Europa als Klimaschutzvorreiter

Eine Gratwanderung

Handlungsempfehlungen

  • Gleichschritt geht vor Alleingang. Überzogenes Vorreiten bringt Europa und dem Klimaschutz (!) mehr Nachteile als Vorteile. Einen durchschlagenden Erfolg für den Klimaschutz bringen nur weltweit abgestimmte Maßnahmen.
  • Die Europäische Union soll keine CO2-Reduktionsziele eingehen, die sie möglicherweise verfehlt. Das Nicht-Erreichen eines Ziels wird der EU Kritik einbringen, der umgekehrte Fall, dass dieses übertroffen wird, hingegen Anerkennung.
  • Außerhalb der energieintensiven Industrien hat ein  Vorreiten weniger negative Auswirkungen auf die Wirtschaft. In diesem Bereich kann Europa das Tempo der Emissionsverringerung steigern.

Zusammenfassung

Seit dem Kyoto-Protokoll hat sich Europa global als Vorreiter des Klimaschutzes positioniert. Nun aber ist Vorsicht geboten: Eine Überdehnung der Vorreiterrolle führt zu Einbußen bei der Wettbewerbsfähigkeit in Schlüsselsektoren. Je größer das Gefälle wird, desto mehr tritt der Ausweicheffekt in den Vordergrund, und die Emissionen verlagern sich in Wirtschaftsräume, in denen sie wenig oder gar nichts kosten. In der globalen Emissionsbilanz schlägt sich eine überzogene Vorreiterrolle nicht mit Netto-Ersparnissen zu Buche. Eine Klimapolitik, die alles auf eine Karte (CO2-Reduktion) setzt, fördert das Wiedererstarken der Atomenergienutzung.

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Was bisher geschah: wie Europa zur Vorreiterrolle kam

Schon 1997 bei der Klimakonferenz in Kyoto, die zum Kyoto-Protokoll  [1] führte, war Europa einer der Treiber. Die damalige EU 15 übernahm auch mit minus 8% die höchste Reduktionszusage. Kurze Zeit danach, beim Antritt der Administration Bush im Jahr 2001, bahnte sich mit dem Rückzug der USA die Zweiteilung der industrialisierten Welt beim globalen Klimaschutz an. Zwar erreichte das Kyoto-Protokoll mit dem Beitritt Russlands noch die für das Inkrafttreten notwendige Beteiligungsquote, aber nach dem Auslaufen des Kyoto-Protokolls Ende 2012, stand Europa faktisch mit seinem Wunsch der Verlängerung allein an. Weder Russland, noch Kanada, noch Japan, um nur einige Beispiele zu nennen, blieben an Bord. Die erstarkten Schwellenländer, allen voran China, lehnen völkerrechtlich bindende Emissionsobergrenzen kategorisch ab.
Somit muss sich die EU 28 darüber „freuen“, dass sich wenigstens Länder wie die Schweiz und Norwegen ihrer Linie anschließen. Nur noch ca. 11 % der weltweiten Emissionen[2] sind von dieser Staatengruppe abgedeckt. Das ist ein schwerer Rückfall im Vergleich zum Kyoto-Protokoll, das die 60%-Marke[3] deutlich übertraf.
Seit langem bemühte sich Europa um ein neues globales Klimaschutzabkommen. In Erinnerung ist das spektakuläre Scheitern der Kopenhagener Konferenz 2009, da die erste Garnitur an Staats- und Regierungschefs gekommen war und mit leeren Händen abreisen musste. Seither haben sich die Verhältnisse nicht geändert. Wenn heute jemand von einem globalen Klimaschutzabkommen spricht, dann geht es nicht um ein Abkommen mit verbindlichen Emissionsobergrenzen nach dem Vorbild des Kyoto-Protokolls, sondern um nationale Versprechen, die keine völkerrechtliche Verbindlichkeit erzeugen.
Die Europäische Union hat sich davon nicht abhalten lassen, einseitig  die Kyoto-Architektur zu prolongieren und ihre Mitgliedstaaten europarechtlich und damit sanktionsbewehrt auf Emissionsobergrenzen und Reduktionsziele zu verpflichten. Diese gelten für den Zeitraum von 2013 bis 2020 [4]. Ziel ist die Reduktion um 20% bezogen auf das Basisjahr 1990 (nach der Verringerung um 8% bis 2008-12 also eine Verzweieinhalbfachung der Vorgabe). Es  besteht Übereinstimmung unter den zuständigen Ministerien, dem Umweltbundesamt (UBA) und der Energieagentur, dass diese Vorgabe – wenn auch in einigen Ländern wie Österreich mit Mühe – erreichbar ist.
Nun steht die Festlegung von Zielen für den Zeitraum bis 2030 an. Die Europäische Kommission (EK) will das Reduktionsziel noch einmal verdoppeln, also von 20 auf 40% erhöhen.  Dagegen bestehen jedoch schwere Bedenken, die hier näher ausgeführt werden.

Europas energieintensive Industrie in der Zwickmühle

Auf dem Weltmarkt der Produkte energieintensiver Industrien ist Europa derzeit Nummer 1. Der Anteil der Industrie an der europäischen Volkswirtschaft nimmt in den letzten Jahren ab. Die internationale Energieagentur sagt voraus, dass Europa von seinem jetzigen Weltmarktanteil in der Höhe von 36% bis 2035 zehn Prozentpunkte verlieren wird, während die USA ihren Anteil erhöhen wird[5].
Dafür wird der vergleichsweise sehr hohe Energiepreis in Europa verantwortlich gemacht. In den USA kostet Erdgas derzeit etwa ein Viertel bis ein Drittel. Auch die Strompreise unterscheiden sich signifikant zu Lasten der europäischen Betriebe.
Durch die europäische Klimapolitik kommt noch das Problem hinzu, dass in Europa künftig hohe Kosten für CO2-Zertifikate anfallen werden. In den letzten Monaten betrugen diese Kosten 5 – 6 € pro Tonne CO2, künftig sollen die Preise massiv steigen. Wie hoch sie steigen werden, kann natürlich nicht vorausgesagt werden. Die EK setzt den zukünftigen CO2-Preis bei 30 – 40 € pro Tonne an. Das österreichische UBA nimmt einen CO2-Preis zwischen 50 und 70 € pro Tonne an.
Gleichzeitig sollen die energieintensiven Industrien nach den Plänen der Europäischen Kommission immer mehr Zertifikate kaufen müssen. Derzeit gibt es noch für den Löwenanteil des Bedarfs Gratiszertifikate. Künftig soll der Gratisanteil aber kontinuierlich abschmelzen. Wie das folgende Beispiel zeigt, kann der Zukaufsbedarf bis 2030 leicht auf eine Größenordnung von 40% oder mehr steigen.
Ein illustratives Rechenbeispiel:
Aktuelle Situation:
Nehmen wir an, ein Betrieb emittiert pro Jahr 11 Millionen Tonnen CO2. Bisher erhält er 10 Mio. Gratiszertifikate. Er muss somit jährlich 1 Mio. Zertifikate erwerben. Bei einem Durchschnittspreis von 5 € musste er somit im Jahr 2013 5 Mio. € ausgeben.
Projektion bis 2030:
Bis zum Jahr 2030 steigt der Zukaufsbedarf wegen fortschreitender Kürzung der Gratiszertifikate gemäß bestehenden Vorschriften auf 4 Mio. Zertifikate.
Somit erhöhen sich die CO2-Kosten gemäß Preis-Annahme der EK auf 4 Mio. mal 30 – 40 € = 120 – 160 Mio. €, gemäß UBA-Annahme auf 200 – 280 Mio. € (4 Mio. Stück mal 50 – 70 €).
Nehmen wir die Mittelwerte der Schätzungen, ergibt dies 190 Mio. €.
Bewertung:
Die Erhöhung von 5 auf 190 Mio. €  ist eine Steigerung mit dem Faktor 38.
Betrug das Ergebnis vor Steuern  im letzten Geschäftsjahr 650 Mio. €, so würden die angenommenen CO2-Kosten bis zum Jahr 2030 auf knapp 30 % des heutigen Jahresgewinns steigen.

Investieren oder Ausweichen – das ist hier die Frage

Sinn des Emissionshandels ist es technologische Potenziale der Emissionsverminderung zu heben. Es soll also nicht primär dazu kommen, dass die Betriebe wie bisher weiterproduzieren und immer mehr Zertifikate kaufen, sondern sie sollen in emissionsvermindernde Maßnahmen investieren.  Wenn es solche aber nicht gibt, haben sie die Wahl zwischen (1) Zukaufen und Zahlen oder (2) Verlegung des Standorts. Nach einhelliger Auffassung von Experten sind die technologischen Reduktionspotenziale der energieintensiven Betriebe in Österreich im Wesentlichen bereits ausgeschöpft. Neue Technologien, die deutliche CO2-Reduktionen erlauben, zeichnen sich kurz- und mittelfristig nicht ab.
Damit sinkt die Rendite eines Standorts beträchtlich. In der Größenordnung von 40 % wird kaum ein Betrieb wirtschaftlich technische Möglichkeiten für emissionsmindernde Maßnahmen vorfinden, um Zukaufkosten zu vermeiden oder stark einzuschränken. Will der Betrieb ohne Zukaufskosten auskommen, muss  er den Standort in einen Nicht-Mitgliedstaat verlegen.
Je größer das Kostengefälle wird, desto mehr lohnt sich Ausweichverhalten. Der Anreiz, neue Technologien zu entwickeln, sinkt (!) somit durch jedes weitere Drehen an der CO2-Preis-Schraube.
Da Europa auf absehbare Zeit als Vorreiter allein bleibt, bieten sich geographische Ausweichmöglichkeiten in viele Richtungen, sodass auch bei der Ausweichvariante andere Standortkriterien (Energiekosten, Nähe zu Absatzmärkten, allgemeines Investitionsklima etc.) gebührend berücksichtigt werden können.

Auflösung des Zielkonflikts

Damit stellt sich die Frage, ob eine sinnvolle Lenkungswirkung des CO2-Zertifkatshandels überhaupt noch erzielbar ist. In der Tat gibt es  Überlegungen, die energieintensive Industrie komplett aus dem Emissionshandelssystem auszunehmen. Dazu gibt es aber auch eine Alternative, die immer noch eine gute Lenkungswirkung verspricht. Die 100%-Gratiszuteilung kann sich auf jene Betriebe beschränken, die fortschrittliche technologische Benchmarks erfüllen, das heißt die energietechnisch optimiert sind. Dies ist auch fair, denn Betriebe, die mit rückständigen Technologien produzieren, haben dadurch ja einen Kostenvorteil  im Vergleich zu Betrieben, die in die modernsten Technologien investiert haben. Diese Benchmarks müssen nicht neu entwickelt werden, es gibt sie bereits. Die administrative Durchführbarkeit ist somit kein wesentliches Problem.
An den Kommissionsvorschlägen befremdet auch, dass die im Emissionshandel erfassten Industrien überproportional, nämlich im Ausmaß von 43%, zum 40% Gesamtziel beitragen müssen[6]. Die Kommission schont damit die Mitgliedstaaten, die für den Mobilitätssektor und den Gebäudesektor verantwortlich sind. Sinn macht das nicht, denn in diesen Sektoren ist Vorreitertum nicht mit Nachteilen für die Wettbewerbsfähigkeit verbunden. Im Gegenteil: Es können sich die Umwelt- und Energietechnikbetriebe sogar besser entwickeln, wenn der Staat die Nachfrage ankurbelt. Die Lastenverteilung zwischen diesen beiden Bereichen ist somit umzudrehen.
Offenbar schielt die Kommission darauf, die Mitgliedstaaten zu ködern. Ihnen werden geringere Anstrengungen abverlangt, zugleich sind die Finanzminister an einem hohen CO2-Preis interessiert, da ihnen die Erlöse aus den Auktionen der CO2-Zertifikate anheimfallen.
Diese Rechnung würde aber ohne den Wirt gemacht: Die abwandernde Industrie fällt als Käufer der Zertifikate aus, und der Staat handelt sich weitere Kosten der Arbeitslosigkeit der bisher in der abgewanderten Industrie beschäftigten Menschen ein.

Gleichschritt darf nie aufgegeben werden

Vorreitertum ist gut und schön, in Maßen genossen. Ziel ist aber immer, dass „die Anderen“ nachkommen. Dies gilt auch im Bereich Klimaschutz. Europa hat derzeit einen Anteil von 11% der Weltemissionen. Sinkt der EU-Anteil aufgrund des 40%-Ziels unter 10%, beeinflusst dies das Weltklima nicht im Geringsten, wenn die in Europa vermiedenen Emissionen in anderen Erdteilen wieder auftauchen.
Deshalb muss die Europäische Union ihre Anstrengungen mit jenen der anderen Wirtschaftsräume verknüpfen. Nur wenn die anderen Wirtschaftsräume auch auf einen Reduktionskurs einschwenken, gibt es einen positiven Effekt für das Klima.
In den Verhandlungen um das neue Klimaabkommen nennt man diese Verknüpfung Konditionalität. Sie muss von europäischer Seite eingefordert werden. Suggeriert Europa, dass es bei fehlendem Gleichschritt zu einseitigen Vorleistungen bereit ist, können die fernbleibenden Staaten auf Ansiedlung aus Europa ausweichender Betriebe hoffen.

Schlussfolgerungen

  • Zielfestlegungen sind so zu treffen, dass sie mit verfügbaren und vorhersehbaren Technologien erfüllt werden können. Einige Sektoren werden mehr zu den Gesamtzielen beitragen können, andere weniger. Darauf ist Rücksicht zu nehmen.
  • Mit Signalen an die Industrie, dass die Energie- und CO2-Kosten einseitig und krass steigen werden, untergräbt Europa seine Wachstumschancen.
  • Die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Szenarien verdunkeln die Perspektiven für industrielle Investoren am Standort Europa. Mit Verlagerungen von Investitionen und später auch Standorten ist zu rechnen. Es fehlt die Absicherung der energieintensiven Industrien.
  • Das europäische Modell der nachhaltigen Wirtschaft, das die Dekarbonisierung des Energiesystems einschließt, wird für andere Länder und Wirtschaftsräume attraktiv sein, wenn die Wirtschaftskraft Europas erhalten bleibt.
  • Bei der Entwicklung von Low Carbon Technologien im Bereich der energieintensiven Industrie sollte Europa Technologieführerschaften anstreben. Dies setzt voraus, dass Europa Standort dieser Industrien bleibt.
  • Für „grüne Technologien“ wird Europas nicht dadurch attraktiver, dass es die energieintensiven Industrien ziehen lässt. Im Gegenteil: Damit fällt ein wesentlicher Teil der Nachfrage für sie weg.
  • Europas selbst gewählte Vorreiterrolle bei einseitigen Zielfestlegungen wurde bisher von den anderen globalen Playern nicht honoriert. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dies in Zukunft ändert.

1) https://unfccc.int/kyoto_protocol/items/2830.php
2) EU-Kommission, Joint Research Centre – EDGAR (Emission Database for Global Athmosphere Research), 2014.
3) 63.7%, United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC), 2009.
4) ec.europa.eu/clima/policies/package/index_en.htm
5) World Energy Outlook, Internationale Energieagentur, 2013.
6) COM(2014) 15 “Ein Rahmen für die Klima- und Energiepolitik im Zeitraum 2020-2030“, 2014.

ISSN 2305-2635
Die Ansichten, die in dieser Publikation zum Ausdruck kommen, stimmen nicht unbedingt mit jenen der ÖGfE oder jenen, der Organisation, für die der Autor arbeitet, überein.

Zitation
Schwarzer, S. (2014). Europa als Klimaschutzvorreiter – eine Gratwanderung. Wien. ÖGfE Policy Brief, 10’2014

Stephan Schwarzer

Stephan Schwarzer leitet die Abteilung für Umwelt- und Energiepolitik der WKÖ. Der ausgebildete Jurist und Betriebswirt ist außerdem Universitätsdozent an der WU-Wien. Seine Publikationen behandeln vielfältige Themen des Umweltrechts sowie der Umwelt- und Energiepolitik