragende Förderprogramme oder von der Politik unterstützte und beworbene Initiativen.

Die früheren Programme Leonardo, Comenius und Grundtvig müssten im Erasmus-Rahmen ausgebaut und vor allem stärker beworben werden.

Andere bereits bestehende Programme des europäischen Austausches sollten weiter ausgebaut werden. Besonders bedauerlich ist der Gap in den Möglichkeiten, Europa kennenzulernen, der zwischen jungen Studierenden und jungen Lehrlingen besteht. Die österreichische Bundesregierung und die EU-Institutionen sollten sich darum bemühen, auch denen Möglichkeiten zu bieten, die nicht über Studienprogramme ins Ausland gehen können. Die früheren Programme Leonardo, Comenius und Grundtvig müssten auch im Erasmus-Rahmen ausgebaut und vor allem stärker beworben werden.

Alle diese Vorschläge verbessern das Verständnis für die EU, erhöhen die Teilnahmemöglichkeiten und –bereitschaft und sind auf Dialog ausgerichtet. Dadurch können sie zu einer Entschärfung bzw. positiven Wendung von Polarisierungsprozessen beitragen.

Konklusion

Die Zukunft der Europäischen Union wird wahrscheinlich weiterhin durch eine polarisierende Debatte über die Union selbst, ihre Form zwischen Bundesstaat sowie internationaler Organisation und ihre Offenheit oder Einheit in Bezug auf Zuwanderung und Menschenrechte gekennzeichnet sein. Dieser Polarisierung kann nur durch eine Demokratisierung der EU entgegengewirkt werden, die zum Dialog führt und jedem die Möglichkeit gibt, seine politischen Meinungen gleichberechtigt und unter Achtung anderer Ansichten zu äußern. Die große Chance besteht darin, von der lokalen Ebene zu lernen und die bereits bestehenden Erfahrungen, Partnerschaften oder Projekte zu nutzen. Es gibt, wie in diesem Policy Brief ausgeführt wurde, eine Vielzahl an Maßnahmen, die diesen Prozess unterstützen können.

Aiginger, Karl (2017). Die Globalisierung verantwortungsbewusst und europäisch gestalten. Wien. ÖGfE Policy Brief, 18’2017.

Bayer, Kurt (2020). EU-Wirtschaftspolitik in Zeiten der Coronakrise. Wien. ÖGfE Policy Brief, 07’2020.

Bresolin, Alessandro (2020). How the Nation State Ruled Europe. Nationalism, Unionism and Federalism, in: Pausch, Markus (ed.). Perspectives for Europe. Historical Concepts and Future Challenges. Nomos, pp. 25-44.

DiMaggio, Paul/Evans, John/Bryson, Bethany (1996). Have Americans’ social attitudes become more polarized? American Journal of Sociology. 102(3), 690–755. https://doi.org/10.1086/230995

Ehs, Tamara (2020). Democratisation Through Participation in Juristocracy: Strategic Litigation Before the ECJ in: Pausch, Markus (ed.). Perspectives for Europe. Historical Concepts and Future Challenges. Nomos, pp. 119-126.

Iyengar, Shanto/Lelkes, Yphtach/Levendusky, Matthew/Malhotra, Neil/Westwood, Sean J. (2019). The Origins and Consequences of Affective Polarization in the United States, in: Annual Review of Political Science. 2019, 22:1, pp. 129-146.

Kocher, Martin/Weyerstrass, Klaus (2020). Coronavirus stellt nationale und internationale Wirtschaftspolitik vor große Herausforderungen. Wien. ÖGfE Policy Brief, 11’2020.

Kurri, Peter/Schmidt, Paul (2020). Next Generation EU: Die Europa-Hauptstadt Brüssel für Jugendliche erlebbar machen. Wien. ÖGfE Policy Brief, 16’2020.

Lekfofridi, Zoe (2020). Will the EU Survive or Disintegrate? The Role of Political Parties, in: Pausch, Markus (ed.). Perspectives for Europe. Historical Concepts and Future Challenges. Nomos, pp. 95-118.
Merkel, Wolfgang (2017). Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie, in: Harfst, Philipp/Kubbe, Ina/Poguntke, Thomas (ed.) Parties, Governments and Elites. Vergleichende Politikwissenschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-17446-0_2

McCoy, Jennifer/Somer, Murat (2019): Toward a Theory of Pernicious Polarization and How It Harms Democracies: Comparative Evidence and Possible Remedies, The Annals of the American Academy of Political and Social Sciences. Volume: 681, issue: 1, pp. 234-271.

Pausch, Markus (2020). Democratic Innovations Against Polarisation in Europe, in: Pausch, Markus (ed.). Perspectives for Europe. Historical Concepts and Future Challenges. Nomos, pp. 127-150.

Neisser, Heinrich (2020). 25 Jahre Mitgliedschaft Österreichs in der Europäischen Union. Wien. ÖGfE Policy Brief, 23’2020.

Nowotny, Ewald (2020). Euro-Bonds, Corona und „Kriegsfinanzierung“. Wien. ÖGfE Policy Brief, 09’2020.

SN Salzburger Nachrichten, 1. August, 2020, abrufbar unter: Salzburger Festspiele: Europaministerin Karoline Edtstadler empfing EU-Kollegen im Schloss Leopoldskron | SN.at

ISSN 2305-2635

Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Schlüsselwörter

Polarisierung, Nationalisierung, Demokratisierung, Zukunft Europas, Dialog, BürgerInnen, EU-Institutionen, COVID-19

Zitation

Pausch, M. (2021). Dialog statt Polarisierung: Europas Demokratie und die lokale Ebene. Wien. ÖGfE Policy Brief, 02’2021

Prof. (FH) Dr. Markus Pausch

Prof. (FH) Dr. Markus Pausch ist Professor am Studiengang Soziale Arbeit und Soziale Innovation der Fachhochschule Salzburg. Er beschäftigt sich u.a. mit Demokratie, demokratischen Innovationen und der Zukunft der EU. Aktuelle Publikation als Hrsg: Perspectives for Europe. Historical Concepts and Future Challenges, Nomos-Verlag 2020. www.markuspausch.eu