Offenes Zeitfenster für strategische Politik muss jetzt genutzt werden Handlungsempfehlungen
- Die Europäische Wirtschaftspolitik hat heute drei Aufgaben: erstens die Entwicklung Europas zu stabilisieren, zweitens die zögerliche Erholung zu unterstützen und drittens langfristige Strategien auch bei knappen Budgets zu verfolgen.
- Prioritäten sollten neu geordnet werden: Forschungs- und Beschäftigungsziele, Verringerung von Armut und Einkommensdifferenzen sowie längerfristige Klimaziele dürfen nicht hinter Budgetziele zurückgestellt werden.
- Die Vorgaben der EU-Kommission für die nationalen Reformprogramme der Länder für 2014 müssten stärker zukunftsgerichtet formuliert werden. Die anspringende Konjunktur sollte genutzt werden, die Kluft zu den Europa 2020 Zielen zu schließen und mit Investitionen in ein innovatives, soziales und ökologisches Europa die wirtschaftliche Erholung zu stützen.
Zusammenfassung
Positive ökonomische Entwicklungen geben Europa neue Hoffnung: 2014 sollte deswegen zu einem Kurswechsel genutzt werden, weg von der hastigen Krisenreparatur hin zu einer Vorwärtsstrategie für ein dynamisches Europa mit geringerer Arbeitslosigkeit und stärkerer Nachhaltigkeit. Das würde die Zustimmung zum Projekt Europa stärken. Europa darf diese Chance nicht ungenutzt lassen, auch wenn es durch den Abtritt der Kommission, durch die Wahlen und das Warten auf eine neue Führungsebene teilweise gelähmt ist.
Europas Wirtschaft erholt sich – wenn auch zögerlich. Budgetdefizite und Ungleichgewichte schrumpfen, Exporte wachsen selbst in Krisenländern, der Euro ist stabil. Der Fiskalpakt ist geschnürt, der europäische Stabilitätsfonds errichtet, die Bankenunion in Sicht. Die wirtschaftspolitischen Prioritäten des Jahreswachstumsberichtes, die die Politik der Länder für 2014 steuern sollten, umfassen allerdings dieselben Prioritäten wie bisher und vernachlässigen eine soziale und ökologische Neuorientierung der Wirtschaftspolitik.
Der Europäische Rat, der am 20./21. März zusammen tritt, hat noch die Chance, den Kurs zu ändern. Er sollte jedes Land auffordern, die Abweichungen von den selbstgesteckten Zielen für Beschäftigung, Armutsreduktion, Forschung und Energieeffizienz 2014 und 2015 um zumindest ein Viertel zu reduzieren. Wenn dies 2014 nicht begonnen wird, dann verfehlt Europa seine selbstgesteckten Ziele in wirtschaftlicher Dynamik, sozialem Ausgleich, Innovation und Nachhaltigkeit.
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Offenes Zeitfenster für strategische Politik muss jetzt genutzt werden
Einleitung und Aufbau
Die Konjunktur in Europa erholt sich langsam, nicht mit dem in einem Aufschwung üblichen Tempo, daher bleibt auch die Arbeitslosigkeit hoch. Der Europäische Rat am 20./21. März ist vor den Wahlen die letzte Chance, die konjunkturellen Kräfte zu stützen und die Nationalen Reformprogramme für 2014 in Richtung längerfristiger Ziele zu verändern. Wir stellen die Prioritäten, die die Kommission den Ländern dabei vorgeben will, in Relation zur Zwischenbilanz der EU 2020 Strategie (European Commission, 2010), die große Defizite bei wichtigen Zielen zeigt und diskutieren, wie die Europäische Politik auch in einem Wahljahr längerfristige Strategien verfolgen könnte.
2014 – ein Jahr neuer Hoffnung
- 2014 ist ein Jahr, in dem die Hoffnung in Europa zurückkehrt. Nach zwei Jahren Rückwärtsgang beginnt die europäische Wirtschaft wieder zu wachsen, wenn auch bisher noch in Trippelschritten. Selbst in den Krisenländern erholen sich die Exporte. Die Budgetdefizite sind in fünf Jahren von fast sieben auf 3,5 Prozent gesunken – bei allerdings hohem und in vielen Ländern noch steigendem Schuldenstand. Und die Arbeitslosigkeit verharrt bei elf Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit über 20 Prozent.
- Die besseren Konjunkturaussichten und die leichte Entspannung an der Budgetfront eröffnen die Chance zu einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel von der rückwärtsgewandten, hastigen Austerity zu einer Vorwärtsstrategie, die Wachstum und Beschäftigung in den Vordergrund rückt und auch die sozialen und ökologischen Ziele als Stärken Europas erkennt.
- Wir empfehlen dem Europäischen Rat, der am 20./21. März zusammen tritt, dringend, die Prioritätsfelder oder zumindest in den Empfehlungen innerhalb der fünf Prioritätsfelder noch zu schärfen und gerade das Jahr 2014 dazu zu nutzen, den Rückstand gegenüber den EU-2020-Zielen deutlich zu verringern.
- Ein genereller Leitsatz wäre, dass jedes Land in den nationalen Reformprogrammen 2014 darstellen soll, wie es in den Jahren 2014 und 2015 ein Viertel des derzeitigen Abstands zu den nationalen Zielen für 2020 schließen wird. Das und nur das würde erlauben, bis 2020 die restliche Lücke zu schließen.
- Zusätzlich sollen gezielte nationale Innovationen in ökologischen und sozialen Bereichen die Erholung stärken und einen Kurswechsel in Richtung Nachhaltigkeit und Verringerung der Armutsgefährdung einleiten.
Ernüchternde Zwischenbilanz für Strategie Europa 2020
Ein Blueprint für eine Vorwärtsstrategie liegt vor. „Europa 2020“ nennt drei Kernziele:
- intelligentes Wachstum (smart growth) aufbauend auf Ausbildung und Innovation
- ökologisches Wachstum mit Betonung von Energieeffizienz, erneuerbaren Ressourcen und Reduktion von Emissionen
- inklusives Wachstum, das Arbeitslosigkeit und Armut senkt
Die EU hat quantitative Ziele für Europa vorgegeben, die dann von den Ländern in „Nationale Ziele“ übersetzt wurden. Sie sollen spezifische Bedürfnisse und Gegebenheiten berücksichtigen und – von den Ländern selbst beschlossen – dann auch umgesetzt werden.
Die jüngste Überprüfung der Strategie (Europäische Kommission, 2014 B) bringt ernüchternde Ergebnisse:
- Das Ziel, die Beschäftigungsquote auf 75% zu heben, wird bei Fortschreibung der bisherigen Entwicklung verfehlt, heute liegt die Rate um 6,6 Punkte unter dem Zielwert. 16 Millionen zusätzliche Beschäftigung bis 2020 wären nötig. Deutschland und Österreich sind vorbildlich, weil sie das EU Ziel schon erreicht haben (und die selbst gesetzten nationalen Ziele erreichbar sind). Südeuropa, aber auch Kroatien, Ungarn und Rumänien erreichen auch die eigenen niedrigen Ziele bei weitem nicht.
- Die Forschungsausgaben sollen bis 2020 auf 3% der Wirtschaftsleistung steigen, in der Realität verharren sie bei 2,2%. Die Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa haben sich verstärkt. Österreich macht nach starkem Anstieg keinen wesentlichen Fortschritt mehr und ist von seinem Ziel von 3.76% weit entfernt. Im breiteren Innovationsranking ist es von Platz 6 auf 10 abgerutscht und liegt nur noch minimal über dem europäischen Durchschnitt (European Commission, 2014 A).
- Das Ziel, 20 Millionen Europäer aus der Armutsfalle zu befreien, scheint ebenfalls schwer erreichbar. Nach einer Reduktion von 124 Mio. auf 114 Mio. Personen bis 2009 stieg die Zahl der Armutsgefährdeten seither wieder auf 124 Mio. (2012). 96 Millionen wäre das Ziel, 28 Millionen weniger als heute.
- Nur auf den ersten Blick näher liegt die Zielerreichung bei der Energieeffizienz. Hier waren die Ziele sehr vorsichtig. Zum Anfangserfolg haben der Rückgang der Industriequote, die Stilllegung von Emissionsschleudern in Osteuropa und das verringerte Wachstum in und seit der Finanzkrise beigetragen. Selbst unter diesen Umständen bekennt die Kommission, dass „zusätzliche Anstrengungen“ zur Zielerreichung nötig sind. Und geht man von den Zielen der EU-Roadmap für 2050 (European Commission, 2011) aus, die Emissionen durch fossile Energieträger um 80% einzuschränken, so sind radikalere Maßnahmen gefragt. Ebenso sollte die Energieeffizienz stärker erhöht werden, um die niedrigeren Energiepreise in den USA auszugleichen.
Optionen zur Kurskorrektur
Einiges kann und muss die Gemeinschaftsebene dazu beitragen um Europa dynamischer, stabiler und nachhaltiger zu machen. Direkte Mitteln können aus dem EU Budget, Regional- und Strukturfonds, durch die Europäischen Investitionsbank fließen. Zwei WWWforEurope Policy Briefs über Europäische Governance (Aiginger et al., 2012 A) und Reformen in Südeuropa, sowie eine Studie über die Wettbewerbsfähigkeit Europas zeigen den Weg (Aiginger, Firgo, Huber, 2012 B). Der Europäische Schutzschirm und der Fiskalpakt waren wichtige Schritte, die Bankenunion, eine Finanztransaktionssteuer und eine Form gemeinsamer Schuldaufnahme wären die nächsten.
Eine Gelegenheit zur stärkeren Einbindung der Mitgliedsländer in eine Reformstrategie brächte das europäische Semester. Es dient dazu, die Politik der Mitgliedsländer stärker mit der europäischen Politik zu verzahnen und Politiksparten (Fiskalpolitik, Beschäftigungspolitik, Sozialpolitik, Umweltpolitik) miteinander zu verbinden. Zu diesem Zweck veröffentlicht die Kommission einen Jahreswachstumsbericht, der wirtschaftspolitische Prioritäten festlegt. Diese werden dann auf dem Europäischen Rat im März adaptiert und verbindlich beschlossen. Die Mitgliedsländer haben darauf aufbauend Nationale Reform- und Stabilitätsprogramme zu entwickeln.
Der Mechanismus ist klug konzipiert. Er könnte die Wirtschaftspolitik zwischen EU-Ebene und Ländern koordinieren und eine gesamteuropäische Wirtschaftspolitik forcieren – auch auf Gebieten, wo die EU vertragsmäßig keine Zuständigkeit hat. Gleichzeitig können nationale Unterschiede und Prioritäten („Ownership“) berücksichtigt werden.
Bericht der Kommission: Ignorierter Reformdruck, vernachlässigte Optionen
Der aktuelle Jahreswachstumsbericht (Europäische Kommission, 2013) der Grundlage für die Wirtschaftspolitik im Jahr 2014 sein soll, wird aber den Herausforderungen, die in der eher dramatischen Zwischenbilanz zur EU 2020 Strategie offenbar werden, in keiner Weise gerecht. Er ist ein lustloses Produkt einer Kommission, die schon im Abtreten ist, und schreibt fast unverändert die Prioritäten des Vorjahres fort.
Er nimmt weder die steigenden Notwendigkeiten von Politikveränderungen (für Wirtschaftsdynamik, sozialen Zusammenhalt, ökologische Nachhaltigkeit) noch die zunehmende Entfernung der Länder von mittelfristigen Zielen (2020 Zielen, Energie Roadmap) zur Kenntnis.
Die fünf Prioritätsfelder sind exakt dieselben sind wie im Vorjahr:
- Inangriffnahme einer differenzierten, wachstumsfreundlichen Haushaltskonsolidierung,
- Wiederherstellung einer normalen Kreditvergabe an die Wirtschaft,
- Förderung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit für heute und die Zukunft,
- Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Bewältigung der sozialen Folge der Krise,
- Modernisierung der Verwaltungen.
Ein Prioritätsfeld für Nachhaltigkeit fehlt völlig, einzelne Maßnahmen wie effiziente Förderung von Alternativenergien klingen eher nach Abbau der Förderungen denn als Aufforderung, den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen.
Die Länder werden nicht aufgefordert, Spielraum für Aktivmaßnahmen durch gezielte Einsparungen zu schaffen, etwa durch (i) Abschaffung der Subventionen auf fossile Energie und Atomenergie, (ii) Fokussierung der Agrarförderung auf neue Arbeitsplätze und biologische Produkte oder (iii) Nutzung des Einsparungspotential durch starke Zusammenarbeit im militärischen Bereich (laut Schätzung zwischen 30 und 120 Mrd.).
Strukturverschiebungen im Steuersystem werden nicht konkret angesprochen wie z.B.
- Erhöhung von Steuern auf Erbschaften, Emissionen und Grundbesitz zur Reduktion der Steuern auf Arbeit (besonders bei niedrigen Einkommen) und für Klein- und Mittelbetriebe
- Schließen von Steuerschlupflöchern, Steuerhinterziehung und Steuerflucht, Besteuerung von Spekulationen zur Reduktion der Steuersätze für die Realwirtschaft
Vorschläge an den Europäischen Rat zu Ergänzungen der Prioritäten
Mit diesem Bericht als Basis wird es unmöglich, jene Dynamik zu erzeugen, die nach einer schwierigen Phase wirtschaftlicher Stagnation und hoher Verschuldung Europa wieder auf jenen Pfad zurückführt, der in der EU-2020-Strategie angesprochen ist.
Im Detail wären folgende Punkte wichtig:
- Arbeitslosigkeit und sozialer Zusammenhalt: Es sollte spezifiziert werden, welche Maßnahmen zur Reduktion der Jugend- und der Langzeitarbeitslosigkeit Vorrang haben und welche Finanzierung dafür schon im Jahr 2014 zur Verfügung steht. Aktive Arbeitsmarktpolitik, ein Lehrlingssystem, Migration von Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit zu solchen mit Arbeitskräfte-Knappheit (am besten mit Rückkehr d. h. zirkuläre Migration) sollten Priorität haben. Das Problem der steigenden Einkommensungleichheit wird kaum angesprochen (obwohl sie Konsumnachfrage und dadurch die Erholung dämpft), ebenso wenig, welche Nachfragekomponenten das Wachstum erhöhen sollen, wenn Unternehmen Nettogläubiger bleiben.
- Governance und Koordination: „Reformkontrakte“ zwischen Ländern und Kommission sollten näher spezifiziert werden: Das betrifft den Kostenbeitrag der EU, und die Spezifikation der Politikbereiche, die sie betreffen können. Sie werden heute von einigen Mitgliedstaaten skeptisch betrachtet, weil sie als neue Form von restriktiver Politik oder Lohnsenkung bei niedrigen Einkommen gesehen werden. Es sollte klar gemacht werden, dass „Reformen“ auch und besonders Ausbildung, Kinderbetreuung, Industriecluster, soziale Innovation, Prävention im Gesundheitsbereich und Genderausgleich umfassen können und damit eine aktive Länderstrategie unterstützen.
- Wettbewerbsfähigkeit: Hier sollte eine “high road competitiveness“ angestrebt werden. Wettbewerbsfähigkeit soll durch Qualifikation und Innovation (inkl. sozialer und ökologischer Innovationen) erreicht werden, nicht primär durch niedrige Kosten. Es ist wichtig, Konkurrenzfähigkeit an den Zielen der Gesellschaft zu messen. Im Forschungsprojekt „Welfare, Wealth and Work for Europe“ wird Wettbewerbsfähigkeit als „Fähigkeit einer Wirtschaft, Beyond-GDP-Ziele zu erreichen“ definiert (vgl. Aiginger et al. 2013). Niedrige Preise und Einkommen sind keine Priorität, da sie in der Regel auch die Wohlfahrt senken.
- Klima- und Energieziele: Das europäische Semester sollte Klima- und Energieziele als eigenes Prioritätsfeld definieren, wenn es alle relevanten Politiksparten zusammenfassen will. Im Zentrum der derzeitigen Empfehlungen – verstreut in „anderen“ Prioritätsfeldern – steht nicht die stärkere Nutzung erneuerbarer Energie, sondern die Kosteneffizienz. Selbstverständlich gibt es Effizienzprobleme, aber nicht nur bei erneuerbarer Energie, sondern besonders der weiterhin hohen Förderung für fossile Brennstoffe. Jedes Land soll einen zusätzlichen Beitrag zu höherer Energieeffizienz, Erhöhung des Anteiles der erneuerbaren Energie bzw. kohlenstoffarme Technologien anstreben. Die Subventionen für fossile Energien sollen auslaufen, das entlastet das Budget und macht alternative Technologien attraktiver. Für den Ausbau des öffentlichen Verkehrs und den Umstieg auf kohlenstoffarme Fahrzeuge sollten nationale Ziele im europäischen Semester verlangt werden. Energiestandards für Wohnungen und Büros sollen verschärft werden. Sie würden die großen Anstrengungen, die die Roadmap bis 2050 fordert, frühzeitig unterstützen und Exporterfolge ermöglichen.
- Europas Innovationskraft leidet unter den geringen Forschungsaufgaben, dem Fehlen von Spitzenuniversitäten und Venture Capital. Statt diese Ausgaben auch in schwierigen Budgetzeiten zu erhöhen, wird die Leitlinie ausgegeben, die Ausgaben „abzusichern“. So kann weder das Forschungsziel von 3% erreicht werden, noch eine stärker Dynamik durch soziale und ökologische Innovationen ausgelöst werden.
ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen, der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Aiginger, K., (2014). Auch im europäischen Wahljahr sind Reformen möglich. Offenes Zeitfenster für strategische Politik muss jetzt genutzt werden. Wien. ÖGfE Policy Brief, 4’2014