Nach Brexit-Votum – Austrittsverhandlungen zügig über die Bühne bringen und Vertrauen in europäisches Projekt stärken

Europäische Politik muss rasch reagieren und endlich gemeinsame Lösungen auch umsetzen

Das britische Nein beim gestrigen EU-Referendum ist von historischer Tragweite. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU hat sich ein Mitgliedsland zum Verlassen der Gemeinschaft entschlossen – ein Szenario, dessen Folgen heute noch kaum abzusehen sind. Fest steht: Mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs verliert die EU ihre zweitgrößte Volkswirtschaft und den viertgrößten Nettozahler. Großbritannien wiederum riskiert den Zugang zum europäischen Binnenmarkt, wirtschaftliche und politische Stabilität und nimmt verringertes Wachstum und Wohlstandsverlust in Kauf. Die EU ist jedenfalls jetzt gefordert, Geschlossenheit zu zeigen und professionell mit dieser außergewöhnlichen Situation umzugehen, betont Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE).
Dazu gehört zuvorderst ein klares Statement der gesamten EU an ihre BürgerInnen wie an die internationalen Partner, dass der Austrittswunsch Großbritanniens EU-Recht entspricht und akzeptiert wird.
Die Trennung muss nun so rasch wie möglich in die Wege geleitet und nach einem klaren und fairen Fahrplan vollzogen werden. Zuallererst geht es um die Regelung der unmittelbaren Folgen des Austritts. Zum anderen muss im Rahmen des Austrittsprozedere das Verhältnis der EU zum neuen „Drittstaat“ Großbritannien definiert werden. Schließlich sind EU-intern eine Vielzahl von institutionellen wie verfahrenstechnischen Fragen zu klären.
Großbritannien muss sich – um die wirtschaftlichen Konsequenzen möglichst gering zu halten – rasch festlegen, welchen Weg es nun einschlagen will. Wird es wie etwa Norwegen um eine Mitgliedschaft bei EFTA und EWR ansuchen? Wird es wie die Schweiz bilaterale Abkommen mit der EU anstreben? Oder wird eine Zollunion nach dem Vorbild der Türkei ein Modell für eine Bindung an die EU sein?
In jedem Fall stehen dem Vereinigten Königreich stürmische Zeiten bevor. Sonderbehandlungen, wie es die BritInnen bisher gewohnt waren, werden nur schwerlich wiederzuerlangen sein. London könnte zudem auch selbst noch in weitere Austrittsverhandlungen gezogen werden, wenn es etwa in Schottland zu einem neuen Unabhängigkeitsvotum käme. Schließlich hat in Schottland eine deutliche Mehrheit für Remain gestimmt.
Aber auch der Europäischen Union bleiben mit dem Brexit-Votum ehrliche Einsichten und entschiedene Schritte nicht erspart. Es gilt, einer drohenden Austrittsdynamik in anderen Mitgliedsländern entgegenzuwirken und sich europäischen Grundsatzdebatten zu stellen.
Das Brexit-Votum muss für alle politisch Verantwortlichen in Europa ein Weckruf sein: Die Politik – auf nationaler wie EU-Ebene – ist dringend gefordert, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden und nationalstaatlichen Scheinlösungen klare und tragfähige europäische Antworten und Lösungsstrategien entgegenzustellen. Bei aller – auch berechtigten Kritik – wäre der viel zitierte Weg zurück zu einem „Europa der Vaterländer“ angesichts der zunehmenden Globalisierung und weltweiten Vernetzung eine Sackgasse. Das gilt in besonderem Maß für kleine bis mittelgroße Länder wie Österreich.