Das neue EU-Migrations- und Asylpaket: Kernpunkte der laufenden Verhandlungen

Handlungsempfehlungen

  1. Solidarität für die EU-Grenzstaaten soll verpflichtend und greifbar werden.
  2. Die EU soll ausgewogene Partnerschaften mit Drittstaaten anstreben.
  3. Menschen- und verfahrensrechtliche Standards sollen auch in der beabsichtigten Beschleunigung von Asylverfahren gewahrt bleiben.

Zusammenfassung

Dieser Policy Brief analysiert einige Kernpunkte der laufenden Verhandlungen über das neue EU-Migrations- und Asylpaket, das von der Europäischen Kommission im September 2020 vorgestellt wurde. Dieses Paket baut auf der Prämisse auf, dass eine Reihe von AkteurInnen intensiver als bisher zusammenarbeiten sollen. Die EU-Grenzstaaten sollen strengere Einreisekontrollen durchführen und schnellere Asylverfahren abwickeln. Die anderen EU-Mitgliedstaaten sollen flexible, aber verpflichtende Solidarität an den Tag legen, im Speziellen indem sie Asylsuchende innerhalb Europas gerechter verteilen oder sich in der Abschiebung von irregulären MigrantInnen engagieren. Und Drittstaaten sollen dazu gebracht werden, in Migrationsfragen enger mit der EU zusammenzuarbeiten. In jedem dieser Bereiche sind noch knifflige Fragen offen. Die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament sollen an der Realisierbarkeit der Pläne arbeiten und die Einhaltung von verfahrens- und menschenrechtlichen Standards sicherstellen. EU-Binnenstaaten, wie etwa Österreich, sollen nicht nur darauf bedacht sein, die eigenen Verpflichtungen innerhalb der EU-Asylpolitik so gering wie möglich zu halten. Das Ziel soll sein, ein EU-Migrations- und Asylwesen zu etablieren, das gesamteuropäisch fair ist, greifbare Solidarität für die EU-Grenzstaaten beinhaltet und Schutz für diejenigen bietet, die es brauchen – kurzum, das besser als bisher funktioniert.

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Das neue EU-Migrations- und Asylpaket: Kernpunkte der laufenden Verhandlungen

Im September 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission ein neues EU-Migrations- und Asylpaket, das einen jahrelangen Streit zwischen den Mitgliedstaaten beenden soll. EU-Grenzstaaten wie Griechenland und Italien forderten schon lange mehr Solidarität von ihren EU-Partnern ein. Einige EU-Mitgliedstaaten, insbesondere die Visegrád-Länder und auch Österreich, lehnten es jedoch ab, Asylsuchende aus diesen Grenzstaaten aufzunehmen. Der Vorschlag der Kommission kommt diesen kooperationskritischen Mitgliedstaaten nun in einem Kernpunkt entgegen – es wird keine Verpflichtung zur Umsiedlung von Asylsuchenden innerhalb Europas geben. Alle Mitgliedstaaten werden jedoch zu einem besseren Funktionieren der EU-Migrations- und Asylpolitik beitragen müssen. Wenn sich eine Regierung gegen die Umsiedlung von Asylsuchenden ausspricht, dann solle sie verstärkt irreguläre MigrantInnen rückführen.

Alle Mitgliedstaaten werden jedoch zu einem besseren Funktionieren der EU-Migrations- und Asylpolitik beitragen müssen.

Dieser Policy Brief argumentiert, dass der Kommissionsvorschlag eine vertretbare Basis für eine Neuverhandlung der EU-Asyl- und Migrationspolitik darstellt. Das Europäische Parlament und die Mitgliedstaaten sollten jedoch einigen zentralen Fragen besondere Aufmerksamkeit schenken, da der Vorschlag auf noch vagen oder zum Teil unrealistischen Annahmen aufbaut (z. B. hinsichtlich der Zusammenarbeit von Drittstaaten). Österreich und andere EU-Mitgliedstaaten sollten nicht nur darauf bedacht sein, ihre eigenen Verpflichtungen innerhalb der EU-Asylpolitik so gering wie möglich zu halten.

Der versuchte Neustart  

Anhand der Begriffe „Solidarität“ und „Verantwortung“ wurden in der EU-Asylpolitik lange und schwierige Debatten geführt.

Die Bemühungen der Europäischen Kommission, die EU-Asylpolitik nach der Migrationskrise von 2015 und 2016 zu reformieren, sind aufgrund der gegensätzlichen Standpunkte bis dato nicht erfolgreich gewesen.

Die Forderung nach mehr Solidarität wurde von Griechenland und Italien angeführt. Diese EU-Grenzländer stellten die Dublin-III-Verordnung in Frage, die ihnen im Regelfall die Verantwortung für neu ankommende Asylsuchende übertrug. Die Mitgliedstaaten im geografischen Zentrum der EU konterten diesem Argument mit dem Verweis auf ihre eigenen – oft sehr hohen – Asylantragszahlen und dem vermeintlichen Weiterwinken von Asylsuchenden. Im Jahr 2019 wurde einer von fünf Anträgen in der EU in Deutschland gestellt (siehe Graphik 1).[1] Die EU-Binnenstaaten unterstrichen die „Verantwortung“ der EU-Grenzstaaten, zunächst ihre eigenen Grenzen zu schützen und das EU-Recht (einschließlich der Dublin-Verordnung) umzusetzen, bevor ein höheres Maß an Solidarität angewandt werden könnte. Eine dritte Gruppe von EU-Ländern, hauptsächlich aus Osteuropa, vertrat einen weiteren Standpunkt. Selbst wenn sie vergleichsweise wenig Asylsuchende in ihren Ländern hatten, waren sie vehement gegen jede Form einer verpflichtenden Solidarität wie die Umsiedlung von Asylsuchenden innerhalb Europas. Dies würde nationalstaatliche Souveränität verletzen. Die österreichische Bundesregierung unter Sebastian Kurz hat sich dieser Position angeschlossen. Die Bemühungen der Europäischen Kommission, die EU-Asylpolitik nach der Migrationskrise von 2015 und 2016 zu reformieren, sind aufgrund der gegensätzlichen Standpunkte bis dato folglich nicht erfolgreich gewesen.[2]

Die Bemühungen der Europäischen Kommission, die EU-Asylpolitik nach der Migrationskrise von 2015 und 2016 zu reformieren, sind aufgrund der gegensätzlichen Standpunkte bis dato nicht erfolgreich gewese

Das neue Migrations- und Asylpaket der Kommission umfasst beinahe 340 Seiten, in dem eine Reihe von Gesetzesänderungen zur EU-Migrations- und Asylpolitik vorgeschlagen werden. Im Zentrum steht ein neuer „Solidaritätsmechanismus“. Er kann von einem Mitgliedstaat, der migrationspolitischen Druck verspürt, oder von der Kommission eingeleitet werden. Basierend auf den Erfordernissen sollen die EU-27 Staaten „Solidaritätspläne“ vorlegen.[3] Diese Pläne betreffen eine Umverteilung von Asylsuchenden (von EU-Grenzstaaten), das Abschieben von irregulären MigrantInnen (aus diesen EU-Grenzstaaten) oder andere operationelle Maßnahmen. Das Konzept der „Rückkehrförderung“ räumt den Mitgliedstaaten Flexibilität ein. Sie können die Nationalitäten der Rückzuführenden auswählen, sie können spezielle operative Maßnahmen vorschlagen und sie können selbst entscheiden, welche Ratio zwischen Umsiedlungen (von Asylsuchenden innerhalb Europas) und Rückführungen (von irregulären MigrantInnen zu Drittstaaten) sie festlegen wollen.[4] Wenn sich eine Regierung allerdings für eine „Rückkehrförderung“ entscheidet, ist dies eine Verpflichtung, aus der sie nicht wieder aussteigen kann. Falls die Rückführung nicht innerhalb von acht Monaten erfolgt, muss der/die MigrantIn in den Mitgliedstaat gebracht werden, der die Förderung eingegangen ist (im Falle einer Krise verkürzt sich dies auf vier Monate). Der Mechanismus einer flexiblen, aber verpflichtenden Solidarität wird durch eine Reihe weiterer Maßnahmen ergänzt wie verpflichtende Screenings für alle irregulär Einreisenden sowie beschleunigte Grenzverfahren.

Kernpunkte der laufenden Verhandlungen

Die Kommissarin für Inneres, Ylva Johannson, sagte bei der Präsentation des Migrationspakets, dass wohl niemand ganz zufrieden sei. Das Ende von verpflichtenden Umverteilungen von Asylsuchenden und der starke Fokus auf Rückführung wurden tatsächlich als ein „Kniefall vor Antimigrationspolitikern“ bezeichnet.[5] Andere wiederum betonten, dass das EU-Migrationspaket lediglich europäische „Realpolitik“ und „Pragmatismus“ widerspiegle.[6] Während die Visegrád-Länder, Österreich (und zuletzt auch Dänemark) gegen eine verpflichtende Umsiedlung von AsylbewerberInnen mobilisierten, erinnerte das Feuer im Flüchtlingslager Moria an die schon prekären Verhältnisse in griechischen Aufnahmezentren. Angesichts der verhärteten Fronten zwischen den EU-Mitgliedstaaten hatte die Kommission wenig Handlungsoptionen. Welche kritischen Punkte gilt es nun in den laufenden Verhandlungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament zu beachten?

Das Ende von verpflichtenden Umverteilungen von Asylsuchenden und der starke Fokus auf Rückführung wurden tatsächlich als ein ‚Kniefall vor Antimigrationspolitikern‘ bezeichnet.

Solidarität für die EU-Grenzstaaten: Bevor die Kommission das Paket präsentiert hat, hat sie vielfach das Gespräch mit EU-Mitgliedstaaten gesucht, um Kompromissmöglichkeiten auszuloten.[7] Das neue Paket ist daher politisch kalkulierbarer gewesen.

Dies ändert aber nichts an einer Grundproblematik der europäischen Migrations- und Asylpolitik. Einige Regierungen, wie jene von Ungarn unter Viktor Orbán, mobilisieren gegen die EU-Migrationspolitik, um Wahlen zu gewinnen und ihre nationalstaatliche Machtbasis auszubauen. Bei der Vorlage des neuen Pakets erklärte der ungarische Premierminister: „Der grundlegende Ansatz bleibt derselbe. Die EU möchte die Migration verwalten und nicht die Migranten stoppen“.[8] Auch Österreich zeigt sich kritisch. Der österreichische Innenminister sieht im Konzept der Rückkehrförderung das Risiko einer Umverteilung von MigrantInnen „durch die Hintertür“.[9] Laut Bundeskanzler Kurz sollte der Begriff „Solidarität“ nicht im Zusammenhang von Asylfragen verwendet werden. Die Umverteilung von Flüchtlingen und AsylbewerberInnen sei zum Scheitern verurteilt.[10] Österreichische BeamtInnen zielen in den laufenden Verhandlungen darauf ab, die Verpflichtungen hinsichtlich der Übernahme von irregulären MigrantInnen abzuschwächen. Sie wollen dafür mehr Engagement in anderen Bereichen anbieten (z. B. hinsichtlich der Grenzverfahren).[11]

Die EU-Binnenstaaten sollen allerdings nicht von Verpflichtungen einer Übernahme absehen, da das Paket der Kommission von den EU-Grenzstaaten mehr als bisher abverlangt. Sie haben weiterhin die Verantwortung, neu ankommende MigrantInnen aufzunehmen und ihre Anträge zu bearbeiten. Verpflichtende Screenings an der Grenze und EU-Grenzverfahren fallen arbeitstechnisch nun zusätzlich in ihren Bereich, selbst wenn sie stärker von EU-Agenturen wie Frontex unterstützt und mehr finanzielle Hilfe von der EU bekommen werden. Auch das Konzept der Rückkehrförderung überträgt den EU-Grenzstaaten viel Verantwortung. Der EU-Grenzstaat teilt dem anderen EU-Mitgliedstaat, der die Rückkehrförderung übernommen hat, mit, welche Unterstützung erwartet wird. Das kann zum Beispiel die Finanzierung eines Programms zur freiwilligen Rückkehr und Reintegration oder die Beantragung von Ausreisedokumenten beim Drittstaat betreffen. Nur wenn eine Rückführung/Rückkehr nach den ersten acht Monaten nicht möglich ist, werden die irregulären MigrantInnen in das andere EU-Land überstellt.

Scheitern die Verhandlungen, dann droht das EU-Asylwesen, weiterhin dysfunktional zu sein. Wenn sich Griechenland, Italien und andere EU-Grenzstaaten von den EU-Partnern in Stich gelassen vorkommen, werden sie wohl versuchen, den Migrationsdruck auf andere Art und Weise zu verringern. Die Möglichkeiten, MigrantInnen dazu zu bringen, in andere EU-Mitgliedstaaten zu gehen, sind vielfältig (sie reichen von einer Kürzung der Sozialhilfe über die Nichtversorgung von Neuankömmlingen).[12] Andere Mitgliedstaaten würden wohl nationalstaatliche Grenzkontrollen verstärken und versuchen, das eigene Asylwesen für Neuankömmlinge unattraktiver zu gestalten. Schon während der Migrationskrise von 2015 und 2016 haben diese Dynamiken dazu geführt, dass sich die Migrationskrise zu einer „Legitimitätskrise der EU“ entwickelt hat.[13]

Scheitern die Verhandlungen, dann droht das EU-Asylwesen, weiterhin dysfunktional zu sein.

Ausgewogene Partnerschaften: Die EU versucht schon seit langem, enger mit Drittstaaten, (insbesondere mit afrikanischen Ländern) in Rückführungsfragen zusammenzuarbeiten. Die Kommission hat nun ihre Bereitschaft bekräftigt, Sanktionen (negative Konditionalität) in Erwägung zu ziehen, falls ihre Angebote (positive Konditionalität) nicht zu mehr Zusammenarbeit führen. So kann die EU etwa höhere Visagebühren oder Visabeschränkungen für einen Drittstaat beschließen, falls die Zusammenarbeit als nicht ausreichend angesehen wird.[14] Die neue Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement geht jetzt noch weiter und gibt der EU ganz allgemein die Möglichkeit, Maßnahmen zu ergreifen, „um die Kooperation dieses Drittstaats im Hinblick auf die Rückübernahme zu verbessern“.[15] Wenn diese Klausel akzeptiert wird, kann die EU den Rückführungsbereich weitgehend mit der Handels-, Entwicklungs- oder Wirtschaftspolitik verzahnen.

Es ist allerdings fraglich, ob die Mitgliedstaaten diesen Ansatz auch umsetzen wollen. Schon im Jahr 2002 haben die EU-Staats- und Regierungschefs beim Gipfeltreffen von Sevilla verlangt, dass jegliches zukünftiges Wirtschafts- oder Assoziierungsabkommen an die Rückführung von irregulären MigrantInnen gekoppelt werden sollte.[16] Dies wurde allerdings nur in Ausnahmefällen angewandt. Es ist eine heikle diplomatische Angelegenheit, die Visabestimmungen für alle BürgerInnen eines Drittstaates nur aufgrund fehlender Zusammenarbeit im Bereich Rückführung strenger zu gestalten. Einige EU-Mitgliedstaaten haben enge sozio-ökonomische (oft postkoloniale) Beziehungen zu gewissen Herkunfts- und Transitländer von MigrantInnen (z. B. Spanien-Marokko; Italien-Tunesien; Frankreich-Mali). Die Kooperation betrifft in diesen Fällen die ganze Bandbreite von Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitsfragen. Zuweilen haben diese EU-Mitgliedstaaten auch oft bilaterale Rückübernahmeabkommen geschlossen und sehen eine fehlende Kooperation dieser Drittstaaten mit anderen EU-Mitgliedstaaten als ein sekundäres Problem an.[17] Werden EU-Mitgliedstaaten daher bereit sein, Sanktionen mitzutragen und ihre bilateralen Kanäle für eine EU-weite Rückführungspolitik einsetzen?

Die externe Rückkehr- und Migrationszusammenarbeit funktioniert in der Regel am besten, wenn Reisen oder Migration für viele BürgerInnen als etwas ‚mögliches‘, ja ‚normales‘ angesehen wird.

Andererseits stellt sich auch die Frage, ob die EU diesen Ansatz tatsächlich verfolgen sollte. In etlichen afrikanischen Staaten haben PolikerInnen großes innenpolitisches Interesse, von einer engeren Zusammenarbeit mit der EU in diesem Bereich abzusehen – egal, wie viel Druck die EU auch ausübt.[18] Zu tief sitzen (postkoloniale) Gefühle von Ungerechtigkeit. Zu wichtig sind die Geldüberweisungen der MigrantInnen, die es nach Europa geschafft haben. Die zwanghafte Rückführung eigener Landsleute wird oft als ein Verrat am Land dargestellt. Mehr Druck und Geld werden daher nicht automatisch zu mehr und einer verbesserten Kooperation mit der EU führen. Die EU sollte den Anspruch von Verhandlungen auf Augenhöhe und die Prioritäten dieser Länder ernster nehmen. Der Kommission scheint dies bewusst zu sein, da sie sich auch für die Schaffung neuer legaler Zugangswege in die EU ausspricht. So soll nicht nur dem demografischen Druck in einigen Mitgliedstaaten entgegengewirkt werden, sondern auch ein zusätzlicher Anreiz für die Zusammenarbeit bei der Rückführungspolitik geschaffen werden. Drittstaaten sollen „umfassende, ausgewogene und maßgeschneiderte Partnerschaften“ angeboten werden.[19]

Die Kommission kann selber keine Quoten für legale Migration nach Europa anbieten, da dies die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist. Neue legale Einreisemöglichkeiten beispielsweise für AfrikanerInnen bleiben ein No-Go für viele EuropäerInnen. Eine Lockerung von einigen Einreisebestimmungen (wie durch legale Zuwanderung oder Visaerleichterungen) könnte jedoch tatsächlich zu einer besseren Kontrolle von Migration führen – selbst, wenn dies auf den ersten Blick wie ein Widerspruch erscheint. Die externe Rückkehr- und Migrationszusammenarbeit funktioniert in der Regel am besten, wenn Reisen oder Migration für viele BürgerInnen als etwas „mögliches“, ja „normales“ angesehen wird.

AnhängerInnen einer restriktiven EU-Migrationspolitik können auf das verpflichtende Screening für alle irregulär Einreisenden sowie beschleunigte Grenzverfahren verweisen.

Menschen- und verfahrensrechtliche Standards: Die Kommission versucht einen schwierigen Spagat. AnhängerInnen einer restriktiven EU-Migrationspolitik können auf das verpflichtende Screening für alle irregulär Einreisenden sowie beschleunigte Grenzverfahren verweisen. So soll zwischen MigrantInnen mit hoher oder niedriger Wahrscheinlichkeit auf internationalen Schutz schnell unterschieden werden. Wenn ein/eine MigrantIn von einem sicheren Dritt- oder Herkunftsstaat kommt, kann dies zu einer beschleunigten Ablehnung und Abschiebung führen.[20] Andererseits betont die Kommission die Einhaltung von Menschenrechten. Es werden spezielle Schutzmaßnahmen für vulnerable Gruppen wie unbegleitete Minderjährige und Familien vorgeschlagen.[21] Frontex, die europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache, soll verstärkt auch zur „Rettung von Menschenleben auf See“[22] beitragen. Dieses Engagement soll den jahrelangen Streit zwischen einigen Mitgliedstaaten und Nicht-Regierungsorganisationen, die sich im Bereich der Seenotrettung engagieren, entschärfen. Ob dies gelingen kann, bleibt abzuwarten. Nicht-Regierungsorganisationen stehen Frontex oft sehr kritisch gegenüber. Die Agentur wird zurzeit sogar beschuldigt, Push-Back Aktionen von einzelnen Mitgliedstaaten (in denen MigrantInnen sofort wieder an deren Ausgangspunkt zurückgebracht werden) nicht nur nicht verhindert, sondern selbst daran mitgewirkt zu haben.[23]

Die Verhandlungen auf EU-Ebene sollen sicherstellen, dass menschen- und verfahrensrechtliche Standards auch in der beabsichtigten Beschleunigung der Verfahren Berücksichtigung finden. Beschleunigte Verfahren wurden schon länger in einigen Mitgliedstaaten praktiziert. Sie wurden vielfach kritisiert, da diese Verfahren hauptsächlich darauf abzielen würden, MigrantInnen schnell wieder außerhalb des eigenen Territoriums zu schaffen.[24] Auch lässt die Kommission es offen, wie die MigrantInnen während des Screenings und des Grenzverfahrens aufgenommen werden sollen. Es gibt einen „begründeten Verdacht“, dass Schubhaft-ähnliche Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen Standard werden könnten.[25]

Die Verhandlungen auf EU-Ebene sollen sicherstellen, dass menschen- und verfahrensrechtliche Standards auch in der beabsichtigten Beschleunigung der Verfahren Berücksichtigung finden.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass das Asyl- und Migrationspaket der Europäischen Kommission auf der Prämisse aufbaut, dass eine ganze Reihe von AkteurInnen intensiver als bisher zusammenarbeiten: die EU-Grenzstaaten sollen strenger kontrollieren und schnellere Verfahren abwickeln; die anderen EU-Mitgliedstaaten mehr unterstützen; und Drittstaaten verstärkt hinsichtlich der Rückführung ihrer eigenen BürgerInnen oder TransitmigrantInnen mitwirken. In jedem dieser Bereiche sind noch knifflige Fragen zu beantworten. Die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament sollen an der Realisierbarkeit der Pläne arbeiten und die Einhaltung von verfahrens- und menschenrechtlichen Standards sicherstellen. Das Ziel soll sein, ein EU-Migrations- und Asylwesen zu etablieren, das gesamteuropäisch fair ist, greifbare Solidarität für die EU-Grenzstaaten beinhaltet und Schutz für diejenigen bietet, die es brauchen – kurzum, das besser als bisher funktioniert.

Der Autor bedankt sich bei Susan Milford-Faber, Paul Schmidt und Philipp Stutz für konstruktives Feedback auf eine frühere Version des Texts. Die Verantwortung für den Inhalt bleibt selbstverständlich seine eigene.

[1] Im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße war Deutschland im Jahr 2019 aber nicht Spitzenreiter (199 Anträge bei 100.000 EinwohnerInnen). Zypern hatte im gleichen Maßstab 1.558 Anträge, gefolgt von Malta (829) und Griechenland (721) (Quelle: eigene Berechnung anhand von Eurostat-Zahlen).

[2] Vgl. z. B. Natascha  Zaun: States as Gatekeepers in EU Asylum Politics. Explaining the Non-adoption of a Refugee Quota System. In: Journal of Common  Market Studies 56 (1) 2018, S. 44-62.

[3] Europäische Kommission: Das neue Migrations- und Asylpaket: Fragen und Antworten. QANDA/20/1707.

[4] Europäische Kommission: Mitteilung der Kommission. Ein neues Migrations- und Asylpaket. Brüssel, KOM(2020) 609 final, S. 7.

[5] Binder, Clemens: (K)eine Lösung für die Migrationskrise? Kommentar der Anderen, Der Standard, 30. September 2020.

[6] Daniel Thym: European Realpolitik: Legislative Uncertainties and Operational Pitfalls of the ‘New’ Pact on Migration and Asylum, Odysseus EU Migration Law Blog 2020.

[7] Webinar mit BeamtInnen von DG Home, 21. September 2020.

[8] Zitiert in EurActiv: In Brussels, Visegrad countries reject the EU’s migration plan. EurActiv.com, 24 September 2020.

[9] Zitiert in Politico: Germany’s Horst Seehofer: Yes, we can get a political deal on migration. Politico.eu, 8 October 2020.

[10] Zitiert in Deutsche Welle: Nachbesserungen am Migrationspaket der EU-Kommission gefordert. Dw.com, 24. September 2020.

[11] Persönliche Notizen von Webinar mit EU- und österreichischen BeamtInnen, 22. Oktober 2020.

[12] Vgl. z. B. Ilker Ataç/Sieglinde Rosenberger: Social Policies as a Tool of Migration Control. In: Journal of Immigrant and Refugee Studies, 17/2019, S. 1-10; Peter Slominski/Florian Trauner: How do member states return unwanted migrants? The strategic (non-)use of ‘Europe’ during the migration crisis. In: Journal of Common  Market Studies, 56 (1) 2018, S. 101-118.

[13] Philomena Murray/Michael Longo: Europe’s wicked legitimacy crisis: the cases of refugees. In: Journal of European Integration, 40 (4) 2020, S. 411-425.

[14] Verordnung 2019/1155 vom 20. Juni 2019, Artikel 25a.

[15] KOM(2020) 610 final, Artikel 7.

[16] European Council: Presidency Conclusions Seville. 21 and 22 June 2002.

[17] Vgl. z. B. Marion Panizzon: Readmission agreements of EU member states: a case for EU subsidarity or dualism? In: Refugee Survey Quaterly, 31 (4) 2012, S. 101-133.

[18] Vgl. Adam, Ilke/Florian Trauner/Leonie Jegen/Christof Roos, 2020: West African Interests in (EU) Migration Policy. Balancing Domestic Priorities with External Incentives. In: Journal of Ethnic and Migration Studies, DOI 10.1080/1369183X.2020.1750354.

[19] KOM(2020) 610 final, S. 3.

[20] KOM(2020) 610 final, S. 6.

[21] Webinar mit Mitglied der Europäischen Kommission, 22. Oktober 2020.

[22] Ebenda, S. 17.

[23] Vgl. Human Rights Watch, 2020: EU: Probe Frontex Complicity in Border Abuses – Ensure Independent and Effective Investigations, 9 November 2020.

[24] Spijkerboer, Thomas A., 2005: Stereotyping and Acceleration. Gender, Procedureal Acceleration and Marginalized Judicial Review in the Dutch Asylum System. In: Gregor Noll (ed.), Proof, Evidentiary Assessment and Credibility in Asylum Procedures. Leiden: Martinus Nijhoff, 67-102.

[25] Angenendt, Steffen/Nadine Biehler/Raphael Bossong/David Kipp/Anne Koch, 2020: The New EU Migration and Asylum Package: Breakthrough or Admission of Defeat? SWP Comment 2020/C46, German Insitute for International and Security Affairs (SWP), Berlin.

ISSN 2305-2635

Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Schlüsselwörter

EU-Migrations- und Asylpaket, Europäische Kommission, Rückkehrförderung, Umverteilung von Asylsuchenden

Zitation

Trauner, F. (2020). Das neue EU-Migrations- und Asylpaket: Kernpunkte der laufenden Verhandlungen. Wien. ÖGfE Policy Brief, 24’2020

Florian Trauner

Florian Trauner hält einen Jean Monnet-Lehrstuhl am Institut für europäische Studien der Freien Universität Brüssel (VUB). Er lehrt auch zum Thema der EU-Migrationspolitik am Europakolleg (Natolin Campus). Zuletzt hat er an der (frei zugänglichen) Studie „West African Interests in (EU) Migration Policy: Balancing Domestic Priorities with External Incentives“ mitgewirkt.