Handlungsempfehlungen
- Verkürzung der gesetzlichen Wochenarbeitszeit in Österreich auf 35 Stunden pro Woche zur Bekämpfung der steigenden Arbeitslosigkeit
- Einführung des Rechts auf kurze Vollzeit im Umfang von 30 Stunden pro Woche für Mütter und Väter mit Kindern bis 12 Jahren und Ausweitung der Gestaltungsmöglichkeiten der Lebensarbeitszeit durch Rechte auf Auszeiten im Erwerbsverlauf auf europäischer Ebene
- Harmonisierung der Löhne und Arbeitszeiten sowie Aufnahme der koordinierten Verkürzung der Arbeitszeit in die Zielsetzungen der Europäischen Union und in die Verfahren der European Economic Governance
Zusammenfassung
Die hohe und teilweise weiter steigende Arbeitslosigkeit in vielen Mitgliedstaaten braucht eine glaubwürdigere politische Antwort als die Hoffnung auf eine Rückkehr des Wirtschaftswachstums. Die schrittweise Arbeitszeitverkürzung wurde bereits mehrere Jahrzehnte ausgesetzt, obwohl die Produktivität weiter gestiegen ist. Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt, aber auch vielfältiger gesellschaftlicher Herausforderungen, wie der Sicherung der Gesundheit oder der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, kann nicht länger auf Arbeitszeitverkürzungen verzichtet werden. Auch gilt es angesichts des geringen Wirtschaftswachstums und der ökologischen Krise den materiellen Wohlstand durch Zeitwohlstand zu ergänzen.
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Arbeitszeitverkürzung als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen in Österreich und Europa
Die von der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 ausgelöste Wirtschaftskrise ist in Europa auch heute noch nicht überwunden. In 11 Mitgliedsstaaten – von Griechenland, Spanien und Italien bis zu Irland und dem Vereinigten Königreich – lag das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2014 noch immer unter dem des Jahres 2007[1]. Die Rettung der Banken durch die Nationalstaaten ließ die Staatsverschuldung stark ansteigen. Darauf reagierten die Mitgliedstaaten der EU nach einer kurzen Phase mit konjunkturbelebenden Maßnahmen mit Sparpolitik. Diese Austeritätspolitik vertiefte die durch die Finanzkrise und die Ungleichgewichte in der Eurozone verursachten volkswirtschaftlichen Problemlagen in den meisten Ländern erheblich[2]. Im Juni 2015 lag die Arbeitslosenrate in der Europäischen Union im Durchschnitt bei 9,9%, in der Eurozone bei 11,1%. Griechenland weist im siebten Krisenjahr nicht zuletzt wegen der verfehlten Politik im Zusammenhang mit den Auflagen für die Finanzhilfen eine Arbeitslosigkeit von 25,6% auf, Spanien eine Arbeitslosenrate von 22.5% [3].
Hohe Arbeitslosigkeit
In Österreich erreichte die Registerquote im Jahresdurchschnitt 2014 8,4%, die Quote nach Eurostat 5,6%. Mit 395.000 Personen in Arbeitslosigkeit im Durchschnitt des Jahres 2014[4] (BMASK 2015), zu denen die versteckt Arbeitslosen noch dazu gerechnet werden müssten, hat die Erwerbslosigkeit in Österreich den höchsten Stand seit den frühen 1950er Jahren erreicht. Und die Tendenz ist weiter steigend. Dagegen ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland seit 2010 wegen des schrumpfenden Arbeitskräfteangebots und des Exportbooms zurückgegangen.
Wachstumsraten, die geeignet wären, die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu senken, sind in den nächsten Jahren nicht in Sicht und wohl auch längerfristig in Europa nicht zu erwarten. Daher drängt sich die Frage nach einer adäquaten Verteilung der Erwerbsarbeit auf.
Es ist offensichtlich, dass die hohe Arbeitslosigkeit und die durch sie ausgelösten sozialen und humanitären Problemlagen einer entschlossenen politischen Antwort bedürfen. Denn Arbeitslosigkeit verursacht erhebliches menschliches Leid und hohe soziale Kosten durch Transferleistungen aber auch wegen der durch sie verursachten Gesundheitsprobleme. Wachstumsraten, die geeignet wären, die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu senken, sind in den nächsten Jahren nicht in Sicht und wohl auch längerfristig in Europa nicht zu erwarten. Zudem wird angesichts der ökologischen Krise davor gewarnt, zu ressourcenintensivem und emissionssteigerndem Wachstum zurückkehren zu wollen. In Österreich stieg zudem im Unterschied zu Deutschland das Arbeitskräfteangebot in den letzten Jahren an. Die Immigration, nicht zuletzt die Ankunft von Menschen, die sich auf der Flucht befinden, lässt ein weiteres Ansteigen des Arbeitskräfteangebots erwarten[5]. Die Europäische Union fördert die Mobilität insbesondere von jungen Menschen – dies setzt allerdings die Aufnahmefähigkeit der Arbeitsmärkte in den Mitgliedsstaaten voraus.
Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage nach einer adäquaten Verteilung der Erwerbsarbeit auf. Viele europäische Staaten setzten in Reaktion auf die Finanzkrise von 2008 Maßnahmen, um die Auswirkungen der dadurch ausgelösten tiefsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren auf den Arbeitsmarkt in Grenzen zu halten. Neben konjunkturfördernden Initiativen im Sinne einer keynesianischen Politik ging es dabei insbesondere um die Frage der Verteilung des geschrumpften Arbeitsvolumens. Bestehende Konzepte und rechtliche Regelungen für Kurzarbeit wurden aktualisiert und ausgeweitet[6]. Auf dieser Grundlage waren in Deutschland im Mai 2009 über 1,4 Millionen Beschäftigte in 60.000 Betrieben in Kurzarbeit.[7] In Österreich erreichte die Beteiligung an Kurzarbeit im April 2009 mit über 37.000 Personen ihren Höhepunkt.[8] Laut Schätzungen des österreichischen Arbeitsministeriums wurden durch die Kurzarbeit insgesamt etwa 30.000 Arbeitsplätze gesichert. Auch in anderen Ländern, etwa Belgien, den Niederlanden oder Frankreich, kamen Maßnahmen zur Umverteilung von Arbeit in der Krise erfolgreich zum Einsatz.[9] Mit ihnen wurden die Zahl der Kündigungen und damit der Anstieg der Arbeitslosigkeit eingedämmt, indem ganze Betriebe die Arbeitszeit befristet verkürzten und die öffentliche Hand einen Teil des Lohnverlusts ausglich.
Bessere Verteilung der Erwerbsarbeit
Angesichts der anhaltenden Krise des Arbeitsmarktes stellt sich auch heute die Frage, wie Erwerbsarbeit durch kürzere Arbeitszeiten besser verteilt werden kann. Dabei fällt auf, dass die schrittweisen Verkürzungen der Arbeitszeit im 19. und 20. Jahrhundert in Europa in den 1980er Jahren weitgehend ein vorläufiges Ende gefunden haben. Eine Ausnahme stellt Frankreich dar, wo die gesetzliche Wochenarbeitszeit im Jahr 2000 von 39 auf 35 Stunden verkürzt wurde, was nach einer mittleren Schätzung zur Schaffung von 350.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen geführt hat.[10] Zugleich kam die Regierung den Unternehmen entgegen und flexibilisierte die Arbeitszeit.
Falls die 35-Stunden-Woche die Wettbewerbsposition französischer Firmen beeinträchtigt haben sollte, ist weniger die Arbeitszeitverkürzung das Problem als vielmehr das Austragen des Wettbewerbs über die Arbeitszeiten und Löhne. Dies macht eine Harmonisierung der Lohn- und Arbeitszeitpolitik auf europäischer Ebene erforderlich.
Die nachfolgende konservative Regierung hob die Überstundenbegrenzung an, nahm die Gesetze zur 35-Stunden-Woche wegen deren Popularität aber nicht offen zurück. Die heutigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Frankreichs werden in der Arbeitszeitdiskussion gerne der 35-Stunden-Woche angelastet. Dies ist angesichts der inzwischen vergangenen Zeit nicht plausibel, in der die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Frankreich wieder angestiegen ist, die heute über jener wirtschaftlich erfolgreicher Mitgliedsstaaten wie Dänemark, Finnland oder Schweden liegt[11]. Und falls die 35-Stunden-Woche die Wettbewerbsposition französischer Firmen beeinträchtigt haben sollte, ist weniger die Arbeitszeitverkürzung das Problem als vielmehr das Austragen des Wettbewerbs über die Arbeitszeiten und Löhne, also letztlich das Sozialdumping innerhalb der Europäischen Union. Dies macht eine Harmonisierung der Lohn- und Arbeitszeitpolitik auf europäischer Ebene erforderlich.
Bei einem begrenzten Wirtschaftswachstum und gleichzeitig weiter steigender Produktivität reicht das Arbeitsvolumen offensichtlich nicht aus, um ausreichend Arbeitsplätze für das ebenfalls angewachsene Arbeitskräfteangebot zu bieten.
In Österreich war 1975 die gesetzliche 40-Stunden-Woche eingeführt worden. Darauf folgten in den 1980er Jahren und Anfang der 1990er Jahre kollektivvertragliche Verkürzungen der Wochenarbeitszeit auf 38,5 und in einigen wenigen Branchen auf 36 Stunden. Danach ist die Arbeitszeitverkürzung bis auf eine Verlängerung des Urlaubs gänzlich zum Stillstand gekommen. Die Einführung der 38,5-Stunden-Woche bei den ÖBB im Jahr 2013 stellt eine Ausnahme dar. Bei einem begrenzten Wirtschaftswachstum und gleichzeitig weiter steigender Produktivität reicht das Arbeitsvolumen offensichtlich nicht aus, um ausreichend Arbeitsplätze für das ebenfalls angewachsene Arbeitskräfteangebot zu bieten. Somit hat das Aussetzen der schrittweisen Verkürzung der Arbeitszeit zum Anstieg der Arbeitslosigkeit beigetragen. Ein weiterer Sprung der Produktivität ist durch den forcierten Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien in Industrie, Verwaltung und Dienstleistung zu erwarten. Zusammen mit der Ausweitung der Selbstbedienung kann entsprechend auch für die nächsten Jahre mit einem weiteren Verlust von Arbeitsplätzen z.B. im Handel und im Bankensektor, aber auch im öffentlichen Dienst gerechnet werden. Im Hinblick auf die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist es daher nicht mehr möglich, die Verkürzung der Arbeitszeit noch länger auszusetzen und damit auf eine Umverteilung des Arbeitsvolumens auf mehr Menschen zu verzichten.
Bei der konkreten Gestaltung von Maßnahmen zur Verkürzung der Arbeitszeit ist darauf zu achten, dass in Zeiten steigender Lebenshaltungskosten das Einkommen der Beschäftigten nicht reduziert wird. Eine Schwächung der Kaufkraft durch einen Einkommensverlust würde die beschäftigungsfördernde Wirkung der Arbeitszeitverkürzung durch einen Nachfrageausfall konterkarieren. Häufig wird die mögliche Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen gegen die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ins Treffen geführt. Die Arbeitskosten in der österreichischen Industrie liegen aber unter jenen in Deutschland und deutlich unter den Arbeitskosten in Ländern wie Norwegen, der Schweiz, Belgien, Schweden oder Dänemark[12]. Gerade Industriebranchen wären wenig betroffen. Zum einen haben einige bereits jetzt kürzere Wochenarbeitszeiten als 38,5 Stunden, zum anderen machen die Personalkosten wegen des meist hohen Mechanisierungs- und Automationsgrades nur einen geringen Anteil an den Gesamtkosten aus. Zudem hängt die Wettbewerbsfähigkeit nicht in erster Linie von den Arbeitskosten, sondern vielmehr von der Qualität der Produkte, den Innovationen, den Investitionen in neue Anlagen u.a. ab.
Wettbewerbsfähigkeit ist kein Gegenargument
Auch eine starke Erhöhung der Lohnkosten müsste die internationale Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Unternehmen gar nicht beeinträchtigen. Sie könnte ja bei gleichbleibenden Preisen die Gewinne schmälern, was ausschließlich Verteilungswirkungen entfalten würde. Und eine Reduktion der beträchtlichen Gewinnausschüttungen[13] wäre angesichts der hohen Ungleichheit in der Vermögensverteilung in Österreich[14] nicht unbedingt als Nachteil anzusehen. Zudem wirken steigende Arbeitskosten als „Produktivitätspeitsche“, haben also mittel- und langfristig den Effekt, die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Die österreichische Exportwirtschaft weist gegenwärtig ohnehin eine hohe Wettbewerbsfähigkeit auf. So attestiert die Europäische Kommission (2015:5) Österreich „einen soliden, wenngleich moderaten Außenhandelsüberschuss“ und betont, dass die österreichischen Exporteure ihr Produktivitätswachstum aufrechterhalten konnten. Es fehle eher an Investitionen[15].
Die Verkürzung der Arbeitszeit sollte auf europäischer Ebene koordiniert werden, auch um ein Sozialdumping in Form langer Arbeitszeiten zu unterbinden.
Umgekehrt stellen die wirtschaftlichen Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone derzeit eines der größten Probleme europäischer Politik dar. In diesem Zusammenhang wäre eine übermäßige Steigerung der Arbeitskosten in den „Überschussländern“ durchaus sinnvoll. Die Verkürzung der Arbeitszeit sollte deshalb auf europäischer Ebene koordiniert werden, auch um ein Sozialdumping in Form langer Arbeitszeiten zu unterbinden.
Wirtschaftliche Themen sollten jedoch bei einer Diskussion über Arbeitszeitverkürzung gar nicht im Vordergrund stehen. In den reichsten Ländern der Welt, zu denen Österreich zählt, wäre es höchst an der Zeit die gesellschaftlichen Herausforderungen in den Vordergrund zu rücken und die Frage zu stellen, wie ein gutes Leben für alle erreicht werden kann. Neben der Arbeitslosigkeit zählen die Sicherung der Gesundheit insbesondere in einer alternden Gesellschaft oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu den dringlichsten Anforderungen. Auch zur Erreichung dieser Ziele kann die Verkürzung der Arbeitszeit einen wichtigen Beitrag leisten.
Lange Arbeitszeit macht krank
Die Arbeitswelt ist ein überaus wichtiger Bereich, wenn es um die Sicherung der Gesundheit geht. Die Arbeitsbelastungen haben in Europa und in Österreich nicht in dem Maße abgenommen, wie man es sich angesichts der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung hätte erwarten können. Manche körperlichen Belastungen haben sogar zugenommen.[16] Besonders problematisch ist der Anstieg der psychischen Belastungen. Dazu tragen hoher Zeitdruck, gestiegene Lernanforderungen, Schwierigkeiten im Umgang mit Kolleg/inn/en, Vorgesetzten und Kund/inn/en sowie gestiegene Arbeitsplatzunsicherheit bei. Insbesondere was die Intensität der Arbeit betrifft, ist die Erwerbstätigkeit von heute nicht mit der von vor 30 Jahren zu vergleichen. Schon das legt eine Verkürzung der Arbeitszeit nahe.
Zwischen der Dauer der Arbeitszeit und gesundheitlichen Beeinträchtigungen gibt es einen eindeutigen Zusammenhang: Mit steigender täglicher und wöchentlicher Arbeitszeit nehmen Unfallrisiken und körperliche Beschwerden zu. Das ist ab der 7. Stunde pro Tag der Fall und im Hinblick auf die Wochenarbeitszeit sowohl bei Annäherung an die bzw. Überschreiten der Teilzeit-, als auch der Vollzeitgrenzen.[17] Eine Verkürzung der Arbeitszeit ist aus gesundheitlichen Gründen sinnvoll, weil Arbeitskräfte dadurch den mit der Arbeit verbundenen Belastungen kürzer ausgesetzt sind und ihnen mehr Zeit für die Erholung bleibt.
Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Was die Vereinbarkeit von Beruf und Familie betrifft, ließe eine generelle Verkürzung der Wochenarbeitszeit den Beschäftigten mehr Zeit für ihre familiären Verpflichtungen. Das ist dringend erforderlich, weil die Anforderungen in diesem Bereich in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen sind[18]. Dies betrifft zum einen die höheren gesellschaftlichen Erwartungen an Mütter und Väter und zum anderen die Betreuung und Pflege alter Menschen im Haushalt bzw. in der Familie.
Gesundheit und Vereinbarkeit sind nicht die einzigen gesellschaftlichen Herausforderungen auf die mit einer Arbeitszeitverkürzung reagiert werden kann. Die Beschäftigten benötigen auch mehr Zeit für die Weiterbildung, sowie für politisches und zivilgesellschaftliches Engagement.
Die Probleme der Vereinbarkeit unterschiedlicher gesellschaftlicher Sphären werden derzeit den Individuen aufgebürdet. Aufgrund der hartnäckigen geschlechtlichen Arbeitsteilung sind insbesondere Frauen damit konfrontiert. In Österreich, Deutschland, den Niederlanden und weiteren europäischen Ländern versuchen Frauen mit familiären Verpflichtungen das Vereinbarkeitsproblem vor allem durch Teilzeitarbeit zu meistern. Dies hat trotz der rechtlichen Gleichstellung der Teilzeitarbeit in der EU für sie erhebliche Nachteile im Hinblick auf ihr Einkommen, ihre Aufstiegschancen und ihre Alterssicherung. Eine kürzere Vollzeitnorm könnte die lange Vollzeit der Männer und die in Ländern wie Österreich vergleichsweise kurze Teilzeit der Frauen ausgleichen und so die genannten Nachteile überwinden.
Weitere gesellschaftliche Herausforderungen
Gesundheit und Vereinbarkeit sind nicht die einzigen gesellschaftlichen Herausforderungen auf die mit einer Arbeitszeitverkürzung reagiert werden kann. Die Beschäftigten benötigen auch mehr Zeit für die Weiterbildung, zu der gerade die niedrig Qualifizierten kaum Zugang während der Arbeitszeit haben. Angesichts der gesellschaftlichen Umbruchprozesse und politischen Krisenerscheinungen in Europa benötigen die Bürger/innen auch mehr Zeit für politisches und zivilgesellschaftliches Engagement, wie sich derzeit an den sozialen Bewegungen in Südeuropa oder am Bedarf an Freiwilligenarbeit für Flüchtlinge besonders deutlich zeigt.
Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit ist nur eine Form der besseren Verteilung der Erwerbsarbeit und der Ermöglichung von mehr Freiräumen für andere Lebenssphären. Gegenstand der Arbeitszeitpolitik ist auch die Dauer des Erholungsurlaubs und die Verteilung der Lebensarbeitszeit. Insbesondere was Auszeiten aus der beruflichen Tätigkeiten betrifft, sind mit Eltern- und Bildungskarenz noch keineswegs alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Auszeiten ohne besondere Voraussetzung können der Sicherung der Gesundheit, der Verbesserung der Lebensqualität und der Verstärkung des sozialen Zusammenhalts in der Gesellschaft dienen[19].
Zeitwohlstand steigern
In einer demokratischen Gesellschaft sollten ständige Diskussionen auf breiter Basis darüber, wie die Bürger/innen leben wollen und wie sich die Gesellschaft entwickeln sollte, eigentlich selbstverständlich sein. Trotz des verbreiteten Wunsches nach einer Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit[20] und der offensichtlichen Beiträge, die verschiedene Formen der Arbeitszeitverkürzung zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten könnten, bleibt die Arbeitszeitverkürzung in Österreich wie in den meisten anderen EU-Ländern schon über Jahrzehnte ausgesetzt. Meist wird mit ökonomischen Argumenten versucht, schon eine Diskussion darüber einzudämmen. Das ist in einer demokratischen Gesellschaft bedenklich. Zudem lässt sich sehr klar zeigen, dass angesichts der hohen und wirtschaftlich und gesellschaftlich nachteiligen Ungleichheit ausreichend Verteilungsspielräume für eine Wiederaufnahme der Arbeitszeitverkürzungen bestehen. Mehr noch: In einer Postwachstumsgesellschaft kann der Schwerpunkt nicht mehr auf der Steigerung materiellen Wohlstands liegen. Vielmehr rückt der Zeitwohlstand in einer unter den Folgen der Beschleunigung und Verdichtung des Lebens leidenden Gesellschaft in den Mittelpunkt.
[1] http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&plugin=1&language=en&pcode=tec00001
[2] Blanchard, O./Leigh, D. (2013): Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers, IMF Working Paper WP/13/1; Lehndorff, Steffen (Hrsg.) (2014). Spaltende Integration. Hamburg: VSA.
[3] http://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Unemployment_statistics
[4] BMASK (2015): Wichtige Arbeitsmarktdaten, Jahresdurchschnitt 2014. http://www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/7/5/3/CH2128/CMS1430727048253/allgem_jahr.pdf
[5] http://www.parlament.gv.at/PAKT/EU/XXV/EU/05/80/EU_58054/imfname_10534599.pdf
[6] Flecker, Jörg, Schönauer, Annika (2013): European diversity in work sharing as a crisis measure. In: Messenger, Jon C. / Ghashoh, Naj (Eds.): Work sharing during the great recession – new developments and beyond. Geneva, 72-98.
[7] Bellmann, Lutz / Crimman, Andreas / Gerner Hans-Dieter / Wießner, Frank (2013): Work sharing as an alternative to layoffs – Lessons from the German experience during the crisis, in: Messenger, Jon C. / Ghashoh, Naj (Eds.): Work sharing during the great recession – new developments and beyond. Geneva, S. 24-71.
[8] BMASK (2010): Aktive Arbeitsmarktpolitik in Österreich 1994 – 2010.Wien.
[9] Flecker, Jörg / Schönauer, Annika (2010): Neue Politikfelder für eine Renaissance der Arbeitszeitpolitik. Eine Annäherung mit Hilfe internationaler Beispiele, in: Wirtschaft und Gesellschaft 36 (3), S. 349 – 374.
[10] http://www.insee.fr/fr/ffc/docs_ffc/es376377b.pdf
[11] http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&language=en&pcode=tps00071
[12] Schröder, Christoph (2014): Industrielle Arbeitskosten im internationalen Vergleich, IWD Nr. 49, Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
[13] Oberrauter, Markus (2015): Dividenden-Report. Ausschüttungspolitik der ATX-Konzerne, AK Wien.
[14] Eckerstorfer, Paul/Halak, Johannes/Kapeller, Jakob u.a. (2013): Vermögen in Österreich, Bericht, Johannes Kepler Universität Wien.
[15] http://www.parlament.gv.at/PAKT/EU/XXV/EU/05/80/EU_58054/imfname_10534599.pdf
[16] Eichmann, Hubert / Saupe, Bernhard (2014): Überblick über Arbeitsbeziehungen in Österreich. Follow-up-Studie, Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz. Wien, S. 183.
[17] Dittmar, Ole / Schomann, Carsten / Nachreiner, Friedhelm (2010): Gefährdungsbeurteilung anhand von Merkmalen der Arbeitszeit. In: 16. Workshop „Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit“ – Sicher bei der Arbeit und unterwegs – wirksame Ansätze und neue Wege. Kröning, S. 407–410. Sowie: Mayer, Beate (2013): Die gefährliche neunte Stunde. In: Sichere Arbeit. Internationales Fachmagazin für Prävention in der Arbeitswelt, (5), 22–25.
[18] Henry-Huthmacher/Borchard, Michael (Hg.) (2008): Eltern unter Druck: Selbstverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse von Eltern in verschiedenen Lebenswelten, Lucius&Lucius.
[19] Flecker / Schönauer (2010).
[20] Eurofound (2012): Fifth European Working conditions Survey, Luxembourg; IFES (2015): Kürzer arbeiten, leichter leben, Ergebnisse von Befragungen unter Angestellten zum Thema Arbeitszeit, Presseunterlage, 15.6.2015.
ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.
Zitation
Flecker, J. (2015). Arbeitszeitverkürzung als Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen in Österreich und Europa. ÖGfE Policy Brief, 29’2015