Braucht Europa einen radikalen Kurswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik?

Handlungsempfehlungen

  1. Verbesserung der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas durch Forschung, Entwicklung und Innovation statt fruchtloser Diskussion über kurzlebige Nachfrageankurbelung und Neoliberalismus
  2. Nutzung der brachliegenden Wachstumspotentiale Europas durch die Realisierung von Digital Europe, die Schaffung des Energiebinnenmarkts und die Umsetzung der neuen europäischen Industriepolitik
  3. Stärkung von Vertrauen und Investitionsbereitschaft in Europa durch eine glaubwürdige, regelgebundene Finanzpolitik, einen einheitlichen, leistungsfähigen Finanzmarkt und ein konsolidiertes Bankensystem

Zusammenfassung

Die jüngsten Entwicklungen in Griechenland haben die Forderung nach einem radikalen Kurswechsel der europäischen Wirtschaftspolitik verstärkt. Statt fruchtlos über kreditfinanzierte Nachfragebelebung versus fortgesetzte Strukturreformen zu diskutieren, sollten die zahlreichen, durch engstirnige Nationalismen blockierten  Wachstumspotentiale mit dem Ziel genutzt werden, die globale Wettbewerbsfähigkeit Europas und der Eurozone wieder herzustellen: Verwirklichung des Energiebinnenmarktes und des Projektes Digital Europe samt Ausbau der notwendigen „Smart Grids“, Stärkung des europäischen Industriestandortes durch Forschung, Entwicklung, Innovation, Schaffung eines einheitlichen europäischen Finanzmarkts und Verbreiterung der kapitalmarktbasierten Unternehmensfinanzierung, Verbesserung der Staatsausgabenstruktur in Richtung investiver Ausgaben und Abbau von Hindernissen im globalen Handel und in den internationalen Investitionsflüssen. Um das wieder gewonnene Vertrauen der Kapitalmärkte nicht zu gefährden, muss die regelgebundene Finanzpolitik fortgesetzt und die Resilienz des Bankensystems weiter gestärkt werden. Statt bestehende Privilegien und Schutzmauern für Pressure Groups aufrecht zu erhalten, müssen soziale Verwerfungen und gesellschaftliche Desintegrationstendenzen abgebaut werden. Die Geldpolitik der Eurozone ist an ihre Grenzen gestoßen. Langfristig muss die Währungsunion durch eine bundesstaatliche Verfasstheit abgesichert werden. Bis dahin muss es eine Austrittsoption geben. Die hier skizzierte nachhaltige Wachstums- und Beschäftigungsstrategie sollte als das zentrale europäische Projekt entwickelt und in einer gemeinsamen engagierten Kraftanstrengung aller BürgerInnen bis 2020 umgesetzt werden.

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1. Einleitung

Das Bild der Eurozonenwirtschaft, insbesondere auch in den hochverschuldeten Ländern, präsentiert sich nach Einschätzung der Europäischen Kommission [1]positiv. Das Wirtschaftswachstum dürfte heuer 1,3 Prozent erreichen und im Jahr 2016 knapp 2 Prozent. Bei der hohen Arbeitslosenrate von über 11 Prozent kündigt sich eine langsame Trendwende an, und das durchschnittliche Budgetdefizit gemessen als Anteil am BIP wird etwas über 2 Prozent betragen. Alles in allem ein Szenario, das den Verfechtern des bisherigen ökonomischen Policy-Mix den Rücken stärken und Rufe nach einer radikalen wirtschaftspolitischen Neuorientierung zurückdrängen sollte.
Die im Februar 2015 neu ins Amt gekommene griechische Regierung hat mit ihren Forderungen  nach einem Ende der Austeritätspolitik, der Abschaffung der wirtschaftspolitischen Überwachung Griechenlands durch die „Troika“ und einem massiven Schuldennachlass durch Griechenlands (überwiegend staatliche) Gläubiger neuerlich eine heftige wirtschaftspolitische Diskussion angefacht. Dieser Policy-Brief nimmt diese Diskussion zum Anlass für einige grundsätzliche Überlegungen zur europäischen Wirtschaftspolitik und für konkrete Anregungen zur Überwindung der Krisenfolgen durch höheres Wirtschaftswachstum.

2. Wirtschaftspolitisches Dilemma der Eurozone

Die Europäische Union ist bekanntlich eine Konstruktion sui generis. Für einen Staatenbund sind viel zu viele – insbesondere wirtschaftliche – Bereiche vergemeinschaftet, für einen Bundesstaat viel zu wenige, man denke an das Minimalbudget der EU von rund 1 Prozent ihres Brutto-Inlandsprodukts, an die Außen- und Sicherheitspolitik, die Immigrationspolitik, die Energiepolitik. Erschwerend kommt für die europäische Wirtschaftspolitik hinzu, dass sie keinen einheitlichen Währungsraum darstellt. Vor allem besteht ein grundlegendes politisches Dilemma. Die Mitglieder des Europäischen Rats als wichtigstem Entscheidungsorgan werden national gewählt und fühlen sich daher im Zweifel mehr dem nationalen Elektorat verpflichtet als der europäischen Sache. Es verwundert daher immer, mit welcher Nonchalance sich internationale ÖkonomInnen über diese Tatsachen hinwegsetzen, wenn sie Vergleiche zwischen den USA, Japan und der EU bzw. der Eurozone (EZ) anstellen und daraus – politisch oft nicht umsetzbare – Empfehlungen für die europäische Wirtschaftspolitik ableiten.
Zwar hat die jüngste Krise eine erhebliche Vertiefung der europäischen Integration erzwungen, man denke an die zunehmende Einflussnahme Brüssels auf die nationale Wirtschafts- und Finanzpolitik der Eurostaaten im Rahmen der neuen Arrangements, wie z.B. „Sixpack“, Europäisches Semester, europäischer Stabilitätsmechanismus, Bankenunion; aber die noch immer erhebliche Souveränität und der weitgehend im nationalen Rahmen ablaufende demokratische Prozess in den Eurostaaten führt letztlich dazu, dass im Extremfall kein Land zur Einhaltung seiner wirtschafts- und finanzpolitischen Verpflichtungen gezwungen werden kann und daher ein Austritt aus der EZ nicht nur möglich sein, sondern auch in das politische Kalkül eingehen muss.
Zur langfristigen Absicherung der Währungsunion führt daher kein Weg an der Weiterentwicklung der EU, jedenfalls aber der EZ, zu einem Bundesstaat vorbei, so unrealistisch dies auch heute klingen mag.

3. Müßige Diskussion: Nachfrage ankurbeln oder Strukturreformen implementieren

Seit Jahren tobt ein Glaubenskrieg zwischen jenen („keynesianischen“) ÖkonomInnen und WirtschaftskommentatorInnen, die „neoliberale“ Wirtschaftspolitik strikt ablehnen und für eine weitere, auch kreditfinanzierte Nachfrageankurbelung eintreten, und jenen, für die Strukturreformen absolute Priorität haben. Sie fordern die Öffnung geschützter Märkte, Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, Reduktion der Zahl der öffentlichen Bediensteten bei gleichzeitiger Effizienzsteigerung der öffentlichen Verwaltung, Entbürokratisierung, Privatisierung, ein effektives Steuersystem, ein finanziell abgesichertes und effizientes Sozialsystem, u.s.w.
Tatsächlich blieb diese Diskussion weitgehend fruchtlos, weil die Realität missachtend. Einerseits ist angesichts der noch immer bestehenden Labilität des Banken- und Finanzsystems der Eurozone und der Gefahr eines neuerlichen Vertrauensverlusts der Finanzmärkte eine glaubhafte Fortführung der in verbindliche Regeln gefassten Konsolidierungspolitik unverzichtbar. Andererseits bereiten stark schrumpfende Wirtschaften mit hohen Arbeitslosenraten den Boden auf für eine politische Destabilisierung einzelner Länder und längerfristig des gesamten Integrationsgefüges. Europa benötigt daher beides, Strukturreformen und Wachstum. Es ist keine Frage des ob, sondern des wie [2].
Im Lichte der oben beschriebenen unbefriedigenden Governancestruktur der EU und der EZ müssen Forderungen an Deutschland und andere Euroländer, höhere Budgetdefizite und Lohnabschlüsse (die übrigens der Tarifautonomie der Sozialpartner unterliegen) zuzulassen und sich stärker an gemeinschaftlichen Finanzierungen zu beteiligen, an den innenpolitischen Gegebenheiten scheitern. Aber auch die ökonomische Rationalität einer solchen Politik ist in Frage zu stellen. Höhere Lohnsteigerungen über die Produktivitätsentwicklung hinaus mögen kurzfristig als Stütze der Konsumnachfrage hilfreich sein. Längerfristig schwächen sie die globale Konkurrenzfähigkeit Europas und reduzieren damit das Wachstumspotential und die Chancen, die im Vergleich zu Europa höhere Wirtschaftsdynamik anderer Weltregionen (China, Indien, USA) für Wachstum und Beschäftigungssteigerung in Europa zu nutzen.
Schließlich greift auch die Aufforderung an Euroländer mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen, diese zu reduzieren, zu kurz. Ziel sollte eher sein, dass diese  Länder in Zukunft einen erheblichen Teil ihrer Überschüsse in den Schuldnerländern langfristig und produktiv investieren. Das setzt allerdings voraus, dass in den Defizitländern attraktive Bedingungen für Auslandsinvestitionen geschaffen werden, was Strukturreformen und Modernisierungen erfordert, aber auch Marktdynamik.

4. Der überbewertete Fetisch „Investitionen“

Die einseitige Forderung nach mehr Beschäftigung schaffenden öffentlichen Investitionen übersieht die wahren Ursachen der europäischen Wachstumsschwäche. Es geht längst nicht mehr um öffentlichen Konsum oder öffentliche Investitionen, sondern um nachhaltige, Wachstum und Produktivität steigernde („investive“) Ausgaben. Wenn diese auch kurzfristig positive Wachstums- und Beschäftigungswirkungen zeitigen, umso besser. Die modernen Wachstumstreiber sind nicht mehr (meist arbeitsextensive) Autobahn- und Tunnelprojekte, auch nicht Wohnbauten, sondern intelligente Netze, Digitalisierung, Bildung und Qualifikation, Forschung und Entwicklung, Innovation und Unternehmertum. Und meist ist es nur im Verein mit Strukturreformen, dass diese investiven Ausgaben ihre volle Wirkung entfalten können. Man nehme ein österreichisches Beispiel: zusätzliche Ausgaben für die bessere Ausbildung von LehrerInnen und SchülerInnen fallen überwiegend in das Kapitel öffentlicher Konsum, und sie würden ohne gleichzeitige Reform des Bildungssystems wohl weitgehend wirkungslos verpuffen.
Die schwache wirtschaftliche Performance der letzten Jahre war nicht nur Ergebnis der notwendigen Austeritätspolitik, sondern auch von Einsparungen am falschen Platz, nämlich dort, wo die politischen Widerstände am geringsten waren. Und es sind vielfach investive Zukunftsausgaben, die keine starke politische Lobby hinter sich haben bzw. wegen der damit verbundenen Strukturreformen auf Widerstand einflussreicher Interessensgruppen stoßen. Das einfache ökonomische Kalkül: investive Ausgaben steigern und mit Strukturreformen verzahnen, wurde in der politischen Realität allerdings teilweise pervertiert, sodass z.B. in Griechenland eine große Zahl von BürgerInnen ihre Krankenversicherung verlieren konnten, während von den Regierungen auf zusätzliche Einnahmen durch die Verschleppung von Steuerreform, Privatisierungen und anderen Strukturmaßnahmen verzichtet wurde.

5. Notenbankpolitik und Finanzierung

Die Europäische Zentralbank (EZB), die in den vergangenen Jahren das Bankensystem der EZ großzügig und zu Kosten nahe bei null mit Liquidität versorgt hat, hat im Jänner 2015 zu ihrer letzten Waffe gegriffen, dem Quantitative Easing (QE), sprich, dem massiven Ankauf von vor allem staatlichen Anleihen auf dem Sekundärmarkt ab März 2015. Gründe für diesen Schritt, den vorher bereits die Notenbanken Japans, Großbritanniens und der USA getan hatten, sind einerseits von der EZB ausgemachte Deflationstendenzen, andererseits die nach wie vor zögerliche Kreditvergabe an den Privatsektor. Inwieweit in der Eurozone eine echte Deflationsgefahr besteht, bleibt umstritten. Tatsache ist, dass die EZ-Teuerung deutlich unter der von der EZB angestrebten Marke von 2 Prozent liegt, allerdings wesentlich durch die sinkenden Rohölpreise beeinflusst ist. Umstritten ist auch, ob sich durch die Geldflutung der EZB die Nachfrage mit preissteigender Wirkung beleben wird. Jedenfalls wird sich der Euro-Kurs weiter abschwächen, wodurch über steigende Importpreise Inflationsdruck entsteht.
QE wurde von den Finanzmärkten sehr positiv aufgenommen. Vor übertriebenem Optimismus ist allerdings zu warnen, denn das bessere wirtschaftliche Abschneiden der USA der lockereren Geldpolitik der FED zuzuschreiben, stellt eine unzulässige Vereinfachung dar. Tatsächlich sind es die im Gegensatz zur EZ durchwegs positiven angebotsseitigen Rahmenbedingungen in den USA, die die geldpolitischen Maßnahmen zu einem Erfolg werden haben lassen. Als Stichworte seien angeführt: weit verbreitete unternehmerische Gesinnung, weniger bürokratische Behinderung der Wirtschaft, attraktive Weltwährung USD, dank kräftigen Kapitalzustroms problemlose Finanzierung einer hohen Staatsschuld, eine rasche Bereinigung gestresster Bankbilanzen, zahlreiche Bankenschließungen, geringere Abhängigkeit von Bankkrediten, weltbestes Unternehmensfinanzierungssystem über den Kapitalmarkt, von seed money und venture capital bis zu Großanleihen und Börsefinanzierungen, Spitzenuniversitäten, Brain Gain, technologische Aufgeschlossenheit und Innovationsbereitschaft, militärischer Komplex als Innovationstreiber etc. Hier hat Europa großen Nachholbedarf.
Was die zu geringe Kreditausreichung an die Realwirtschaft durch den Bankensektor betrifft, bleibt die Frage offen, ob die Probleme mehr auf der Angebotsseite (Basel III, Abbau risikobehafteter Aktiva), oder der Nachfrageseite (Konjunkturschwäche, Überschuldung) liegen. Ob durch QE die Kreditpolitik der Banken positiv beeinflusst wird, scheint zweifelhaft. Daher bedarf es in Europa Maßnahmen, die Unternehmensfinanzierung über den Kapitalmarkt zu erleichtern [3]. Dazu zählen die Vereinheitlichung des noch immer durch unterschiedliche nationale Regulierungen zersplitterten europäischen Kapitalmarkts, die verstärkte Nutzung von Asset Backed Securities (Kreditverbriefungen), um auch Klein- und Mittelbetrieben einen zumindest indirekten Zugang zu den Kapitalmärkten zu verschaffen, eine stärkere Öffnung der Investitionen in Venture Capital für institutionelle Anleger (z.B. Pensionsfonds), verstärkte Nutzung von Private-Public-Partnerships, etc.
Auf EU-Ebene sollten Mittel für eine Wachstumsoffensive mobilisiert werden, wie dies mit dem von Präsident Juncker angestoßenen Europäischen Fonds für strategische Investitionen im Umfang von 315 Mrd. Euro unter massiver Involvierung der Europäischen Investitionsbank (EIB) geplant ist. Brach liegende EU-Mittel (Strukturfonds, Jugendarbeitslosigkeitsfonds) sollten rasch zum Einsatz kommen und die 2013 deutlich erhöhte Kredit- und Garantievergabekapazität der EIB voll genutzt werden. Bei aller Skepsis gegenüber Eurobonds zur gemeinschaftlichen Finanzierung von Staatsschulden scheint es vertretbar, dieses Instrument zur Ermöglichung strategischer und zugleich risikoarmer, weil sich aus Nutzungsentgelten selbst finanzierender europäischer Infrastrukturvorhaben (etwa smarte Energie- und IT- Netze) einzusetzen, zumal die Finanzierungskosten gegenwärtig wohl einen Tiefpunkt erreicht haben.

6. Für eine neue Industriepolitik

Europäische Länder mit einer starken Industriebasis haben die Krise der letzten Jahre besser gemeistert als andere. Dabei geht es nicht nur um die Industrie im engeren Sinn, sondern um den „servoindustriellen“ Komplex, der die ganze industrielle Wertschöpfungskette mit allen Zuliefer- und Vorleistungsbeziehungen umfasst und dessen Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung und Beschäftigung etwa doppelt so groß ist wie der als „Industrie“ statistisch erfasste Sektor. Die Industrie ist der innovativste und internationalisierteste Wirtschaftsbereich mit hohen Produktivitätssteigerungen; sie stellt den Motor des Wirtschaftswachstums dar [4].
Eine neue Industriepolitik [5] mit dem Ziel, bis zum Ende des Jahrzehnts in der EU den Industrieanteil von derzeit rund 15 auf 20 Prozent des BIP anzuheben, ist eine der sieben Flagship Initiativen der Europäischen Kommission im Rahmen des Programms „Europe 2020“. Das Ziel, die globale Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts Europa nachhaltig zu verbessern, ist allerdings eine Querschnittsmaterie und muss daher auf EU-Ebene in allen relevanten Politikbereichen entsprechend verankert und durch konkrete Maßnahmen implementiert werden.
Neben mehreren Programmen für bestimmte Industriebereiche auf Basis gemeinsamer Plattformen von Industrie und öffentlicher Hand sind folgende Handlungsfelder vorrangig: Der digitale Binnenmarkt, den die vergangene Europäische Kommission nicht mehr in die Wege leiten konnte, muss rasch verwirklicht werden. Dabei geht es darum, die durch nationale Grenzen bedingte Zersplitterung des Marktes zu beseitigen, den Zugang zu schnellem Internet durch Breitband- und Mobiltechnologie flächendeckend zu eröffnen und die Entwicklung von europäischen Diensteanbietern globalen Formats zu fördern. Leistungsfähige Internetverbindungen sind auch die Voraussetzung für die erfolgreiche Bewältigung der nächsten industriellen Revolution „Industrie 4.0“. Dabei geht es um die digitale Vernetzung der industriellen Wertschöpfungsketten und die elektronische Kommunikation zwischen allen Elementen dieser Kette („Internet of the Things“). Europa muss auch wieder die Terrainverluste gegenüber US-amerikanischen und chinesischen Anbietern von Informations- und Kommunikationstechnologien wettmachen, nicht zuletzt auch aus Sicherheitsgründen. Ganz allgemein sollte das Gewicht der europäischen Wettbewerbsregulierung zu Gunsten der Entstehung global wettbewerbsfähiger europäischer Unternehmen zurückgenommen werden.
Handlungsbedarf besteht auch im Energiebereich [6]. Auch hier gilt es, den erst in Ansätzen funktionierenden Energiebinnenmarkt zu entwickeln, die grenzüberschreitenden Übertragungsnetze auszubauen und die Regulierungssysteme und Marktbedingungen, etwa bei der Förderung erneuerbarer Energie, zu vereinheitlichen. Ziel müssen international wettbewerbsfähige Energiepreise und ein hoher Grad an Versorgungssicherheit sein. Mehr europäische Unternehmen müssen globale Innovationsführer werden, denn diese bestimmen die zukünftigen technischen Normen und Standards, was einen erheblichen Wettbewerbsvorteil darstellt.
Die Europäische Union hat noch weitere aktivierbare Wachstumsreserven, etwa die Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Einerseits könnten erhebliche Mittel aus den Verteidigungsetats eingespart und in anderen Bereichen produktiver eingesetzt werden, andererseits könnte ein gemeinsamer, koordinierter Militärkomplex ähnlich wie in den USA Innovations- und Wachstumsimpulse auslösen. Last but not least würde die weitere Marktöffnung gegenüber den USA im Rahmen eines TTIP-Abkommens  zusätzliches Wachstum generieren.

7. Conclusio

Die an den Beginn dieses Policy Briefs gestellte Frage kann getrost mit „nein“ beantwortet werden. Statt mit zusätzlichen Schulden wenig nachhaltige Wachstumsimpulse zu finanzieren und das mühsam wieder errungene Vertrauen der Finanzmärkte zu gefährden, sollte die geschwächte globale Wettbewerbsfähigkeit Europas wieder hergestellt, die Stabilität des Bankensystems erhöht und das erhebliche Potential an brach liegenden Wachstumstreibern aktiviert werden. Das würde zum Aufbau von Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft beitragen und die private Investitionsbereitschaft erhöhen.
Eine solche nachhaltige Wachstums- und Beschäftigungsstrategie, wie sie ja in „Europe 2020“ schon angelegt ist, darf nicht zu einer bürokratischen Übung verkommen, sondern müsste  im Rahmen einer EU-weiten Kraftanstrengung zu dem europäischen Projekt schlechthin werden, mit dem sich die BürgerInnen identifizieren und für das sie sich einzusetzen bereit sind. [7]

1) European Commission, European Economic Forecast, Winter 2015
2) J-C Juncker, A New Start for Europe, My Agenda for Jobs, Growth, Fairness and Democratic Change, October 2014
3) 50 Years of Money and Finance, Lessons and Challenges, SUERF 2013
4) Industriepolitik für einen modernen Standort, Wirtschaftskammer Österreich, 2013
5) Communication from the European Commission, For a European Industrial Renaissance, COM /2014014 final
6) Von der europäischen Energiegemeinschaft zu Energieunion, Jacques Delors Institut, Berlin 2015
7) G. Ricard-Nihoul, G. von Sydow, From Institutional Reform to Mass Politics or How to Engage Citizens in the Union of Lisbon, The Contribution of 14 European Think Tanks, Notre Europe 2009

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Fürst, E. (2015). Braucht Europa einen radikalen Kurswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik? ÖGfE Policy Brief, 11’2015

Dr. Erhard Fürst

Dr. Erhard Fürst war beigeordneter Direktor des Instituts für Höhere Studien, Leiter der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Creditanstalt und zuletzt Leiter des Bereichs Wirtschaft und Industriepolitik der Industriellenvereinigung.