Budgetdefizite in Europa: von einer naiven zu einer ökonomischen Sicht

Handlungsanweisungen

  1. Die südeuropäischen Länder müssen vor allem ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern, um ihr Budgetdefizit über Wachstumsimpulse zu verringern. Das wichtigste politische Instrument dafür ist die Industrie- und Technologiepolitik.
  2. Die mittel- und nordeuropäischen Länder sollten vor allem die hohe Sparquote der privaten Haushalte verringern, um dadurch ihre Budgetdefizite indirekt abzubauen.
  3. Die Euro-Länder mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen sollten ihre Standortposition im eigenen Interesse nicht durch Lohnbremsung, Sozialabbau und Steuerpolitik weiter gegenüber den Defizitländern ausbauen.

Zusammenfassung

Aus „naiver Sicht“ verfehlen die europäischen Regierungen die budgetpolitischen Ziele des Stabilitätspakts, weil sie an Machterhalt interessiert sind und deshalb nicht genug Ausgaben einsparen. Der Zusammenhang zwischen Staatsbudget und Wirtschaftsleistung wird dabei ausgeblendet. Aus „ökonomischer Sicht“ ist das Budgetdefizit eines Landes identisch mit dem Leistungsbilanzdefizit und dem Überschuss des laufenden Sparens über die Investitionen. Die südeuropäischen Länder haben hohe Budgetdefizite, weil sie nicht wettbewerbsfähig sind. Die Budgets der mittel- und nordeuropäischen Länder sind meist im Minus, weil die reichen privaten Haushalte mehr sparen als die Unternehmen im Inland investieren. Der Policy Brief gibt eine Orientierung für den Strukturwandel, der notwendig ist, um ausgeglichene Budgets zu erreichen.

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Ziele der Wirtschaftspolitik

Es gibt viele wirtschaftspolitische Ziele: Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Preisstabilität, saubere Umwelt und Vermeidung von Leistungsbilanz- und Budgetdefiziten.
Die Europäische Union ist auf eines dieser wirtschaftspolitischen Ziele geradezu fixiert: die Verhinderung von Budgetdefiziten. Wie wichtig ein Ziel genommen wird, erkennt man daran, ob es quantitative Targets und Sanktionen bei Nichterfüllung gibt. In der EU sind im Stabilitätspakt genaue Budgetziele mit Sanktionen festgelegt.
Wenn ein Ziel als weniger wichtig erachtet wird, dann gibt es dafür auch keine quantitativen Zielgrößen: Das trifft in der EU für Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstum zu. Für die Inflationsrate hat die Europäische Zentralbank zwar eine Zielgröße (2%) festgesetzt. Da die Preisstabilität aber in den letzten Jahrzehnten wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der Globalisierung kein echtes Problem darstellte, war diese Zielgröße mit Ausnahme einiger Hochkonjunkturjahre weniger wichtig.

EU-Obsession: Vermeidung von Budgetdefiziten

Seit den Maastricht-Verträgen steht das Budgetziel in der EU ganz im Vordergrund. Hier zeigt sich vor allem die ungeliebte Hegemonie Deutschlands in der EU. Frankreich misst diesem Ziel geringere Bedeutung zu, willigte aber in die Maastricht-Verträge ein.
Die Dominanz des Budgetziels wurde in der EU nur kurzfristig nach dem Schock der Finanzkrise unter massivem Druck der USA unterbrochen. Danach hat die EU die expansivere wirtschaftspolitische Linie zu früh verlassen, ehe die Wirtschaft die Krise überwunden hatte – ganz ähnlich wie die USA unter Roosevelt am Ende der dreißiger Jahre. Die Wirtschaftsschwäche ist in der EU heute anhaltender und ausgeprägter als in den USA, obwohl die Immobilien-, Finanz- und Wirtschaftskrise von den USA ausging. Die Wirtschaft des Euro-Raums schrumpfte in den Jahren 2012 und 2013 um jeweils ½%, die US-Wirtschaft wuchs um 2% pro Jahr.[1]
Letztlich geht es bei wirtschaftspolitischen Zielen natürlich um politische Wertungen und damit auch um Maßnahmen für bestimmte Interessensgruppen. Wenn in der Europäischen Union aber eine ausgeprägte Präferenz für ein ausgeglichenes Budget besteht, dann überrascht es umso mehr, dass dieses Ziel schon vor der Finanzkrise so weit verfehlt wurde.
Diese Verletzung des Budgetziels hängt meines Erachtens damit zusammen, dass die Budgetdefizite auf naive Weise betrachtet werden und die ökonomischen bzw. saldenmechanischen Zusammenhänge vernachlässigt werden.

Naive Sicht der Budgetdefizite

Unter „naiver Sicht“ verstehe ich, dass ein Budgetdefizit bloß als ein Überschuss der Staatsausgaben über die Staatseinnahmen um einen bestimmten Betrag verstanden wird. Man brauche also nur die Staatsausgaben um diesen Betrag kürzen (oder die Steuersätze erhöhen), dann sei alles wieder im Lot. Die PolitikerInnen seien aber dazu nicht in der Lage, weil sie ständig auf Wählerfang aus sind und ihre Klientele nicht vergrämen wollen. Deshalb müsse über blaue Briefe und Drohungen Druck auf sie ausgeübt werden.
Diese Meinung vertreten nicht nur JournalistInnen und Stammtischrunden, sondern auch viele ÖkonomInnen. Mit dieser „naiven Sicht“ lässt sich freilich schwer erklären, warum die Budgets in den sechziger und siebziger Jahren in den meisten Ländern weitgehend ausgeglichen waren, heute aber hohe Defizite aufweisen. Waren die PolitikerInnen damals vernünftig und gieren sie erst heute überall nach Wählerstimmen und Machterhalt? Das ist höchst unwahrscheinlich.
Bei dieser „naiven Sicht“ wird der Einfluss einer Kürzung der Staatsausgaben auf die Nachfrage und damit auf die Staatseinnahmen und die Arbeitslosenzahlungen vernachlässigt. Das spricht nicht unbedingt gegen solche Ausgabenkürzungen, aber gegen die Überschätzung ihrer Wirkung auf das Budgetdefizit.
Viele orthodoxe („strenggläubige“) ÖkonomInnen glaubten sogar, dass eine massive Kürzung der Staatsausgaben das Vertrauen und die Stimmung dermaßen steigert, dass die Wirtschaft rasch wieder anspringt. Das ist reine Illusion. Mit solchen Ideen wurde aber die Sparpolitik in Südeuropa untermauert. Die Erfahrungen mit den rigorosen Sparprogrammen in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal haben die Ökonomen eines Besseren belehrt. Auch der Internationale Währungsfonds muss heute eingestehen, dass die negativen Auswirkungen von Sparprogrammen weit höher sind als erwartet.

Ökonomische Sicht der Budgetdefizite

Ich plädiere hier für eine „ökonomische Sicht“ der Budgetdefizite, welche den Zusammenhang des Budgetdefizits mit der Leistungsbilanz und dem Spar- bzw. Investitionsverhalten in den Vordergrund stellt.
Aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) – der makroökonomischen Buchhaltung – können wir folgende Definitionsgleichung ableiten[2]:
Budgetdefizit = Leistungsbilanzdefizit + Sparüberschuss
Das Budgetdefizit ist exakt so hoch wie das Leistungsbilanzdefizit (laut VGR) und der Überschuss der laufenden Ersparnisse der privaten Haushalte über die Investitionen. Bei dieser Gleichung handelt es sich um eine Identität, sie sollte also unumstritten sein. In welche Richtung die Kausalität in dieser Definitionsgleichung verläuft, kann allerdings je nach spezifischer historischer Situation unterschiedlich sein.
Die dargestellte Definitionsgleichung beruht auf einem ganz einfachen Prinzip: Was sich einer ausborgt, muss ihm ein anderer borgen. Wenn der Staat zusätzliches Geld braucht, muss er sich das per Saldo entweder im Ausland (im Fall eines Leistungsbilanzdefizits) oder bei den Sparern im Inland ausborgen.
Das Budgetdefizit ist also umso höher, je stärker die Leistungsbilanz im Minus ist und je größer der Überschuss des laufenden Sparens der Privathaushalte über die Investitionen ist. Welche Schlussfolgerungen können wir daraus ziehen?
Erstens: Ein Versuch zur Verringerung des Budgetdefizits durch Ausgabensenkung oder Steuererhöhung kann nur dann erfolgreich sein, wenn sich dadurch die Leistungsbilanz verbessert und/oder der Sparüberhang zurückgeht. Im Normalfall wird eine Kürzung der Staatsausgaben die Importe verringern und damit die Leistungsbilanz verbessern – aber nur relativ wenig. Entscheidend und umstritten ist der Einfluss einer Ausgabenkürzung auf das Spar- und Investitionsverhalten. Die Vorstellung, dass eine massive Kürzung der Staatsausgaben zu einem raschen Investitionsaufschwung führt, ist spätestens nach den Erfahrungen in Südeuropa nicht haltbar. Die Wirtschaft ist in allen südeuropäischen Ländern nach den Sparprogrammen abgestürzt, die Bevölkerung erleidet die größten Entbehrungen seit der Nachkriegszeit.
Zweitens: Wir können den definitorischen Zusammenhang auch umgekehrt interpretieren. Wenn es gelingt, die Wettbewerbsfähigkeit und damit die Leistungsbilanz zu verbessern, dann wird dadurch das Budgetdefizit „quasi-automatisch“ abgebaut, weil mehr Steuern in die Staatskasse fließen. Wenn es weiters gelingt, den Sparüberschuss der privaten Haushalte zu verringern, dann wird das Budgetdefizit ebenfalls durch höhere Steuern „quasi-automatisch“ geringer. Der Abbau des Budgetdefizits erfolgt aus dieser Sicht also letztlich über höheres Wachstum.
In der EU gibt es zwei divergierende Ländergruppen: Die südeuropäischen Länder leiden besonders seit der Einführung des Euro unter mangelnder Wettbewerbsfähigkeit. Sie haben langfristig deutlich höhere Inflationsraten, können aber im Euro-Raum nicht mehr abwerten. Selbst wenn die Gewerkschaften nur die Abgeltung der Inflation fordern, verlieren diese Länder ständig an Wettbewerbsfähigkeit (ohne reale Verbesserungen). Die südeuropäischen Länder weisen deshalb sehr hohe Leistungsbilanzdefizite und folglich auch hohe Budgetdefizite auf. In Griechenland kamen noch exzessive Budgetausgaben dazu.
Deutschland, Österreich und die nordeuropäischen Länder sind dagegen international wettbewerbsfähig. Sie weisen anhaltend hohe Leistungsbilanzüberschüsse auf, und der Euro schützt sie vor einer massiven Aufwertung. In diesen Ländern geht jedoch die Sparneigung der privaten Haushalte weit über die Investitionstätigkeit im lnland hinaus. Hier hängen die (mäßigeren) Budgetdefizite unmittelbar mit dem Sparüberhang zusammen: Die reichen Privathaushalte sparen einen großen Teil ihres Einkommens, die Investitionschancen der Unternehmen im Inland schwinden dagegen wegen der Globalisierung und der geringen Wachstumsaussichten.

Schlussfolgerungen

Zwei wirtschaftspolitische Konsequenzen liegen für die EU nahe:

  1. Die südeuropäischen Länder müssen vor allem ihre Wettbewerbsfähigkeit (z.B. durch Technologiepolitik) verbessern, um damit auch ihre Investitionstätigkeit zu steigern und so indirekt ihr Budgetdefizit zu verringern. Entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit ist das technologische Niveau, aber auch das Preisniveau im Export und im Fremdenverkehr.
  2. Deutschland, Österreich und die nordeuropäischen Länder sollten einen geringeren Handelsbilanzüberschuss gegenüber den südeuropäischen Ländern akzeptieren und nicht ihre hohe preisliche Wettbewerbsfähigkeit durch niedrige Lohnsteigerungen, Sozialabbau (Agenda 2010 in Deutschland) und steuerliche Maßnahmen noch weiter verbessern. Denn damit verschlimmern sie die Lage in den südeuropäischen Ländern noch. Die Europäische Währungsunion kann nur funktionieren, wenn die wettbewerbsfähigen Länder bereit sind, ihre Überschüsse abzubauen, und die konkurrenzschwachen Länder in der Lage sind, ihre Leistungsbilanzdefizite zu verringern.

In erster Linie sollten aber Deutschland, Österreich und die nordeuropäischen Länder die hohe Sparquote der privaten Haushalte verringern, um dadurch die Budgetdefizite indirekt abzubauen.
John Maynard Keynes hat in einem großartigen Aufsatz 1943 vorhergesagt[3]: Es wird nach dem Krieg mehrere Jahrzehnte geben, in denen Spar- und Investitionsneigung weitgehend übereinstimmen werden: Was die privaten Haushalte sparen, werden die Unternehmen an Krediten für Investitionen brauchen. Die Staatsbudgets werden in dieser Zeit über den Zyklus keine hohen Defizite aufweisen. In diesen Jahrzehnten ist vor allem die Beseitigung von Konjunkturschwankungen angesagt (antizyklische „keynesianische“ Politik).
Danach würden jedoch die Investitionschancen der Unternehmen in den reichen Ländern allmählich geringer werden und nicht mehr an das hohe Sparniveau der privaten Haushalte heranreichen. Dabei konnte Keynes noch nichts ahnen von globalisierungsbedingten Investitionsverlagerungen in Niedriglohnländer und von extremen Bonuszahlungen an FinanzspekulantInnen und ManagerInnen.
In dieser Phase gehe es dann – nach Keynes – wirtschaftspolitisch vor allem um die Koordination von Sparen und Investieren, um ein wirtschaftliches Gleichgewicht zu erreichen und hohe Budgetdefizite zu vermeiden[4].
Die OECD hat seit Jahrzehnten den Strukturwandel auf ihre Fahnen geschrieben. Aber sie meinte damit vor allem die Liberalisierung der Finanz- und Arbeitsmärkte sowie Privatisierungen. Der große Strukturwandel, der heute zu bewältigen ist – gerade wenn in der EU ein ausgeglichenes Budget als oberstes Ziel angesehen wird – liegt in der Rückführung der Sparquote der privaten Haushalte auf das bescheidenere Investitionsniveau. Eine Anhebung der Investitionsquote in den reichen Staaten auf das hohe Sparniveau der Privathaushalte wird nicht mehr möglich sein, insbesondere infolge der Investitionsverlagerungen in Niedriglohnländer.
Die Bewältigung dieses Strukturwandels ist die Voraussetzung für ein ausgeglichenes Budget. Denn bei ausgeglichener Leistungsbilanz entspricht das Budgetdefizit dem Sparüberschuss. Die Beseitigung des weltweiten Sparüberhangs (Bernanke: „savings glut“)[5] kann heute im Wesentlichen auf zwei Wegen erfolgen:

  • durch Steigerung der Kredite an private Haushalte für Häuser und Konsum, wie es in den USA und Großbritannien versucht wurde, oder
  • durch Einkommensumverteilung zu den ärmeren Bevölkerungsschichten und durch Entmutigung des Sparens, das jahrhundertelang eine notwendige Tugend war. Eine solche Verhaltensänderung vom Sparen zum Konsumieren wird für die ältere Generation immer ein Sakrileg bleiben, bei der jungen Generation ist sie jedoch bereits im Gange.

1) Siehe: Europäische Kommission: Europäische Wirtschaftsprognose. Frühjahr 2013. S.1. URL:  ec.europa.eu/economy_finance/publications/european_economy/2013/pdf/ee2_en.pdf
2) Josef Steindl wies bereits vor Jahrzehnten auf diesen Zusammenhang hin: Josef Steindl, Economic Papers 1941-88, MacMillan, London 1990, S.185, 210 und 217
3) Siehe dazu Ewald Walterskirchen, Langfristige Perspektiven von Keynes und die aktuelle Wirtschaftsentwicklung, in Chaloupek G./Marterbauer M., 75 Jahre General Theory, Wirtschaftswissenschaftliche Tagungen der Arbeiterkammer Wien, Band 17, Wien 2012
4) Diese Position von Keynes scheint auch unter Fachleuten weitgehend unbekannt zu sein. Sonst würde der Wirtschaftshistoriker und Bestsellerautor Niall Ferguson dem Ökonomen Keynes nicht vorwerfen, dass er für hohe Budgetdefizite plädierte, weil er homosexuell war und sich deshalb nicht um künftige Generation kümmerte: www.theguardian.com/books/2013/may/04/niall-ferguson-apologises-gay-keynes
5) www.federalreserve.gov/boarddocs/speeches/2005/200503102/

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen, der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Zitation
Walterskirchen, E. (2013). Budgetdefizite in Europa: von einer naiven zu einer ökonomischen Sicht. Wien. ÖGfE Policy Brief, 12’2013

Dkfm. Dr. Ewald Walterskirchen

Dkfm. Dr. Ewald Walterskirchen, derzeit Konsulent im WIFO, arbeitete von 1970 bis 2010 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am WIFO, u.a. als Mitglied der Leitung sowie als Koordinator des Forschungsbereichs Makroökonomie (de.wikipedia.org/wiki/Makro%C3%B6konomie). Er publizierte vor allem in den Bereichen Makroökönomie, Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik. International war er als Koordinator der Kreisky-Kommission für Beschäftigungsfragen aktiv.