Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union

Handlungsempfehlungen

  1. Mehr Anstrengungen sind nötig, um eine Referendumsdebatte zu ermöglichen, die auch den rechtlichen Hintergrund der debattierten Fragen würdigt.
  2. Es ist zu berücksichtigen, dass ein Austritt wesentlich mehr in den Händen der verbleibenden EU-Mitgliedstaaten liegt als die Austrittsbestimmung des Artikels 50 EUV glauben macht.
  3. Im Fall eines Austritts ist zu versuchen, den Verlust von Rechten (vormaliger) EU-BürgerInnen so gering wie möglich zu halten. Für beide Szenarien – Austritt aus sowie Verbleib in der EU – sollte von einer Kündigung der Menschenrechtskonvention Abstand genommen werden.  

Zusammenfassung

Seit Beginn des Integrationsprozesses hat sich die Anzahl der Mitgliedstaaten fast verfünffacht. Nun steht die EU erstmals vor einer möglichen Verkleinerung. Während die Debatte rund um das britische Referendum politische Fragen in den Vordergrund stellt, sind die Rechtsgrundlagen eines Austrittsprozesses von großer Relevanz.  Ein Blick auf den rechtlichen Rahmen zeigt, dass ein Austritt aus der EU neben dem Austrittsabkommen selbst eine Reihe anderer Abkommen nötig machen würde. Diese würden den austretenden Staat vor schwierige Verhandlungen stellen, denn nicht nur die Zustimmung der EU, sondern auch der verbleibenden Mitgliedstaaten wäre nötig. Innerstaatlich würde teilweise EU Recht weitergelten bzw. alternativ national „re-reguliert“ werden. Die aus der EU-Mitgliedschaft erworbenen Rechte Einzelner sind nicht „austrittsfest“ – es gibt kein verbleibendes „Recht auf EU-Rechte“. Insbesondere für die Zukunft wären die Rechtspositionen der BürgerInnen (der BritInnen im EU-Ausland sowie der UnionsbürgerInnen in Großbritannien) neu zu verhandeln.
Die Langfassung beschäftigt sich mit dem alternativen Szenario; jenes eines Verbleibes in der EU. Hierbei steht der „deal“ im Vordergrund den der britische Premier im Februar 2016 mit den anderen Staats- und Regierungschefs aushandeln konnte. Dieser enthält wichtige Interpretationshilfen für die EU-Verträge sowie EU-Gesetzgebung in vier für Großbritannien besonders relevanten Bereichen. Dennoch kann diese Vereinbarung nicht als juristische Garantie gesehen werden, dass die Verträge sowie die relevante Gesetzgebung genau so geändert werden wie die Vereinbarung es vorsieht. Insbesondere im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist darauf zu achten, dass die Regelungen vertragskonform bleiben. Die Debatte um einen Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention „statt“ aus der EU scheint juristisch wenig zielführend.

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Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union

Ein rechtlicher Blick auf eine politische Schicksalsfrage

I. Einleitung

Am 23. Juni 2016 stimmt das Vereinigte Königreich in einem Referendum über seine Mitgliedschaft in der EU ab. In den letzten 5 Jahrzehnten haben in verschiedenen Staaten insgesamt 54 Referenden zu Fragen der EU Integration stattgefunden. Gut die Hälfte davon betraf Fragen der EU Mitgliedschaft – allerdings stets im Zusammenhang mit einem (potentiellen) Beitritt zur EU.[1] Ein Referendum zu einem EU Austritt gab es noch nie. Ein solches Referendum ist weder nach den EU-Verträgen erforderlich, noch nach englischem Recht verbindlich.
EU-rechtlich ist ein Austritt erst seit Ende 2009 möglich.[2] Die aktuelle Diskussion um den Austritt des Vereinigten Königreichs könnte diese Möglichkeit zur Realität machen.
Die Debatte um das herannahende Referendum stellt migrationspolitische, wirtschaftspolitische und sicherheitspolitische Themen sowie generell eine Bevormundung durch „Brüssel“ in den Vordergrund.[3] Die juristischen Rahmenbedingungen bleiben ausgeblendet.[4] Hier soll der juristischen Dimension eines Austritts aus – beziehungsweise [in der Langfassung] eines Verbleibes in – der EU nachgegangen werden.

II. Das Vereinigte Königreich verabschiedet sich aus dem Vereinigten EU-ropa

A. Austrittsbeschluss und Austrittsmitteilung

Der Austritt eines Staates aus der EU ist vierteilig und beginnt gemäß Artikel 50 des EU-Vertrages mit einem Austrittsbeschluss. Diesen Austrittsbeschluss hat der austretende Staat „im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften“ zu treffen. Diese Bedingung sichert verfassungsrechtliche Garantien (etwa der Stellung des nationalen Parlamentes oder der Notwendigkeit einer Volksabstimmung) auch unionsrechtlich ab.[5]
In einem zweiten Schritt teilt der austretende Staat diesen Beschluss dem Europäischen Rat der EU mit. Dieser erarbeitet dann Leitlinien aufgrund derer die Verhandlungen zum Austritt erfolgen sollen. Der Staats- oder Regierungschef des Landes, das austreten will, ist nicht berechtigt, an diesen Leitlinien mitzuarbeiten. Schließlich kann der austrittswerbende Staat nicht die Interessen beider Vertragsseiten – der EU sowie seine eigenen – verhandeln. Der austretende Staat wird somit im Rahmen einer juristischen Fiktion einem Drittstaat gleichgehalten, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied der Union ist. Den austrittswerbenden Staat aber schlechthin von Entscheidungen auszuschließen, die ihn nicht „betreffen“[6], würde diese Fiktion überstrecken und den Staat in seinen Mitgliedschaftsrechten verletzen. In Anbetracht des Wortlautes von Artikel 50 EUV ist auch davon auszugehen, dass der austrittswerbende Staat in allen EU Institutionen wie etwa dem Europäischen Parlament oder dem Gerichtshof normal weiterarbeitet.[7] Die Austrittsmitteilung darf nicht zu einer Art „Quarantäne“ führen, in der dem austrittswerbenden Staat bereits Teile seiner Mitgliedschaftsrechte entzogen werden.

Selbst wenn Großbritannien aber eine Austrittsmitteilung abgibt, hat es damit nicht alle unionsrechtlichen Türen hinter sich zugeschlagen.

Trotz der nach britischem Recht unverbindlichen Natur des Referendums hat der britische Premier angekündigt, „sogleich“ die gemäß Artikel 50 EUV nötigen Schritte zu setzen, falls das Referendum für einen Austritt aus der EU endet. Selbst wenn Großbritannien aber eine Austrittsmitteilung abgibt, hat es damit nicht alle unionsrechtlichen Türen hinter sich zugeschlagen. Es ist nicht einsichtig, warum ein Staat von seinem einseitigen Austrittswunsch nicht einseitig zurücktreten können soll. Ein Rücktritt von einem angekündigten Austritt sollte auch offenstehen, weil der Austritt totaler Natur ist. Er zieht eine vollkommene Beendigung der Mitgliedschaft nach sich und versetzt den jeweiligen Staat keineswegs in einen limbo-Status eines bloß pausierenden Mitgliedstaats: „Ein Staat der ausgetreten ist“ (und darunter ist wohl ein rechtskräftiger Austritt und nicht eine rechtskräftig abgegebene Austrittserklärung zu verstehen) „und erneut Mitglied werden möchte“, der muss sich wie jeder andere Drittstaat der normalen Prozedur eines Mitgliedschaftsantrages unterwerfen.[8]

B. Austrittsverhandlungen und Abschluss eines Austrittsabkommens

Auf der Seite der EU wird ein Verhandlungsführer oder ein Leiter des Verhandlungsteams der Union bestellt (praktischer Weise wohl die EU Kommission). Die Ermächtigung zur Verhandlungsführung erfolgt durch den Rat der EU.[9] Die Verhandlungen erfolgen unionsseitig auf der Grundlage der vom Europäischen Rat angenommenen Leitlinien. Der Abschluss des Austrittsabkommens erfolgt, nachdem der Verhandlungsführer die Verhandlung für beendet erklärt, auf der Grundlage eines Beschlusses des Rates. Auch hier gilt, dass der austretende Staat nicht auf der Seite der EU an der Beschlussfassung teilnimmt.[10] 72 % der Mitglieder des Rates (ohne den Vertreter Großbritanniens) müssen dem Austrittsabkommen zustimmen, also 20 der 27 Staaten, die gleichzeitig 65 % der EU-Bevölkerung auf sich vereinen.[11] Die Zustimmung des Europäischen Parlaments ist erforderlich.
Die letzte Stufe des Austrittsverfahrens ist schließlich das Inkrafttreten des Abkommens. Vergleicht man den Beitrittsvertrag i.S.d. Artikel 48 EUV mit dem Austrittsabkommen i.S.d. Artikel 50 EUV, so erscheint ein Austritt als das einfachere Verfahren: während der Beitritt staatsdominiert ist und einem Veto jedes einzelnen Mitgliedstaates unterliegt[12], ist der Austritt von den EU Institutionen dominiert. Das Austrittsabkommen wird zwischen der Union und dem austrittswerbenden Staat geschlossen. Von einer Ratifizierung seitens der Mitgliedstaaten ist nicht die Rede. Und selbst im Rat können einzelne Mitgliedstaaten das Abkommen nicht blockieren, da der Rat wie erwähnt mit qualifizierter Mehrheit entscheidet.

Während der Beitritt staatsdominiert ist und einem Veto jedes einzelnen Mitgliedstaates unterliegt, ist der Austritt von den EU Institutionen dominiert.

Der eigentliche Neuwert der Austrittsklausel besteht gerade darin, dass das Inkrafttreten des Austritts von einer Einigung des austrittswerbenden Staates mit der EU (und den anderen Mitgliedstaaten) entkoppelt wird: Für den Fall, dass das Austrittsabkommen nicht in Kraft tritt, verlieren die EU-Verträge dennoch ihre Anwendbarkeit auf den austretenden Staat, sobald 24 Monate nach der oben erwähnten Austrittsmitteilung verstrichen sind.  So ein Szenario träte etwa ein, wenn die StaatsvertreterInnen sich erst gar nicht auf einen Vertragstext einigen können oder aber weil ein Vertragsentwurf an der Zustimmung des Parlamentes scheitert. Der Automatismus der 24 Monate kann durch einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat durch eine Fristerstreckung verhindert werden.[13]

C. Was darf das Austrittsabkommen umfassen?

Der EU-Vertrag sagt nichts über den Inhalt des Austrittsabkommens aus, außer dass es die „Einzelheiten des Austritts“ regelt. Drei Lesarten der Reichweite eines solchen Abkommens sind denkbar:

  • Das Abkommen regelt die Ausübung des Austritts selbst sowie die Handhabung seiner unmittelbaren Folgen (z.B. Endabrechnung aus dem EU-Budget; Status und Rolle von EU Einrichtungen auf englischem Staatsgebiet etc.);
  • Das Abkommen regelt das langfristige Verhältnis zwischen dem austretenden Staat und der EU (z.B. Frage der Errichtung einer Freihandelszone, Zollunion oder gar eines Binnenmarktes zwischen EU und nunmehrigem Drittstaat); oder,
  • Das Abkommen regelt die EU-internen Anpassungen, die notwendig werden, um die geschrumpfte EU neu aufzusetzen (Neubestimmung der Vertretung der verbleibenden Mitgliedstaaten in den einzelnen EU Institutionen etc.).

Während für den Beitrittsvertrag, den die EU Mitgliedstaaten mit einem EU-Neumitglied schließen, ausdrücklich vorgesehen ist, dass dieser auch die für die EU-intern „erforderlich werdenden Anpassungen“ mitumfassen darf, ist dies in Artikel 50 EUV nicht geregelt.[14]
Was den zweiten Regelungskreis angeht, so existieren eine Reihe von Ideen wie das Verhältnis Großbritanniens zur EU nach einem Austritt aus der EU ausgestaltet werden könnte. Es scheint zweifelhaft, dass alle diese Möglichkeiten im Rahmen eines Austrittsabkommens gemäß Artikel 50 EUV geregelt werden könnten. Die mögliche Palette reicht von einer Mitgliedschaft im EWR (Binnenmarkt), über ein „türkisches Modell“ (Zollunion mit der EU), eine Mitgliedschaft in der EFTA (beschränkte Freihandelszone mit der EU), ein „schweizer Modell“ (Bündel sektoraler Abkommen mit der EU) bis zum Szenario eines klassischen Drittstaates, der in seinem Verhältnis zur EU auf WTO Regeln setzt.[15] Je nach Ausgestaltung der Beziehungen zur EU würde das Austrittsabkommen auch die Kompetenzen der verbleibenden EU Mitgliedstaaten betreffen und müsste somit als sogenanntes „gemischtes Abkommen“ geschlossen werden, und somit nicht nur von der EU, sondern auch von jedem der 27 verbleibenden Mitgliedstaaten ratifiziert werden.

Vor diesem Hintergrund wird ein Austrittsabkommen gemäß Artikel 50 EUV in erster Linie den Austritt aus der EU aber weniger den Eintritt in neue Beziehungen zu dieser Union beinhalten können.

Vor diesem Hintergrund wird ein Austrittsabkommen gemäß Artikel 50 EUV in erster Linie den Austritt aus der EU aber weniger den Eintritt in neue Beziehungen zu dieser Union beinhalten können – dieser wird in parallelen Abkommen auszuverhandeln sein. Dies entspricht im Übrigen auch dem Wortlaut des Artikel 50 EUV, der ja nicht davon spricht, dass das Austrittsabkommen den Rahmen für die Beziehungen zu dem austrittswerbenden Staat absteckt, sondern vorschreibt, dass „der Rahmen für die zukünftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird“ und damit zweierlei suggeriert:

  1. dass dieser Rahmen außerhalb des Austrittsabkommens geregelt wird und
  2. dass der Rahmen in Parallelabkommen festgezurrt wird, bevor das Austrittsabkommen unterzeichnet wird.[16]

Da der austrittswerbende Staat wohl keinen „Austritt um jeden Preis“ befürworten wird und deshalb das Austrittsabkommen nur unter der Bedingung des Inkrafttretens dieser Parallelabkommen schließen wird wollen, kann somit eintreten, was Artikel 50 EUV de iure verhindern will. Den 27 verbleibenden Mitgliedstaaten – die ein Parallelabkommen als gemischtes Abkommen entsprechend ihrer verfassungsrechtlichen Vorgaben zu ratifizieren hätten –  wird de facto ein Vetorecht in Sachen Austritt zukommen. Spätestens beim Austritt aus der EU bewahrheitet sich, dass die EU viel mehr einer jahrzehntelangen Ehe als einer Mitgliedschaft in einem Golfclub gleicht.[17]

Spätestens beim Austritt aus der EU bewahrheitet sich, dass die EU viel mehr einer jahrzehntelangen Ehe als einer Mitgliedschaft in einem Golfclub gleicht.

D. Wann ist ein Austritt rechtswidrig?

Jeder Austritt muss das soeben beschriebene Verfahren einhalten. Doch jenseits dieser prozeduralen Vorgaben, sind auch substantielle Grenzen zu beachten. Wie dargestellt ist das Austrittsabkommen kein Vertrag zur Änderung der EU Verträge. Das Abkommen ist kein Teil des Primärrechts. Vielmehr muss es den Ansprüchen des Primärrechts genügen. Es ist möglich, den Text des Austrittsabkommens vor Genehmigung durch den Rat dem Gerichtshof der EU zu einer Überprüfung vorzulegen.[18] Zu den substantiellen Schranken wurde zum Beispiel vertreten, dass ein Austritt nur als ultima ratio zur Verfügung stünde, „wenn andere in den Verträgen verankerte Mittel der Wahrung nationalstaatlicher Interessen und Selbstbestimmung nicht ausreichen“.[19]
Freilich ist das Verhalten der gegenwärtigen Regierung Großbritanniens gerade darauf gerichtet zu argumentieren, dass die EU unter den neuverhandelten Bedingungen[20] nun ausreichende Sicherungen für die nationalstaatlichen Interessen und die Souveränität des Königreiches biete, so dass diese Logik den Austritt Großbritanniens schlechthin als illegitim erscheinen lassen müsste. Doch ein Austritt ist auch dann juristisch lupenrein, wenn er keine ultima ratio einer Art nationalen Selbstverteidigung darstellt.
Eine primärrechtliche Grenze für jedes Austrittsabkommen ist wohl die Notwendigkeit, die verbleibenden Mitgliedstaaten nicht darin zu beeinträchtigen, ihren Pflichten aus den EU-Verträgen nachzukommen. Auch darf das Austrittsabkommen nicht den menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU, inklusive jenen aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zuwider laufen. Jeder Austritt wird an diesen Vorgaben zu messen sein.

E. Die Rechte der BürgerInnen: gibt es „austrittsfeste“ Unionsrechte?

Der EU-Vertrag bestimmt in seinem Artikel 7 (3), dass bei der Verhängung von Sanktionen gegen einen Mitgliedstaat bestimmte Rechte des jeweiligen Staates ausgesetzt werden dürfen, dass dabei aber „die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen“ zu berücksichtigen sind. Eine vergleichbare Bestimmung fehlt im EU-Vertragsrecht für den Fall der gänzlichen Beendigung der Mitgliedschaftsrechte – dem Austritt eines Mitgliedstaates.
Die Grundrechtecharta ist in ihrer Rechtsverbindlichkeit an den EU-Vertrag gekoppelt und wird somit mit einem Austritt gleichzeitig mit dem Unionsvertrag für den austretenden Staat außer Kraft treten.[21] Mit diesem Moment enden auch andere an den Vertrag gekoppelte Schutzpflichten der Staaten und Rechte der UnionsbürgerInnen. Bestimmungen wie beispielsweise das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsbürgerschaft sind explizit an den „Anwendungsbereich der Verträge“[22] gebunden, und die Rechte, die an die Unionsbürgerschaft geknüpft sind, bedürfen zu ihrer Aktivierung einer zugrunde liegenden „Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates“[23], die mit dem Austritt aus der EU verloren geht. Das Argument einer „de-territorialsierten“ Unionsbürgerschaft, die es im Rahmen einer „geteilten Integration“ erlauben würde, dass ein Staat aus der EU austritt ohne dass seine StaatsbürgerInnen ihre Bindung an die EU verlieren, erscheint wenig überzeugend.[24]
Zwar gibt es relevante Allgemeine Rechtsprinzipien, die man gegen den Entzug von Rechten in Stellung bringen könnte, wie etwa der Schutz berechtigten Vertrauens.[25] Doch diese Allgemeinen Rechtsprinzipien ziehen wiederum ihren Geltungsanspruch aus der Anwendbarkeit des Unionsrechts, sodass wohl auch dieser Weg ins Leere läuft.
Es verbleibt noch der Rückgriff auf das Völkerrecht. Artikel 70 der Wiener Vertragsrechtskonvention regelt die Folgen der Beendigung eines Vertrages. Die Bestimmung besagt, dass die Vertragsbeendigung nicht die „vor Beendigung des Vertrags durch dessen Durchführung begründeten Rechte und Pflichten der Vertragsparteien und ihre dadurch geschaffene Rechtslage“ berührt. Die Völkerrechtskommission führt allerdings aus, dass diese Bestimmung keineswegs ein rechtmäßiges Interesse von Einzelpersonen schützen will, sondern sich lediglich auf die Rechte, Verpflichtungen bzw. die generelle Rechtslage der Vertragsstaaten bezieht, die sich aus der Anwendung des Abkommens ergeben haben.[26] Auch in der Literatur scheint nicht angenommen zu werden, dass individuelle Rechtspositionen nach Beendigung des zugrunde liegenden völkerrechtlichen Vertrages weiterleben. Solche Phänomene der Weitergeltung individueller Rechte scheinen lediglich im Zusammenhang mit Staatssukzession bzw. der Abtretung von Staatsgebieten anerkannt und selbst dies nur in beschränkten Ausmaß.[27] Somit bietet auch ein Rückgriff auf das Völkerrecht keinerlei Rechtsgarantie für eine Weitergeltung aus der Anwendung der Unionsverträge entstandenen individuellen Rechtspositionen: prinzipiell enden diese Rechte mit einem Austritt aus der EU.
Mangels eines Rechtsanspruchs auf Bewahrung aller Rechte, besteht die Herausforderung darin, sich zu einigen wie mit den Rechten jener BritInnen zu verfahren ist, die in Ausübung ihrer Freizügigkeitsrechte in das EU Ausland zogen und nun im Gebiet eines der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten leben.  Diese Frage wird aber nicht von jener der Rechte der UnionsbürgerInnen zu trennen sein, die in Großbritannien leben. Zusammenfassend kann somit gesagt werden, dass es kein „Recht auf Rechte“ im Zusammenhang mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU gibt. Alles ist eine Frage politischer Verhandlungen. Es können Übergangsfristen für bestehende Rechte eingeräumt werden bzw. auch ein neuer Rechtsrahmen für dauerhafte Rechte geschaffen werden.[28]

F. Was kommt „nach dem EU-Recht“?

Sobald der Austritt in Kraft tritt, sind die EU Verträge – vorbehaltlich eventueller Übergangsfristen – nicht mehr auf den Mitgliedstaat anwendbar. Unmittelbar anwendbares EU Recht und EU Verordnungen sind nicht mehr rechtsrelevant. Für die entstehenden „Rechtslücken“ stellt sich die Frage, ob der nationale Gesetzgeber nun gesetzgeberisch tätig werden muss.
Jenes Unionsrecht, das in nationales Recht umgegossen wurde wie etwa EU Richtlinien, bleibt im nationalen System so lange gültig bis es explizit vom Gesetzgeber aufgehoben wird. Insbesondere das Interesse an engen Handelsbeziehungen in den Binnenmarkt der EU wird dafür sprechen, eine enge Anbindung an das EU-Recht aufrechtzuerhalten. Das wiederum birgt das Risiko eines bloßen Nachvollzugs von EU-Recht unter Verlust jeglicher Mitgestaltungsmöglichkeit.
In jenen Bereichen, wo die EU Alleinzuständigkeit hat wie etwa im Bereich des Wettbewerbsrechts, der Subventionskontrolle, der Landwirtschaft oder des Abschlusses von Handelsabkommen, ist der Staat mit dem Inkrafttreten des Austritts gefordert, wieder selbst das Ruder in die Hand zu nehmen, Gesetzgebung zu erlassen, Politiken zu gestalten und Institutionen zu schaffen, die diese  Politiken und Gesetze umsetzen.

Insgesamt ist also keineswegs damit zu rechnen, dass ein Austritt zu einer Deregulierung führt, sondern, ganz im Gegenteil, es ist eine Reregulierungswelle zu erwarten.

Doch auch in Bereichen, wo die EU nur unterstützend tätig ist wie zum Beispiel in der Regional-, Sozial- oder Forschungspolitik, muss der ausgetretene Staat nun entscheiden, ob und wie die bisherigen Politiken der EU durch staatliche Politiken ersetzt werden (müssen). Insgesamt ist also keineswegs damit zu rechnen, dass ein Austritt zu einer Deregulierung führt, sondern, ganz im Gegenteil, es ist eine Reregulierungswelle zu erwarten.
Abgesehen von dieser nationalen Reregulierung wird auch eine internationale Reregulierung unumgänglich sein. Denn eine Reihe von Problemen bedürfen einer internationalen Regulierung. Transeuropäische Verkehrsnetze, innereuropäische Telekommunikation, Umweltschutz und vieles mehr werden den ausgetretenen Staat dazu zwingen, neue Regelungen mit der EU (und, wo nötig, mit ihren Mitgliedstaaten) auszuverhandeln. Angesichts dieser Interdependenzen ist der Gewinn an Unabhängigkeit durch einen Austritt beschränkt.[29]
[Die Langfassung behandelt die rechtlichen Folgen eines Verbleibes des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union.]

[1] Von den Mitgliedstaaten, die sich zu den ursprünglichen sechs Gründerstaaten später hinzugesellten haben nur fünf keine Referenda zu ihren EG/EU Beitritten abgehalten (Spanien, Portugal, Griechenland, Zypern und Bulgarien). Siehe European Parliamentary Research Service, Referendums on EU issues, http://www.europarl.europa.eu/thinktank/en/document.html?reference=EPRS_BRI%282016%29582041.
[2] Die EU Vertragsreform von Lissabon hat erstmals das Wort vom „Austritt“ in den Mund genommen. Nach wie vor nicht möglich ist die Entfernung eines Mitgliedstaates aus der EU gegen dessen Willen. Die EU kann lediglich gegen einen Mitgliedstaat, der die von EU und ihren Mitgliedstaaten geteilten Verfassungswerte „schwerwiegend und anhaltend“ verletzt, Sanktionen verhängen. Siehe dazu Gabriel N. Toggenburg, (2013). Was soll die EU können dürfen um die EU-Verfassungswerte und die Rechtsstaatlichkeit der Mitgliedstaaten zu schützen? Ausblick auf eine neue Europäische Rechtsstaatshygiene. Wien. ÖGfE Policy Brief, 10’2013, https://oegfe.at/wordpress/blog/2013/09/09/was-soll-die-eu-koennen-duerfen-um-die-eu-verfassungswerte-und-die-rechtsstaatlichkeit-der-mitgliedstaaten-zu-schuetzen/.
[3] Siehe etwa Silke Breimaier (2016). Schlafwandelnd ins Aus? In der britischen Brexit-Debatte wird an die Vernunft appelliert – von beiden Seiten. Wien. ÖGfE Policy Brief, 13’2016, https://oegfe.at/wordpress/blog/2016/05/06/schlafwandelnd-ins-aus/.
[4] Dies obwohl Großbritannien erst jüngst eine massive Untersuchung der Sinnhaftigkeit der Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten vorgenommen hat. Erstaunlicherweise hat diese beachtliche Bestandsaufnahme keinerlei Rolle in der Referendumsdebatte. Diese erscheint somit auf dem juristischen Auge blind. Die Ergebnisse der „review of the balance of competences“ findet sich hier: https://www.gov.uk/guidance/review-of-the-balance-of-competences.
[5] Art. 50 (1) EUV.
[6] Art. 50 (4) EUV.
[7] So auch Jean-Claude Piris, If the UK votes to leave. The seven alternatives to EU membership, January 2016, S. 4 oder House of Commons, EU Referendum: the process of leaving the EU, April 2016, http://researchbriefings.parliament.uk/ResearchBriefing/Summary/CBP-7551, S. 12. Anders Christophe Hillion, Accession and withdrawal in the law of the European Union, in Arnull and Chalmers (Hrsg.), European Union Law, 2015, S.126-152, S. 138.
[8] Art. Art. 50(5) EUV.
[9] Art. 50 (2) EUV bestimmt, dass für die Verhandlung des Abkommens Art. 218 (3) AEUV zur Anwendung kommt.
[10] Art. 50 (4) EUV.
[11] Art. 238(2) AEUV.
[12] Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten „gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften“. Siehe Art. 49 EUV.
[13] Siehe Art. 50 (3) EUV.
[14] Vgl. Artt. 49 und 50 EUV. Die Tatsache dass der Vertrag nicht von den Mitgliedstaaten (den Herren der EU Verträge) geschlossen wird, sondern zwischen der EU und einem zukünftigen Drittstaat, ist ein weiteres Argument, warum solche EU-internen Anpassungen einem Vertragsänderungsverfahren innerhalb der EU-Mitgliedstaaten vorbehalten bleiben sollten und somit nicht in einem Austrittsabkommen nach Artikel 50 EUV mitgeregelt werden können.
[15] Siehe zu den jeweils nötigen Schritten und verbundenen Rechten und Pflichten: Jean-Claude Piris, a.a.O.
[16] Das wird natürlich Folgen für den zeitlichen Rahmen haben. Auch die britische Regierung scheint nicht an die in Artikel 50 EUV genannten zwei Jahre zu glauben: Siehe House of Commons, EU Referendum, S. 12.
[17] Adam Lazowski, How to withdraw from the European Union? Confronting hard realities, https://www.ceps.eu/publications/how-withdraw-european-union-confronting-hard-reality. Um die Interdependenzen zu verdeutlichen: möchte Großbritanniens dem Europäischen Wirtschaftsraum beitreten, wäre ein Beitrittsabkommen mit der EFTA erforderlich (Art. 53 (5) und Art. 56 (1) EFTA Konvention: ein einstimmiger Beschluss des EFTA Rates ist vonnöten) und dann einen Beitrittsvertrag zum EWA,  der nicht nur seitens der EFTA Staaten ratifiziert werden müsste, sondern auch von der EU und ihren Mitgliedstaaten.
[18] Art. 218 (11) AEUV.
[19] Hafner, Kumin, Weiss (Hrsg), Recht der Europäischen Union, S. 48.
[20] Diese werden in der Langfassung dieses Artikels diskutiert, online unter https://oegfe.at/wordpress/wp-content/uploads/2016/06/OEGfE_Policy_Brief-2016.19_Langfassung_final.pdf.
[21] Art. 6(1) EUV.
[22] Art. 18 AEUV.
[23] Art. 20 (1) AEUV.
[24] So aber Clemens M. Rieder, The withdrawal clause of the Lisbon treaty in the light of EU citizenship: between disintegration and integration, in Fordham International Law Journal, Vol. 37, S. 147-174. Das Postulat erscheint juristisch zweifelhaft. Aus dem Entschluss der EU Mitgliedstaaten „eine gemeinsame Unionsbürgerschaft für die Staatsangehörigen ihrer Länder einzuführen“ (siehe die Präambel des AEUV), kann keinerlei Verpflichtung der EU bzw. der verbleibenden Mitgliedstaaten abgelesen werden, eine quasi-Unionsbürgerschaft jenseits der Union zu akzeptieren. Der Vertrag sagt eindeutig, wer Unionsbürger ist, nämlich: „wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt“ (Art. 20 (1) AEUV).
[25] Siehe etwa die Generalanwältin Eleanor Sharpston in Rs C‑208/09: ein Unionsbürger muss sich „in einer dem Geltungsbereich des Unionsrechts unterliegenden Situation auf den Schutz berechtigten Vertrauens verlassen können, der ein Grundprinzip dieses Rechts darstellt.“
[26] Siehe Völkerrechtskommission, Bericht aus der achtzehnten Sitzung, abgedruckt in Yearbook of the International Law, 1966, S. 265, http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/1_1_1966.pdf.
[27] Siehe samt Verweisen S. Douglas-Scott, ‘What Happens to ‘Acquired Rights’ in the Event of a Brexit?’, U.K. Const. L. Blog (16  Mai 2016, https://ukconstitutionallaw.org/).
[28] Für einen Vergleich mit dem Präzedenzfall Grönland siehe etwa House of Commons, Exiting the EU: UK reform proposals, legal impact and alternatives to membership, Februar 2016, S., 52, http://researchbriefings.files.parliament.uk/documents/CBP-7214/CBP-7214.pdf.
[29] Phaedon Nicolaides, Withdrawal from the European Union: a typology of effects, in Maastricht Journal, 2 (2013), S. 209-219.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Toggenburg, G. N. (2016). Das Vereinigte Königreich und die Europäische Union: Ein rechtlicher Blick auf eine politische Schicksalsfrage. Wien. ÖGfE Policy Brief, 19’2016

Dr. Mag. Gabriel N. Toggenburg

Dr. Mag. Gabriel N. Toggenburg, LL.M. ist Programm Manager Legal Research an der Grundrechteagentur der Europäischen Union (www.fra.europa.eu) und Gastdozent an der Universität Graz (uni-graz.academia.edu/GabrielToggenburg).
Die hier geäußerten Ansichten sind ausschließlich privater Natur und können nicht der Agentur zugerechnet werden.