Daseinsvorsorge und gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Pandemie: Was hat Europa gelernt?

Handlungsempfehlungen

  1. In einer Krisensituation sind Einreiseregelungen flexibel zu gestalten, um Versorgungsengpässe in der Wirtschaft und Gesellschaft – wie etwa in den Bereichen Erntehilfe oder Pflege – zu verhindern.
  2. Die Pandemie hat gezeigt, dass Frauen infolge ihrer Konzentration auf bestimmte Berufsfelder wie den Tourismus, die Pflege, körpernahe Dienstleistungen und das Bildungswesen von den Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Krise besonders betroffen waren. Eine Verbreiterung der Berufspalette von Frauen, eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in bestimmten Tätigkeiten, und eine leistbare externe Kinderbetreuung sind anzustreben, um die Arbeit von Frauen zu stabilisieren und ihre Gleichberechtigung nachhaltig zu sichern.
  3. Um dem Corona-bedingten Auseinanderdriften der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen entgegen zu wirken, sind Voraussetzungen zu schaffen, die Kindern aus sozial benachteiligten Schichten die Geräte, Software, Lernräume und personelle Unterstützung geben, die sie brauchen, um mitzuhalten.

Zusammenfassung

Die Corona-Pandemie stellte nicht nur unser Gesundheitssystem vor große und neue Herausforderungen, sondern auch die Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass es systemrelevante Tätigkeiten und Berufe gibt, bei deren Ausfall die Versorgung der Gesellschaft nicht mehr gewährleistet ist. Frauen und MigrantInnen üben besonders häufig diese systemrelevanten Tätigkeiten aus, die aber weder gut bezahlt sind noch eine hohe gesellschaftliche Wertschätzung erfahren. Gleichzeitig wurden vor allem Branchen von der Pandemie getroffen, in denen überproportional Frauen und MigrantInnen arbeiten. Diese besondere Betroffenheit von Frauen und MigrantInnen legt nahe, dass ein Maßnahmenmix zum Einsatz kommen muss, der eine nachhaltige Daseinsvorsorge der Gesellschaft sicherstellt. Darüber hinaus ist es notwendig, Rahmenbedingungen im Schulsystem zu schaffen, die das Auseinanderdriften der Lernchancen und Lebensperspektiven von Kindern und Jugendlichen nach sozialen Milieus verhindern. Insbesondere Kinder aus sozial benachteiligten Schichten brauchen technische und personelle Unterstützung, damit auch sie in einer zunehmend digitalen Umwelt reüssieren können.

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Daseinsvorsorge und gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Pandemie: Was hat Europa gelernt?

Wirtschaftlicher Effekt der Pandemie und Corona-Inzidenz

Nicht nur das Ausmaß der wirtschaftlichen Einbußen unterschied sich von früheren Konjunkturkrisen, sondern auch das Muster nach Branchen, Berufen, Geschlecht und Herkunft.

Der Wirtschaftseinbruch als Folge der Pandemie war in Österreich und in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) stärker als in allen anderen Konjunkturkrisen seit dem 2. Weltkrieg. Aber nicht nur das Ausmaß der wirtschaftlichen Einbußen unterschied sich von früheren, sondern auch das Muster nach Branchen, Berufen, Geschlecht und Herkunft. Während traditionelle Konjunkturkrisen von einem Einbruch im internationalen Handel und der industriell-gewerblichen Produktion angeführt werden, also Bereichen in denen Männer überproportional beschäftigt sind, waren es in der Pandemie die Einschnitte im Tourismus, der Hotellerie, dem Gast- und Schankgewerbe, in Kunst und Kultur, also Bereichen mit einem überdurchschnittlich hohen Beschäftigungsanteil von Frauen und ausländischen Arbeitskräften. In der Folge litten jene EU-Mitgliedstaaten stärker in der Corona-induzierten Wirtschaftskrise, in denen der Tourismus ein besonderes Gewicht im Wirtschaftsgeschehen hat. Das sind vor allem die südeuropäischen Länder, aber auch Frankreich und Österreich. In diesen Ländern schrumpfte die wirtschaftliche Wertschöpfung im Jahr 2020 gegenüber dem Vorjahr zwischen 10,8 % (Spanien) und 6,3 % (Österreich). Am günstigsten war der Wirtschaftsverlauf in den skandinavischen Ländern, der Schweiz, einigen mittel- und osteuropäischen Ländern wie Polen und dem Baltikum, mit Rückgängen um die 3 %.[1] Die wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Länder wird in den nächsten Jahren davon abhängen, wie erfolgreich sie in der Bekämpfung der Pandemie sind. Die Sommerprognose 2021 der Europäischen Kommission geht davon aus, dass die Impffortschritte eine rasche Erholung der Wirtschaft erlauben werden. Jedoch dürfte COVID-19 auch noch im Jahr 2022 die öffentliche Gesundheit belasten und gewisse Einschränkungen im Alltags- und Wirtschaftsleben bedingen.

In der Folge litten jene EU-Mitgliedstaaten stärker in der Corona-induzierten Wirtschaftskrise, in denen der Tourismus ein besonderes Gewicht im Wirtschaftsgeschehen hat.

Tabelle 1: Wirtschaftliche Wachstumsraten in der Europäischen Union (BIP real gegenüber dem Vorjahr in %)

Am geringsten sind die Corona-induzierten Todesfälle in Relation zur Bevölkerung in Finnland und Norwegen.

Die Wachstumsverluste korrelieren nicht mit den länderspezifischen Infektionsraten der Bevölkerung mit Corona und den Corona-induzierten Todesraten. Vielmehr resultieren letztere aus dem komplexen Zusammenwirken unterschiedlicher Rahmenbedingungen, wie der Altersstruktur der Bevölkerung, einem abweichenden Mobilitätsverhalten der BewohnerInnen und einem anderen Maßnahmenmix, den die Politik der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zur Bekämpfung der Pandemie eingesetzt hat.[2] In der Folge gab es, gemäß den internationalen Daten der Johns Hopkins University[3] zur Jahresmitte 2021, in Belgien, einem Land mit einem gleich hohen Wirtschaftseinbruch wie Österreich, einen der höchsten Werte an Corona-bedingten Todesfällen pro 100.000 EinwohnerInnen in der EU (219,79), gefolgt von einigen Mittelosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, allen voran Ungarn (307,33), einigen Südeuropäischen Ländern wie Italien (212,39), Spanien (173,09), aber auch Frankreich (167,12) und Schweden (142,48). Der Wert für Österreich (120,96) liegt hingegen zusammen mit Deutschland (110,26) im unteren Mittelfeld. Am geringsten sind die Corona-induzierten Todesfälle in Relation zur Bevölkerung in Finnland und Norwegen.

Tabelle 2: Wirtschaftswachstum 2020 in der EU/EFTA/Schweiz/Vereinigtes Königreich und Corona-induzierte Todesfälle pro 100.000 EinwohnerInnen Jahresmitte 2021

Die Ausstattung mit Intensivstationsbetten, die einer OECD-Studie vom April 2020[4] zufolge unter den EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ist, dürfte auch zum Teil eine Erklärung für das Maßnahmenbündel liefern, das die einzelnen EU-Mitgliedstaaten zur Eindämmung der negativen Wirkungen der Pandemie auf das Gesundheitssystem, die Wirtschaft und Gesellschaft gewählt haben. Gemäß OECD ist die Ausstattung je 100.000 EinwohnerInnen in Deutschland am höchsten, gefolgt von Österreich, Belgien und Frankreich. Das erklärt, warum Deutschland mehr als andere EU-Mitgliedstaaten IntensivpatientInnen aus anderen europäischen Ländern aufgenommen hat.

Die grenzüberschreitende Mobilität der Arbeitskräfte hat im Gegensatz zur Beschäftigung von niedergelassenen ausländischen Arbeitskräften im Inland nur wenig gelitten

Grenzüberschreitende Mobilität und Beschäftigung von MigrantInnen

Die zunehmende europäische Integration bewirkt, dass nationale Grenzen von Wirtschafts- und Arbeitsräumen verschwimmen. In der Folge steigt die Zahl der PendlerInnen, so etwa auch in Österreich. Auch die Pandemie konnte diesen Trend nicht brechen. Der Anteil der PendlerInnen an der Gesamtbeschäftigung verharrte in Österreich im Jahr 2020 auf dem Vorjahresniveau von 1,7 %. Für bestimmte Tätigkeiten wie der Einreise von ErntehelferInnen und PflegerInnen aus Regionen und Ländern, die weiter als 30 km von der österreichischen Grenze entfernt sind, wurden Sonderregelungen gefunden, die den traditionellen Zustrom von Arbeitskräften über den Einsatz von Sonderzügen ohne Zwischenstopp oder Sonderflügen von Rumänien, der Ukraine oder dem Kosovo nach Österreich sicherstellten. Die Pandemie hat gezeigt, dass es weder in der Landwirtschaft noch in der Pflege und Betreuung, insbesondere der 24-Stundenbetreuung, unter den gegebenen Arbeitsbedingungen, Löhnen und technologischen Rahmenbedingungen ausreichend Arbeitskräfte im Inland gibt – auch wenn die Arbeitslosigkeit Corona-bedingt überdurchschnittlich stark gestiegen ist. Das sind aber nicht die einzigen Bereiche, in denen es trotz hoher Arbeitslosigkeit nicht möglich ist, offene Stellen zu besetzen. Dabei handelt es sich meist um Berufe, für die eine umfangreiche, jahrelange Ausbildung, oft auch in Kombination mit einigen Jahren Arbeitserfahrung, nötig ist. In erster Linie zählen dazu MINT-Berufe (Mathematik, Informatik, Natur- und Ingenieurwissenschaft und Technik), die oft einen hohen Spezialisierungsgrad aufweisen,[5] aber auch bestimmte Handwerks- und Dienstleistungsberufe.

Der Anteil der PendlerInnen an der Gesamtbeschäftigung verharrte in Österreich im Jahr 2020 auf dem Vorjahresniveau von 1,7 %.

Insgesamt waren in Österreich im Jahr 2020 MigrantInnen stärker von Beschäftigungseinbußen betroffen als die Stammbevölkerung. Das ist darauf zurückzuführen, dass sie in größerem Maße als die Stammbevölkerung in Branchen arbeiten, die während der Lockdowns ihre Pforten schließen mussten. So arbeiteten 2020 12 % der ausländischen unselbständig Beschäftigten in der Gastronomie und dem Beherbergungswesen gegenüber 3 % der Stammbevölkerung, 10 % in der Bauwirtschaft gegenüber 6 % der InländerInnen, 12 % in den Unternehmensdienstleistungen – da etwa in den Reinigungsdiensten – gegenüber 4 % der ÖsterreicherInnen, und 7 % im Verkehrswesen und der Lagerhaltung, gegenüber 5 % der InländerInnen. Im Gegenzug sind Beschäftigte ohne Migrationshintergrund häufiger im Gesundheits- und Sozialwesen (8 % gegenüber 6 %), in der öffentlichen Verwaltung und Landesverteidigung (19 % gegenüber 4 %), und im Finanz- und Versicherungswesen (3,4 % gegenüber 1,5 %) beschäftigt. Diese Branchen konnten mit Ausnahme des Finanz- und Versicherungswesens ihre Beschäftigung im Jahr der Pandemie sogar ausweiten.

Insgesamt waren in Österreich im Jahr 2020 MigrantInnen stärker von Beschäftigungseinbußen betroffen als die Stammbevölkerung.

Besonders stark traf der Beschäftigungseinbruch Frauen aus Bulgarien und Rumänien, mit einer Steigerungsrate der Arbeitslosenquote um 7 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr auf 19,7 %, gefolgt von Frauen und Männern aus Drittstaaten (+5,3 bzw. 5 Prozentpunkte auf 21,8 % respektive 20,4 %). Im Vergleich dazu hatten inländische Männer und Frauen die geringsten Steigerungsraten (in beiden Fällen +2 Prozentpunkte auf 8,8 % bei Männern und 8 % bei Frauen). Daraus ist zum einen ersichtlich, dass MigrantInnen oft nicht zu Kernbelegschaften (Insidern) zählen und etwa als LeiharbeiterInnen arbeiten, die als erste gekündigt werden, zum anderen, dass sie häufig in Tätigkeiten zu finden sind, die besonders von den Lockdowns zur Bekämpfung der Pandemie betroffen waren.

Jugendliche (15-24-Jährige) waren vom Anstieg der Arbeitslosigkeit stärker betroffen als alle anderen Altersgruppen, besonders ausländische Jugendliche (+49,5 % gegenüber +41 % bei inländischen Jugendlichen), und hier insbesondere 20-24-Jährige. Während 15-19-Jährige noch in hohem Maße in der Lehre, auch der überbetrieblichen, aufgefangen wurden, stellte sich die Weiterbeschäftigung oder der Ersteinstieg ins Erwerbsleben als große Herausforderung dar.

Frauen, Kinder und Jugendliche – die großen Verlierer in der Pandemie?

Was für Frauen im Allgemeinen gilt, gilt noch viel mehr für migrantische Frauen.

Die Pandemie hat gezeigt, dass die starke Konzentration der Frauen auf bestimmte Berufe und Tätigkeitsfelder sie sehr verwundbar macht. Ihre Spezialisierung führte dazu, dass sie in der Pandemie aus unterschiedlichen Gründen überdurchschnittlich belastet wurden. Einerseits konnten sie infolge des Nachfrageeinbruchs im Tourismus, im Gast- und Schankgewerbe, im Handel und in körpernahen Diensten ihren Job verlieren, andererseits sahen sie sich im Gesundheits- und Pflegebereich infolge der zunehmenden Corona-bedingten Anforderungen, und im Unterrichts- und Erziehungswesen im Zuge der Umstellung auf Homeschooling mit besonderen Herausforderungen und Belastungen konfrontiert. Hinzu kam die Doppelbelastung von Frauen mit schulpflichtigen Kindern und Kleinkindern durch Homeschooling. Was für Frauen im Allgemeinen gilt, gilt noch viel mehr für migrantische Frauen. Sie arbeiten besonders oft in den am stärksten von der Pandemie betroffenen Branchen: allein im Bereich der sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen, in dem Reinigungsdienste und Leiharbeit enthalten sind, sind 45,2 % der beschäftigten Frauen Ausländerinnen; ebenso hoch ist der Ausländerinnenanteil in der Beherbergung, Gastronomie und Landwirtschaft. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass Ausländerinnen häufig einen geringen Bildungsgrad haben, daher die Einkommenssituation in vielen migrantischen Haushalten angesichts der geringen Löhne, die man in diesen Tätigkeiten erwarten kann, gering ist[6], darüber hinaus die Wohnsituation beengt ist und die Wohnungen oft schlecht ausgestattet sind, wird offensichtlich, wie schwierig es für migrantische Familien war, Beruf und Unterstützung ihrer Kinder unter einen Hut zu bringen[7].

Frauen müssen beruflich breiter aufgestellt werden.

Der aktuelle „Global Gender Gap Report“ des Weltwirtschaftsforums[8] kommt zu dem Ergebnis, dass Frauen beim Streben nach Gleichberechtigung in der Corona-Krise um Jahre zurückgeworfen wurden. Das ergibt die Frage, ob Frauen, insbesondere gering Qualifizierte und Migrantinnen, die großen Verliererinnen der Pandemie sind und was getan werden muss, um daraus keine Langzeitprobleme entstehen zu lassen. Ein Erfordernis ist sicherlich, dass Frauen verstärkt in die boomenden Bereiche der Tech-Branche gehen sollten, ohne dabei die traditionellen beruflichen Schwerpunkte wie Gesundheits- und Pflegeberufe sowie Erziehung aufzugeben. Frauen müssen beruflich breiter aufgestellt werden. Und da es für Frauen schwieriger zu sein scheint, in den technischen Bereichen Fuß zu fassen, wäre einerseits eine gezielte Aus- und Weiterbildung von Frauen, insbesondere auch von Migrantinnen, diese digitalisierten Bereiche ins Auge zu fassen, andererseits sicherzustellen, dass die Arbeitsbedingungen in diesen Tätigkeiten für Frauen und Männer eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen. Frauen könnten aber auch à la longue von den Erfahrungen des Homeoffice profitieren, da Betriebe erkannt haben, dass eine Präsenzkultur keine Voraussetzung für ein erfolgreiches Arbeiten ist. Damit das funktioniert ist allerdings sicherzustellen, dass eine externe, leistbare und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung und schulische Unterstützung der Kinder zur Normalität werden. Dabei wäre es gut, wenn der spielerische Umgang mit den digitalen Medien schon im Kindergarten geübt und in den Schulen weiter ausgebaut wird, sodass man möglichst früh Kinder an die Technik und die digitale Welt heranführt. Dabei kann man auch auf Mädchen gezielt eingehen. Und was ein Algorithmus ist und wie Künstliche Intelligenz im Grundsatz funktioniert, kann man schon in der Grundschule lernen. In all diesen Themenfeldern ist aber auch stets die Integration von Kindern und Eltern mit Migrationshintergrund zu berücksichtigen. Dazu gibt es Best Practice-Beispiele in vielen EU-Mitgliedstaaten, so etwa in Deutschland die Villa Kunterbunt in Bielefeld[9]. In Finnland ist sogar das ganze Bildungssystem darauf abgestellt, Talente und Ressourcen von Kindern von Anfang an zu identifizieren und im Zusammenwirken mit dem Elternhaus zu fördern.[10] Tablets und digitale Klassenbücher gibt es schon seit längerem, seit kurzem aber auch einen humanoiden Roboter (Elias) als Assistenz im Sprachunterricht.[11] Die Erfinderin des Sprachroboters, Johanna Hemminki, ist davon überzeugt, dass das Lernen mit dem Roboter sehr effektiv ist, weil der Roboter nicht bewertet und damit dem Lernenden die Angst vor dem Fehlermachen nimmt, was den Lernstress reduziert und die Freude am Lernen fördert.

Frauen könnten aber auch à la longue von den Erfahrungen des Homeoffice profitieren, da Betriebe erkannt haben, dass eine Präsenzkultur keine Voraussetzung für ein erfolgreiches Arbeiten ist.

Was die Pandemie für Kinder und Jugendliche so besonders macht, ist die potenzielle längerfristige Auswirkung auf Bildungs- und Berufsentscheidungen und damit die Lebensperspektiven. Die Studien von Steiner et al. (IHS 2021)[12] und Schober et al. (2021)[13] legen nahe, dass die Schulschließungen verbunden mit Homeschooling die soziale Ungleichheit unter SchülerInnen verstärkt haben, nicht zuletzt weil die soziale Selektivität im Bildungsbereich zunimmt, je größer die Rolle der privaten, familiären Unterstützung beim Lernen ist.[14] Die Corona-bedingte Schließung von Schulen und die Umstellung auf Homeschooling hat die Bedeutung der kulturellen und materiellen Ressourcen der Familien für den Lernerfolg der SchülerInnen noch einmal um ein Vielfaches gesteigert. Aus dieser Erkenntnis heraus ist die Förderung der sozial benachteiligten Kinder aus bildungs- und integrationspolitischer Sicht eine Notwendigkeit, will man nicht, dass sie infolge von Corona den Anschluss an das Bildungsniveau der Kinder, die keiner Risikogruppe angehören, verlieren. Dabei geht es einerseits um die Ausstattung mit Hardware (Tablets, Laptops), der materiellen Voraussetzung für e-Learning, und der Öffnung von alternativen Lernräumen (neben Schulen und Horten auch Bibliotheken, Jugendzentren etc.), um den beengten Wohnverhältnissen ärmerer Bevölkerungsschichten Rechnung zu tragen und Internetverbindungen sicherzustellen. Andererseits geht es um die Ausstattung mit Software, also der Unterstützung beim (digitalen) Lernen, die von benachteiligten Familien meist nicht geleistet werden kann. Dazu braucht es entsprechende finanzielle Ressourcen, die aus dem Wiederaufbaufonds der Europäischen Union, der im Zuge der COVID-19-Pandemie 2020 verabschiedet wurde (NextGenerationEU)[15], zur Verfügung gestellt werden. Die Aufbau- und Resilienzfazilität, das Herzstück des Aufbauplans, könnte über Finanzhilfen und ergänzende Darlehen nicht nur einen Beitrag zur Verbesserung der Bildungschancen sozial benachteiligter Jugendlicher leisten, sondern damit auch ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe nachhaltig fördern.[16]

Was die Pandemie für Kinder und Jugendliche so besonders macht, ist die potenzielle längerfristige Auswirkung auf Bildungs- und Berufsentscheidungen und damit die Lebensperspektiven.

Wenn die Kinder möglichst unbeschadet aus der Corona-Krise herauskommen sollen, muss darauf verwiesen werden, dass ihre Probleme nicht eine Folge des individuellen Versagens, sondern von systemischen Problemlagen sind. Schulen mussten ad hoc digitale Lehr- und Lernformen implementieren. Dabei ist einiges gelungen, manches nicht. Um daraus die nötigen Lehren ziehen zu können, ist eine systematische Evaluierung der Erfahrungen notwendig. Die Erkenntnisse können in die Einbindung digitaler Lehr- und Lernformen in das Lehr- und Lernangebot führen und damit zukunftsweisende Änderungen im Bildungssystem vorantreiben.

Conclusio

Als Conclusio ist festzuhalten, dass Frauen, MigrantInnen und sozial benachteiligte Jugendliche von den Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie besonders betroffen waren. Einerseits verloren Frauen, insbesondere auch Migrantinnen, häufig ihre Jobs infolge ihrer Konzentration auf bestimmte Branchen (Tourismus), Berufe (körpernahe Dienste –Physiotherapie, Körperpflege, etc.) und Tätigkeiten (Reinigungsdienste). Andererseits litten sie unter der Doppelbelastung, wenn sie in systemrelevanten Berufen wie den Gesundheitsdiensten oder Supermärkten beschäftigt waren und gleichzeitig Kindergärten und Schulen geschlossen waren, was eine Suche nach alternativer Betreuung erforderlich machte. Diese Situation legt nahe, dass in der Bildungspolitik stärker auf die Überwindung von geschlechtsspezifischen Rollenmustern geachtet wird, damit es zu einer Annäherung der Bildungs- und Berufslaufbahnen von Mädchen und Burschen kommt. Dazu bedarf es nicht nur bestimmter Maßnahmen im Schulsystem und der Ausbildung von PädagogInnen, sondern auch gezielter Maßnahmen, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglichen. Dazu sind nicht nur neue Familienarbeitszeitmodelle ins Auge zu fassen, sondern auch aufeinander abgestimmte Regelungen in der Familienpolitik, der Sozial- und Pflegepolitik, der Kinderversorgungspolitik, sowie der Steuerpolitik, die im Zusammenwirken die Frauenerwerbsarbeit anheben und diversifizieren sollten.[17]

Als Conclusio ist festzuhalten, dass Frauen, MigrantInnen und sozial benachteiligte Jugendliche von den Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie besonders betroffen waren.

Was die Kinder und Jugendlichen anbelangt, so haben vor allem sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche sowie Jugendliche am Übergang zu weiterbildenden Schulen und in Abschlussklassen negative Auswirkungen auf die Bildungs- und Berufslaufbahn zu erwarten. Wenn nicht verstärkte Informations- und Unterstützungsarbeit vom Arbeitsmarktservice (AMS) und Bildungs- und BerufsberaterInnen in Abschlussklassen bzw. den Übergangsklassen zu weiterführenden Schulen geleistet wird, kann es zu Brüchen bei der Lehrausbildung (Mangel an Lehrstellen in der Phase der Lockdowns), zu einem Anstieg der Zahl der NEETS (not in Education, Employment or Training), zu einer Abflachung der Bildungsverläufe und zu einer Verringerung der Karrierechancen für einen vergleichsweise hohen Anteil der Kinder und Jugendlichen kommen. Damit dürften die Fortschritte, die Österreich in der Bekämpfung des frühen Bildungsabbruchs (NEETs) erzielt hat, mit der Pandemie wieder verloren gehen. Dem kann über unterschiedliche Wege entgegengewirkt werden: eine Möglichkeit ist, zusätzlichen Unterricht an Samstagen oder in den Ferien anzubieten – das würde vor allem der Gruppe der benachteiligten SchülerInnen und damit vielen MigrantInnen helfen, den versäumten Lernstoff nachzuholen. Dabei sollen Mindeststandards in den Kernfächern Mathematik und Deutsch, aber auch in den Nebenfächern erreicht werden. Auch das Angebot an Sommerschulen und Elternkursen kann dazu beitragen, die Ungleichheiten etwas abzubauen und den Druck auf Kinder mit großen Lernlücken zu verringern. Eine andere Möglichkeit wäre, den verpassten Lernstoff vor allem in den zentralen Fächern nachzuholen. Das würde aller Wahrscheinlichkeit nach bedeuten, dass Fächer wie Kunst, Musik, Ethik oder politische Bildung vernachlässigt werden, was für die Persönlichkeitsentfaltung ein Nachteil wäre. Was aber auf alle Fälle verstärkt gefördert werden muss, ist das Lernen und Üben der Sprache der Aufnahmegesellschaft, wenn diese nicht die Umgangssprache der Kinder ist und sie sie infolge des Corona-bedingten Rückzugs in die Familie kaum üben konnten. Hier ist eine Ergänzung des Präsenzunterrichts um digitale Kommunikationsmittel anzudenken.

Die Unterstützung auf europäischer Ebene sollte den Fokus auf strukturelle Investitionen im Rahmen des Aufbauplans NextGenerationEU legen. Sie sollten den Weg zur digitalen Schule ebenso ebnen wie die Versorgung mit qualitätsorientierter Kinderbetreuung und Pflege, sowie den Ausbau des Aus- und Weiterbildungssystems in Richtung einer lernenden Gesellschaft unterstützen.

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Bild von Anrita1705 auf Pixabay

[1] Daten aus Eurostat: online data code: TEC00115.

[2] Mehr zu den Maßnahmen der Europäischen Union zur Bekämpfung von COVID-19 auf: https://www.consilium.europa.eu/de/policies/coronavirus/

[3] Mortality Analyses: https://coronavirus.jhu.edu/data/mortality; Daten per 2. August 2021.

[4] OECD (2020). Beyond Containment: Health systems responses to COVID-19 in the OECD, Abb. 7, S. 13.

[5] Umfragen dazu in Österreich und Deutschland: https://ibw.at/bibliothek/id/523/; https://www.stepstone.at/Ueber-StepStone/pressebereich/fachkraeftemangel-trotz-corona; https://www.iwkoeln.de/studien/lydia-malin-anika-jansen-susanne-seyda-regina-flake-fachkraeftesicherung-in-deutschland-diese-potenziale-gibt-es-noch.html

[6] Statistik Austria, Allgemeiner Einkommensbericht 2020.

[7] Mader, Katharina/ Derndorfer, Judith/ Disslbacher, Franziska/ Lechinger, Vanessa/ Six, Eva (2020): Genderspezifische Effekte von COVID-19. https://www.wu.ac.at/vw3/forschung/laufende-projekte/genderspezifscheeffektevoncovid-19.

[8] World Economic Forum (2021): Global Gender Gap Report 2021. INSIGHT REPORT, MARCH 2021. http://www3.weforum.org/docs/WEF_GGGR_2021.pdf.

[9] Siehe: http://www.villa-bielefeld.de/; dazu auch Dorothee Seeger, Elisabeth und Inge Schwank (2021). BIKO Mathe-Kiste – Spielerisch Kompetenzen fördern in der Kita. Verlag Herder.

[10] Sahlberg, Pasi (2011). Finnish lessons: What can the world learn from educational change in Finland? Teachers College Press, New York, 165 pp. The series on school reform.

[11] Mehr dazu auf: https://journalofcyberpolicy.com/2021/05/21/elias-robot-amongst-the-top-3-european-remote-learning-solutions-awarded-best-in-class/

[12] Mario Steiner, Maria Köpping, Andrea Leitner, Gabriele Pessl (2021). COVID19 und Home-Schooling. Folgt aus der Gesundheits- nun auch eine Bildungskrise? Studie des IHS, gefördert vom WWTF im Rahmen des Covid19-Rapid-Respons-Calls.

[13] Barbara Schober, Marko Lüftenegger, Christiane Spiel (2021). Lernen unter COVID-19 Bedingungen. https://lernencovid19.univie.ac.at/

[14] Mehr dazu bei Biffl, Gudrun (2011). Bildung und Familie (Education and Family). Verfügbar auf: http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2608618

[15] https://europa.eu/next-generation-eu/index_de

[16] Mehr dazu auf: https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/covid_recovery_factsheet_reform_de.pdf

[17] Biffl Gudrun (2006). Mehr Jobs und bessere Einkommenschancen für Frauen: Eine gesellschaftliche Herausforderung für Österreich. WISO 29. Jg. Nr. 2: 89-108.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die die Autorin tätig ist, überein.

Schlagwörter

Corona, Wirtschaftseinbruch, systemrelevante Berufe, Daseinsvorsorge, Migration, Frauen, Jugendliche, Gleichberechtigung, digitale Schule

Zitation

Biffl, G. (2021). Daseinsvorsorge und gesellschaftliche Arbeitsteilung in der Pandemie: Was hat Europa gelernt? Wien. ÖGfE Policy Brief, 16’2021

Univ.-Prof. Mag. Dr. Gudrun Biffl

Univ.-Prof. Mag. Dr. Gudrun Biffl war von 1975-2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) und von 2008-2017 Professorin für Migration, Integration und Sicherheit an der Donau Universität Krems. Sie gründete ebenda das Department Migration und Globalisierung, mit dem sie weiterhin assoziiert ist.