Zu schnell, zu viel? (Gastkommentar Wiener Zeitung)

Die Geschichte der EU-Erweiterung ist noch nicht zu Ende.

In der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent, jährt sich eine der entscheidenden Weichenstellungen der europäischen Integration heuer zum fünfzigsten Mal. Am 1. Jänner 1973 traten mit dem Vereinigten Königreich, Irland und Dänemark erstmals weitere Länder der damaligen Europäischen Gemeinschaft bei, die damit auf neun Mitgliedstaaten anwuchs. Die Nord-Erweiterung bildete den Auftakt zu einer Reihe von bislang sechs Aufnahmerunden, die vorläufig 2013 mit dem Beitritt Kroatiens ihren Schlusspunkt fand. Seither stockt der Prozess.

Hat sich das so erfolgreiche Transformationskonzept der EU-Erweiterung damit überholt? War der EU-Austritt Großbritanniens vor mittlerweile drei Jahren der tragische letzte Akt einer bisher linearen Entwicklung? Pauschale Momentaufnahmen greifen hier zu kurz. Die Aufnahme von zehn Ländern – vorrangig aus Mittel- und Osteuropa – im Jahr 2004, und die Beitritte Bulgariens und Rumäniens 2007, mussten erst einmal internalisiert werden. Neben den praktischen Schwierigkeiten, die sich in der Entscheidungsfindung mit mittlerweile 27 nationalen Mitspielern ergeben, beeinflussen auch die sozialen und wirtschaftlichen Divergenzen, unterschiedliche Ausprägungen demokratischer Resilienz und mitunter diverse Auslegungen gesellschaftspolitischer Werte das Funktionieren des europäischen Maschinenraums. Die zunehmende Vielfalt Europas hat zu einem komplexen System verschiedener Integrationsgeschwindigkeiten geführt. Vor allem äußere Einflüsse und geopolitische Entwicklungen zwingen die Union jedoch dazu, in immer kürzeren Abständen immer rascher zu handeln und vermeintliche Dogmen über Bord zu werfen. Das institutionelle Gefüge, das die Erweiterungsschritte nur begrenzt mitgegangen ist, wird dadurch gehörig unter Stress gesetzt, aber eben auch zu Höchstleistung angespornt.

Das nächste Kapitel der Erweiterungsgeschichte ist noch nicht geschrieben. Neben den Ländern des Westbalkans, die seit zwanzig Jahren im Warteraum der EU sitzen, wecken nun die Ukraine, Moldau und Georgien die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik aus ihrem Dornröschenschlaf. Ein Beleg dafür, dass das europäische Modell freier, demokratischer Gesellschaften weiterhin und gerade jetzt hohe Attraktivität besitzt. Es verweist aber auch darauf, dass die EU dringend ihre geopolitische Rolle überdenken muss. Vor allem braucht es konkrete Schritte, um all den Beitrittsaspiranten frische und realistische Perspektiven aufzuzeigen, wie sich ihre europäische Integration vollziehen kann.

Trotz der oft nervenzehrenden Mühen des EU-Alltags: Wer möchte sich ernsthaft ausmalen, wie Europa heute aussehen würde, hätte es die verschiedenen Erweiterungsschritte nicht gegeben? Wie wäre es um die wirtschaftliche Stärke, die internationale Stellung Europas, das liberale Demokratiemodell bestellt, wie um Sicherheit und den europäischen Zusammenhalt? Führt man sich ein solches Szenario vor Augen, darf man wohl mit Recht von einer Erfolgsgeschichte der bisherigen EU-Erweiterungen sprechen. Damit es auch in Zukunft so sein wird, wäre es jetzt an der Zeit, die Weichen wieder neu zu stellen.