15 Jahre EU-Osterweiterung: aus Erfolg und Problemen lernen

Handlungsempfehlungen

  1. Osterweiterung und Transformation der früheren sozialistischen Staaten sind – bei allen Herausforderungen – ein Erfolgsmodell. Dies soll die EU zur Integration Südosteuropas ermutigen.
  2. Gegen Populismus, Nationalismus und Tendenzen zu „illiberaler Demokratie“ muss strategisch vorgegangen werden, um demokratische Prozesse im Osten wie auch im Westen zu verbessern, und wirtschaftlich, soziale und ökologische Ziele zu erreichen.
  3. Die EU braucht unter der nächsten Kommissionspräsidentin eine neue selbstbewusste und gut kommunizierte Strategie, intern und für eine führende Rolle in der Welt sowie zur Bekämpfung des Klimawandels.

Zusammenfassung

Die Osterweiterung der EU ist ein historischer Erfolgsprozess – wirtschaftlich, politisch und in der Festigung der Bedeutung Europas als eine im Welthandel führende Region. Die Analyse der aufgetretenen Probleme und des Verbesserungsbedarfs im Europäischen Einigungsprozess sind Voraussetzungen für Konfliktlösung sowie eine erfolgreiche Integration der Länder des Westbalkans.
Umfragen belegen, dass die Bevölkerung innerhalb der EU, nicht nur in Zentral- und Osteuropa, die europäische Einigung positiv beurteilt. Dennoch gibt es Unzufriedenheit die sehr ernst genommen werden muss, denn es besteht die Gefahr, dass Ost und West weiter auseinanderdriften. Vier Gründe werden hier für die Unzufriedenheit genannt: Erstens haben die zentral- und osteuropäischen Länder, die 2004 und 2007 beigetreten sind (EU-10), ein Emigrationsproblem. Zweitens wird die Entwicklung in Oststaaten als fremdbestimmt empfunden. Drittens kommen EU-Förderungen oft nicht bei den Menschen und in entlegenen Regionen an. Viertens gibt es Rückschläge bei der Verbesserung der Institutionen und in der Medienfreiheit, was zu neuer Machtkonzentration führt.
Da die Unzufriedenheit von populistischen und nationalistischen Regierungen benutzt wird, um ihre Macht auszubauen, und sie auch oft Verbündete in undemokratischen Regimen wie in Russland suchen, sind aktive Gegenstrategien notwendig. Dazu zählt die Korrektur des falschen, negativen Bildes der Entwicklung – die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Einkommen sind gestiegen, das Wohlfahrtsgefälle zu „Westeuropa“ ist geringer geworden. Es braucht aber auch eine Vision für die zukünftige Entwicklung eines dynamischen Europas, mit weniger Ungleichheit, mehr Nachhaltigkeit und Technologieführung. Die EU – als erfolgreiches Friedens- und Integrationsprojekt – muss auch dem Westbalkan eine konkrete Beitrittschance bieten. Die Integration Südosteuropas ist wiederum die Voraussetzung für eine neue geopolitische Rolle der EU.

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15 Jahre EU-Osterweiterung: aus Erfolg und Problemen lernen

Einleitung

Europa hat eine neue Kommissionspräsidentin. Sie kann mit steigendem  Interesse der BürgerInnen am Europaprojekt rechnen, wie die höhere Wahlbeteiligung bei der Europawahl gezeigt hat. Die Polarisierung im befürchteten Ausmaß ist ausgeblieben, die Parteien der Mitte haben gewonnen. Grüne und Liberale werden nun von den Mainstream-Parteien für eine Mehrheit gebraucht. Das Klimathema hat die Angst vor Immigration als wichtigstes Thema abgelöst. Dennoch fehlt der EU eine Strategie, und die Richtung, in die die Mitglieder steuern, geht auseinander.
Blickt man etwa nach Polen und Ungarn, Länder die hohe EU-Förderungen erhalten, wird der Wunsch nach alten Mustern, nie vorhandener Homogenität der Bevölkerung und „nationalen Entscheidungen“ von der Regierung gefördert. Dies geschieht teilweise mit dem expliziten Wunsch, das liberale Demokratiemodell wieder gegen eine autoritäre Führung auszuwechseln. Und das, obgleich heute, dreißig Jahre nach der Ostöffnung und 15 Jahre nach dem EU-Beitritt der ersten acht zentral- und osteuropäischen Länder am 1. Mai 2004, die Stimmung in der Bevölkerung im Grunde genommen positiv ist.
Dieser Policy Brief belegt das Tempo des Aufholprozesses der Länder in Zentral- und Osteuropa, eine Region die wir als EU-10[1] bezeichnen und zeigt auf, dass die Osterweiterung der EU ein großer ökonomischer und politischer Erfolg ist. Es wird das Konzept der „illiberalen Demokratie“ definiert, aber eine gewisse Zurückhaltung in der Kritik empfohlen, da auch Regierungssysteme in Ländern mit längerer Erfahrung als Demokratien keineswegs perfekt sind, wie Matteo Salvinis Popularität trotz Brandreden vom „Mussolini Balkon“ in Venedig oder Boris Johnsons Versuch das Parlament in einen Zwangsurlaub zu schicken, zeigen. Hier diskutieren wir zudem Strategien, wie die EU jene Länder, die zur illiberalen Regierungsform tendieren, zum liberal-demokratischen System zurückführen kann, u. a. durch eine mutige, gut kommunizierte EU-Strategie zur Verbesserung der Lebenschancen. Letzeres hat Ursula von der Leyen (2019) in ihrer Grundsatzrede skizziert. Mit dem Zurückdrängen von Populismus,  Nationalismus und einem klaren Bekenntnis zur Integration der Länder des Westbalkans kann Europa gemeinsam die Globalisierung mitgestalten, die heute zunehmend von China dominiert wird. Ein einzelnes, nach innen orientiertes Land hat dagegen keine Chance mitzuwirken.

Konsequenzen von Transformationen

Wo rascher Wandel erfolgt, entsteht Unzufriedenheit und Nostalgie, auch wenn die Veränderung langfristig für die überwiegende Mehrheit positiv ist.

Auch heute – dreißig Jahre nach der Ostöffnung und 15 Jahre nach dem Beitritt der ersten acht zentral- und osteuropäischen Länder am 1. Mai 2004 – ist die Stimmung im Grunde genommen positiv. Allen verfügbaren Umfragen (ÖGfE, Eurobarometer, GLOBSEC) zufolge will kein Land austreten bzw. den Beitritt rückgängig machen. Auch die Frage, ob die BürgerInnen die EU grundsätzlich positiv sehen, wird von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung bejaht. Relativ euroskeptisch ist die Tschechische Republik, interessanterweise liefert Polen die zweitpositivste Einschätzung – wohl, weil der EU-Beitritt Polen zu einem festen Mitglied des „Westens“ gemacht hat. Auch die ungarische Bevölkerung würde bei einer Volksabstimmung mit rund 75 % für den Verbleib in der EU stimmen (GLOBSEC 2019). Dennoch steigen die Spannungen zwischen einzelnen Regierungen der EU-10 und „Westeuropa“, Entscheidungen werden nicht mitgetragen, eine Blockbildung zeichnet sich ab.
Die Geschichte lehrt auch, dass große Veränderungen nie linear erfolgen, sondern einmal schneller, einmal langsamer. Und auch wenn sie langfristig für alle Vorteile bringen, gibt es kurzfristige Gewinner und Verlierer. Auch bei der Transformation der früheren sozialistischen Staaten zur Marktwirtschaft sind Regionen, Altersgruppen und Berufe nicht gleichermaßen betroffen; die Einkommensverteilung wurde gespreizt, die Rolle der Frauen ändert sich, weil ihre Erwerbsbeteiligung nicht gesichert ist. Privilegierte Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie und in den parteinahen Institutionen gingen verloren. Das Tempo der Annäherung an westliche Einkommen ist daher  hinsichtlich der Regionen und auch nach Branchen, Altersklassen und Qualifikationen ungleich.
Wo rascher Wandel erfolgt, entsteht Unzufriedenheit und Nostalgie, auch wenn die Veränderung langfristig für die überwiegende Mehrheit positiv ist. Gleichzeitig reißen „Oligarchen“ – wie auch in anderen Ländern in Europa, Afrika, Südamerika – legal und illegal Vermögen an sich. Sie kooperieren mit den politischen Machthabern, zahlen deren Kampagnen, um an Macht zu kommen und diese auszubauen. Brutalität und Abschaffung von BürgerInnen- und Mitbestimmungsrechten wird kombiniert mit neuem Reichtum. Wenn autoritäre Populisten einfache Lösungen versprechen und Feindbilder aufbauen, wird ihnen geglaubt.

Erfolgsbilanz der Osterweiterung in Zahlen

Dass der Aufholprozess langsamer wurde, ist eine Fehlinterpretation.

Die Osterweiterung der EU ist ein ökonomischer und politischer Erfolg. Ein sehr großer, wie die Weltbank festgestellt hat, wenn sie Europa als „Integrationsmaschine“ bezeichnet (Gill and Raiser, 2012). Noch nie in der Geschichte habe die grundlegende Transformation eines Wirtschaftssystems so schnell funktioniert, in diesem Fall von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft.
Die zentral- und ostereuropäischen Staaten haben seit 1995 ihre reale Wirtschaftsleistung mehr als verdreifacht[2], das kumulative Wachstum der zehn Beitrittsländer (EU-10) lag bei 208 %, verglichen mit 105 % in Westeuropa (EU-15). Das ergibt für die jährliche Dynamik der Wirtschaftsleistung einen Unterschied von 5 % gegenüber 3 % für die Gesamtperiode 1995–2018. Vor der Finanzkrise lag die Wachstumsdifferenz bei 2 Prozentpunkten pro Jahr (6,3 % vs. 4,3 %), nachher bei 1,6 %. (3,3 % gegenüber 1,7 %). Dass der Aufholprozess langsamer wurde, ist somit eine Fehlinterpretation. Die absolute Differenz zwischen niedrigen Wachstumsraten ist immer geringer als bei höheren.


Das Niveau der Wirtschaftsleistung pro Kopf liegt damit heute preisbereinigt bei 67 % von Westeuropa (EU-15), 1995 war es nur bei 38 % gelegen. Das Einkommen pro Kopf ist somit höher als in vielen Regionen in Westeuropa. Die Tschechische Republik und Slowenien haben nun 84 % bzw. 81 % erreicht, 1995 waren es 65 % bzw. 64 %. In Bratislava ist das Pro-Kopf-Einkommen so hoch wie in Wien.

Woher kommt die Unzufriedenheit?

Die Enttäuschung könnte darauf zurückzuführen sein, dass ein noch schnellerer Anstieg der Einkommen erwartet worden war. Dieser Policy Brief argumentiert aber, dass es vier tiefere Ursachen für die Enttäuschung gibt:

  • Erstens der Rückgang der Bevölkerung. Während die Bevölkerung in der gesamten EU stagniert, und erst in den nächsten Jahren zu schrumpfen beginnt, ist sie in Zentral- und Osteuropa schon seit einigen Jahren rückläufig: vor allem die jüngere und männliche Bevölkerung arbeitet in Westeuropa, die Kinderzahl liegt mit 1,4 pro Paar deutlich unter der natürlichen Reproduktionsrate von 2, bei der die Bevölkerung stabil bleibt.


Emigration, Geburtenrückgang und Ablehnung von Immigration zusammen führen zu einem Rückgang der Bevölkerung von 6 % zwischen 2000 und 2020 und dann von weiteren 20 % bis 2050. Noch dramatischer ist der Rückgang der jungen Bevölkerung. Die Zahl der 20- bis 30-Jährigen wird nach derzeitigen Prognosen zwischen 2000 und 2050 in Zentral- und Osteuropa im Schnitt um 45 % sinken. Sie geht in Bulgarien, Lettland, Litauen und Rumänien um mehr als die Hälfte zurück.
Die Halbierung der jungen Bevölkerung führt zu einem Qualifikations- und Innovationsdefizit und zu einem Mangel an Arbeitskräften, es entstehen keine endogenen Innovationszentren und Firmenlandschaften. Multinationale Konzerne überlegen bei jeder Ansiedlung, ob es genügend qualifizierte Arbeitskräfte gibt. Die Pensions-, Gesundheits- und Sozialsysteme sind überlastet – alles das ist stärker, abseits von Städten, in den „vergessenen“ Regionen. Eine Stabilisierung der Bevölkerung mit jungen MigrantInnen wird entschieden abgelehnt.

  • Die zweite Ursache der Unzufriedenheit ist die Fremdbestimmung der Einkommen. Die EU-Förderungen, die in die ehemaligen Erweiterungsländer geflossen sind, sind beachtlich. Heute sind die höchsten Netto-Empfänger Litauen mit knapp über 3 % der Wirtschaftsleistung, gefolgt von Bulgarien, Ungarn hat beachtliche 2,7 %, die Slowakei nur 1,2 % und Slowenien 0,24 %. Der Schnitt in den EU-10 lag 2017 bei knapp 2 %.

Die Rücküberweisungen in die Ursprungsländer (aus dem Einkommen oder durch Kinderbeihilfen), sind in Bulgarien und Lettland am höchsten, in Ungarn betragen sie immer noch über 3 %, im Schnitt liegen sie bei 2,3 % der Wirtschaftsleistung.


Die Abhängigkeit von EU-Förderungen und von Rücküberweisungen aus dem Ausland erreichen zusammen bis zu 6 % der Wirtschaftsleistung. Es wird allerdings oft unterschätzt, dass Bezieher niedrigerer Einkommen keine Almosen, sondern Lebenschancen suchen und die Möglichkeit, eigene Leistungen zu erbringen.

  • Drittens sind die Mittel aus den Förderungen nur selten bei den einfachen Menschen angekommen. Zu geringe Verbindung von Strukturförderungen mit Infrastruktur und Standortattraktivität verhindern Firmengründungen, und Arbeitsplätze für Jüngere in „vergessenen“ Regionen. Auch die flächenbezogene Agrarförderung fließt primär zu Großgrundbesitzern, manchmal auch in Firmen, die Grund und Boden aufkaufen.[3]
  • Viertens verbessern sich Institutionen nur langsam und es gibt Rückschläge (Grieveson 2019). Die EU verlangt richtigerweise im Beitrittsprozess – jetzt wieder am Westbalkan – Reformen im politischen System, im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und auch Respekt für Minderheiten und Konfliktbeilegung mit Nachbarn. Sie stand dabei immer unter Druck, dass die Erweiterung politisch gewollt war und daher schnell erfolgen sollte – auch um den Einfluss Russlands zu begrenzen. Der Prozess hat auch zu einer deutlichen Verbesserung der Institutionen geführt. Wenn es Rückfälle gibt und „Brüssel“ Maßnahmen dagegen einmahnt, wird das regelmäßig als Einmischung von außen und Kritik an der Bevölkerung interpretiert, auch wenn das Fehlverhalten der Regierung gemeint ist. Mit dem Griff nach den Gerichten wird es möglich, Gesetze wieder auszuhebeln, Korruption zu erhalten oder zu verstärken. Mit der Gleichschaltung der Medien wird nicht über Korruption berichtet, sondern über Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die das Land „verurteilen“[4].

Das Konzept der „illiberalen Demokratie“

In dieser Diskussion ist zu berücksichtigen, dass es Ansätze zu „illiberaler Demokratie“ immer gegeben hat, und diese auch außerhalb Osteuropas bestehen (von Ägypten bis Venezuela).

Während intern das ungenügende Wachstum der Einkommen beklagt wird, kritisieren WissenschaftlerInnen und Medien im „Westen“ die Entwicklung in Zentral- und Osteuropa in Richtung „illiberaler Demokratie“. Dazu hat Viktor Orbán einen besonderen Beitrag geleistet, indem er explizit  erklärt, die Zeit sei gekommen, liberale Werte aufzugeben und einen Staat zu forcieren, der mehr „auf traditionelle Werte aufbaut“, eine Nation und eine Religion über andere stellt (Aiginger 2019 B).
Da die wissenschaftliche Literatur keine eindeutige Definition von „illiberaler Demokratie“[5] bietet, versuchen wir es mit den folgenden Kriterien (vgl. auch Aiginger 2019 A):

  • Die Arbeitsteilung (checks and balances) zwischen Parlament, Regierung und Gerichten wird aufgehoben oder geschwächt.
  • Das Wahlrecht wird geändert, sodass mit schwacher Mehrheit eine absolute Macht möglich wird. Wahlen werden wiederholt, Medien gekauft, JournalistInnen bedroht oder ausgewiesen.
  • Die Illusion einer tugendhaften Homogenität der Bevölkerung und von früher besseren Zeiten wird aufgebaut, Auslandsfeinde oder Bevormundung z. B. durch die EU werden konstruiert.

In dieser Diskussion ist zu berücksichtigen, dass es erstens Ansätze zu „illiberaler Demokratie“ immer gegeben hat, und diese auch außerhalb Osteuropas bestehen (von Ägypten bis Venezuela). Zweitens, dass „Hybridsysteme“ zwischen Demokratie und Autokratie im Übergang nach einer Diktatur oder Autokratie (Russland, Afrika) oft ein notwendiger Zwischenschritt sind. Drittens, dass illiberale Regime nicht immer erfolglos sind, wie Singapur oder China zeigen. Viertens sind westliche Demokratien bei weitem nicht perfekt, wie sich in Griechenland mit dem großen Einfluss von Militär und Reedern, in Italien mit Mafia und Kirche zeigt.

Strategien, illiberale Systeme wieder zur Demokratie zurückzuführen

Ein gezieltes Gegensteuern bei Unzufriedenheit – unabhängig vom erfolgreichen Integrations- und Transformationsprozess in Zentral- und Osteuropa – und etwaigen Tendenzen zu einer „illiberalen Demokratie“ ist eine Voraussetzung für die Verbesserung der Strategie und Entscheidungsprozesse der EU.

Wenn ein Land am Weg zu einem illiberalen Regime ist, sind folgende Strategien wichtig (Aiginger 2019 C):
Erstens ist es zunächst notwendig, das falsche Bild zu korrigieren, mit dem Probleme überzeichnet und zukunftsweisende Lösungen blockiert werden.
Zweitens ist es wichtig, eine positive Vision zu entwickeln, wo das Land 2030 sein will. Auf welchen Stärken es aufbauen kann, welche Industrien und Technologien es fördern kann und wie es attraktiv für neue Firmen, soziale und ökologische Innovationen werden kann. Eine Region die ein Drittel der Bevölkerung verliert und die Hälfte der 20-30 Jährigen, muss darüber nachdenken, wie sie wieder attraktiv wird,[6] da ja wahrscheinlich die Aufgabe von Tälern, wie sie manchmal in den Alpen diskutiert wird, nicht erwünscht ist. Diese Strategie kann in der Rückholung der EmgrantInnen bestehen, in der Umwandlung in eine Tourismusregion oder eine attraktive Siedlung mit Alterswohnqualität und Gesundheit, für Startups und Callcenters oder zur Integration von MigrantInnen. Ohne Strategie und Konzept entstehen „vergessene Regionen“, offen für jede Radikalisierung. Die Zuteilung der hohen EU-Strukturmittel muss mit Zielen verbunden werden, die von der Bevölkerung als positiv gesehen werden, wie z. B. Infrastruktur, Gründungszentren, Arbeitsplätze, saubere Luft.
Drittens,  ist es hilfreich, wenn westliche Demokratien eigene Fehler eingestehen. Auch in „liberalen Demokratien“ manipulieren Lobbys, Netzwerke und Werbung den Willen der Bevölkerung.
Osteuropa wie auch Westeuropa sollten vom erfolgreichen Transformationsprozess Westeuropas nach dem 2. Weltkrieg lernen. Hier haben die USA viel in den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft investiert, dabei auch ökonomische und politische Bedingungen gestellt, übten sich aber immer in Zurückhaltung beim Durchpeitschen ihres Wirtschaftsmodells. Die entscheidenden Beurteilungen hat die OEEC (Organisation for European Economic Co-operation) geliefert, die Vorläuferorganisation der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development), in der vorwiegend europäische ExpertInnen vertreten waren und die den Sitz in Europa hatte. Mittel die zurückgezahlt wurden standen den nationalen Regierungen noch stärker zur Verfügung, wobei es aber immer notwenig war internationale Regeln zu respektieren.
Ein gezieltes Gegensteuern bei Unzufriedenheit – unabhängig vom erfolgreichen Integrations- und Transformationsprozess in Zentral- und Osteuropa – und etwaigen Tendenzen zu einer „illiberalen Demokratie“ ist eine Voraussetzung für die Verbesserung der Strategie und Entscheidungsprozesse der EU. Das wiederum könnte auch für mehr Dynamik im Erweiterungsprozess in Richtung Westbalkan sorgen.

Zusammenfassung und Ausblick

Integration als Erfolgsmodell

Die Osterweiterung der EU ist daher ein historischer Erfolgsprozess – wirtschaftlich, politisch und in der Festigung der Bedeutung Europas als eine im Welthandel führende Region.

Die Osterweiterung war ein Erfolgsbeweis für die Integrationsfähigkeit der EU und für das wirtschaftliche Potential der neuen Mitglieder. Der Wachstumsvorsprung der neuen Mitglieder liegt bei 2 % pro Jahr (auch nach der Finanzkrise und 2019). Das Pro-Kopf-Einkommen der EU-10, das bei der Ostöffnung bei 38 % der alten Mitgliedsländer gelegen war, liegt nun bei 66 %, mit Werten über 80 % in Tschechien und Slowenien. Die Kaufkraft einiger Regionen in Zentral- und Osteuropa rangiert heute über dem der mittleren Region in Westeuropa.
Die Osterweiterung der EU ist daher ein historischer Erfolgsprozess – wirtschaftlich, politisch und in der Festigung der Bedeutung Europas als eine im Welthandel führende Region. Die Analyse der aufgetretenen Probleme und des Verbesserungsbedarfs im Europäischen Einigungsprozess sind Voraussetzungen für Konfliktlösung sowie eine erfolgreiche Integration des Westbalkans.

Eingrenzung der Unzufriedenheit

Da die Unzufriedenheit von populistischen und nationalistischen Regierungen benutzt wird, um ihre Macht auszubauen, und sie auch oft Verbündete in undemokratischen Regimen wie in Russland suchen, sind aktive Gegenstrategien notwendig.

Umfragen belegen, dass die Bevölkerung innerhalb der EU, nicht nur in Zentral- und Osteuropa, die europäische Einigung positiv beurteilt. Kein Land will austreten, alle sind froh, endgültig in Europa angekommen zu sein. Dennoch gibt es Unzufriedenheit die sehr ernst genommen werden muss, denn es besteht auch die Gefahr, dass Ost und West weiter auseinanderdriften. Es werden vier Gründe für die Unzufriedenheit genannt:
Erstens haben die Beitrittsländer (EU-10) ein Emigrationsproblem. Die Bevölkerung im Alter zwischen 20–30 Jahren sinkt bis 2050 um 45 % (in Lettland, Litauen, Rumänen und Bulgarien um mehr als die Hälfte). Zweitens wird die Entwicklung in den Oststaaten als fremdbestimmt empfunden. Rücküberweisungen von EmigrantInnen plus EU-Strukturförderung überschreiten in Bulgarien und Ungarn 6 % der Wirtschaftsleistung. Drittens kommen EU-Förderungen oft nicht bei den Menschen und in entlegenen Regionen an. Viertens gibt es Rückschläge bei der Verbesserung der Institutionen und in der Medienfreiheit, was zu neuer Machtkonzentrationführt.

Nord-Mazedonien und Albanien, aber auch Serbien und die anderen Länder Südosteuropas sollten stärker und rascher an die EU herangeführt werden.

Da die Unzufriedenheit von populistischen und nationalistischen Regierungen benutzt wird, um ihre Macht auszubauen, und sie auch oft Verbündete in undemokratischen Regimen wie in Russland suchen, sind aktive Gegenstrategien notwendig. Dazu zählt die Korrektur des falschen, negativen Bildes der Entwicklung, denn die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Einkommen sind gestiegen, das Wohlfahrtsgefälle zu „Westeuropa“ ist geringer geworden. Es braucht außerdem eine Vision für die zukünftige Entwicklung. Das beinhaltet auch, dass den Ländern des Westbalkans eine konkrete Beitrittschance geboten werden muss. Auch weil hier Russland versucht Konflikte zu schüren und seinen Einfluss nach der Phase der bipolaren Weltordnung zurückzugewinnen. Nord-Mazedonien und Albanien, aber auch Serbien und die anderen Länder Südosteuropas sollten stärker und rascher an die EU herangeführt werden. Dies ist leichter, wenn das Wachstum in der EU höher ist und die zentral- und mitteleuropäischen Länder den Transformationsprozess als erfolgreich bewerten. Die Integration des Westbalkans in die EU ist wiederum die Voraussetzung für eine neue geopolitische Rolle der EU.

Optimismus ist angebracht

Die neue Kommissionspräsidentin befürwortet jedenfalls eine aktive, ambitiöse Agenda für die Europäische Union. Europa soll die erste klimaneutrale Region der Welt werden. Ein Europäischer „Green Deal“ soll in den nächten 100 Tagen ausgearbeitet werden. Ungleichheit zwischen Ländern und Personen soll reduziert und Europa fit für das Zeitalter der Ditalisierung gemacht werden. Demokratie und Mitbeteiligung der BürgerInnen sollen gestärkt werden. Und das alles soll zu einer stärkeren Rolle Europas in der Welt genutzt, aber auch zu mehr Selbstbewusstsein und Verbreitung europäischer Werte beitragen.
Das sind zunächst einmal Zielsetzungen Usula von der Leyens. Sie müssen erst umgesetzt werden, aber die Pläne klingen anders als die Versprechen Jean Claude Junckers während seiner Periode als Kommissionspräsident keine neuen Mitglieder aufzunehmen. Und sie sind weniger beliebig als seine „Fünf Szenarien“ für die Zukunft der EU (von denen er dann keines ausgewählt oder realisiert hat). von der Leyen eröffnet auch aktiv die Möglichkeit, nach dem ersten Jahr ihre Ambitionen mit den ersten Umsetzungsschritten zu vergleichen, wenn sie für 2020 eine „Konferenz zur Zukunft Europas“ einberuft.

Aiginger, K. (2016), New Dynamics for Europe: Reaping the Benefits of Socio-ecological Transition. Part I: Synthesis. WWWforEurope Synthesis Report. Vienna-Brussels.

Aiginger, K. (2019 A), Populism and Economic Dynamics in Europe, Policy Crossover Center Vienna – Europe (www.querdenkereuropa.at), Policy
Paper 1/2019.

Aiginger, K. (2019 B), Analyse der Wahlprogramme für die Europawahlen, Policy Crossover Center Vienna – Europe (www.querdenkereuropa.at), Policy Paper 2/2019.

Aiginger, K. (2019 C), Populism: Roots, consequences, and counter strategy, VOX CEPR Policy Portal, 20. April 2019.

Aiginger, K. (2019 D), Auch erfolgreiche Transformationen erleben kritische Momente, Europäische Rundschau 3/2019.

Brugner, Ph. (2019), Die Östliche Partnerschaft der EU braucht einen neuen Ansatz, derstandard.at, 13. Mai.

Gill, I., Raiser, M. (2012), Golden Growth: Restoring the Lustre of the European Economic Model. The World Bank.

Globsec Trends 2019: Central & Eastern Europe 30 years after the fall of the Iron Curtain, 2019 Grieveson, R. (2019), EU eastward enlargement:
A qualified success, WIIW, 30. April.

Islam, Sh., Juncker is wrong: Europeans don’t need a protective Europe, they want a passionate one, Friends of Europe May 7, 2019.

Krastev, I. (2017), After Europe, Penn University Press, 2017.

Magyar, B., Madlovics, B. (2019), Ungarn: Ein MafiaStaat kämpft für Straffreiheit, derstandard.at, 25. Juni, 2019.

Sercovich, F., C. (2014), Wither Convergence? Catching-up in an Era of Diminished Expectations, in Handbook of Research on Comparative Economic Development Perspectives on Europe and the MENA Region, University of Buenos Aires.

Soros, G. (2019), An open letter to the 2020 Presidential candidates: It’s time to tax us more, June 24th.

von der Leyen, U., A Union that strives for more, my agenda for Europe, Brussels 2019.

[1] Als EU-10 werden die zentral- und osteuropäischen Länder bezeichnet, die 2004 beigetreten sind (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen) sowie Bulgarien und Rumänien (Beitritt 2007). Zypern und Malta (beigetreten 2004) und Kroatien (beigetreten 2013) werden hier nicht eingeschlossen. EU-15 sind die Mitglieder bis zur sogenannten Osterweiterung.
[2] Preisbereinigt, d. h. zu Kaufkraftparitäten.
[3] https://www.global2000.at/sites/global/files/Agrar-Atlas-2019.pdf
[4] https://www.mdr.de/heute-im-osten/olaf-178.html
[5] https://www.iwm.at/transit/heft-48-ruckkehr-der-illiberalen-demokratie/
Der Autor dankt Kurt Bayer, Fritz Breuss, Heinz Handler, Susan Milford-Faber, Judith Kohlenberger, Michael Landesmann, Johannes Stattmann und Ewald Walterskirchen für Kritik und Irene Langer für wissenschaftliche Assistenz. Eine längere Fassung – konzentriert auf die bisherige Performance der Ostländer und ohne Ausblick auf das Programm der neuen Kommissionspräsidentin – ist in der Europäischen Rundschau 3/1919 erschienen.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Schlüsselwörter
Osterweiterung, EU-Erweiterung, Transformation, Integration, Populismus, Nationalismus, illiberale Demokratie

Zitation
Aiginger, K. (2019). 15 Jahre EU-Osterweiterung: aus Erfolg und Problemen lernen. Wien. ÖGfE Policy Brief, 21’2019

Karl Aiginger

Karl Aiginger ist Direktor des WIFO und Leiter des Projektes »Welfare Wealth and Work for Europe – WWWforEurope – Ein neuer Wachstums­pfad für Europa« (EU-FP7) sowie Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien.