Herausforderung Migration: 2020 ist nicht 2015 (Gastkommentar, Wiener Zeitung)

Man soll die EU und ihre Mitgliedstaaten durchaus dafür kritisieren, dass es – trotz Fortschritten beim Schutz der europäischen Außengrenze – in fünf Jahren nicht gelungen ist, sich auf eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zu einigen. Aber dass mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan das Gespräch gesucht wird, um die wesentlichen Elemente des Abkommens vom März 2016 – das insbesondere durch türkische Provokation an der Grenze zu Griechenland unter Druck geraten ist – zu retten, ergibt Sinn. Denn was wäre die Alternative? Gesprächsverweigerung auf dem Rücken von Menschen auf der Flucht?

Ohne den Deal hätte es die stark rückläufigen Zahlen der Flüchtlingsüberfahrten nach Griechenland in den vergangenen Jahren nicht gegeben. Ohne ihn gäbe es auch keine Grundlage für direkte finanzielle Unterstützung in Milliardenhöhe für Flüchtlinge in der Türkei, bei der die türkische Regierung bewusst außen vor gelassen wurde. Das Abkommen ist heute nicht mehr aktuell, schon gar nicht perfekt und bei der Umsetzung einzelner Punkte hakt es, aber gerade deswegen muss es jetzt neu aufgesetzt werden.

Weder erfüllt die Türkei alle Bedingungen zur Visa-Liberalisierung, noch gibt es die damals anvisierten Fortschritte im Hinblick auf den EU-Beitrittsprozess. Ganz im Gegenteil. Auch die Erweiterung der EU-Zollunion mit der Türkei steht aktuell nicht weit oben auf der Agenda. Darüber hinaus haben die Rückführung illegaler Migranten in die Türkei sowie die Umsiedlung syrischer Flüchtlinge von der Türkei nach Europa nicht ausreichend funktioniert, und die Asylverfahren auf den griechischen Inseln dauern nach wie vor viel zu lange. Die Türkei wiederum hat ihre Zusage hinsichtlich der Schließung von Fluchtrouten mit dem Signal der offenen Grenzen bewusst torpediert. Und trotzdem ist es im beidseitigen, nachbarschaftlichen Interesse, gemeinsame Anstrengungen zur Unterstützung der Flüchtlinge in der Türkei und zur Verbesserung der humanitären Bedingungen sowie der Sicherheitslage in Idlib zu unternehmen. An diesem Ziel muss beharrlich weitergearbeitet werden, ohne sich von politischen Machtspielen einschüchtern zu lassen. Der unmenschliche Umgang mit dem Schicksal tausender Menschen ist letztlich auch alles andere als ein Verhandlungstrumpf Erdogans. Er ist vielmehr eine menschenverachtende Verzweiflungstat, um von anderen Problemen abzulenken.

Der Konflikt in Nordsyrien ist gegen Russland für die Türkei nicht zu gewinnen. Die türkische Wirtschaft steckt schon länger in einer tiefen Krise. Der Kurden-Konflikt bleibt ungelöst. Erdogan hat keine Kontrolle mehr über Istanbul und Ankara. Und sein Canossagang nach Moskau ist kein Zeichen von Stärke. Die Türkei braucht die EU, und diese ist gefordert, Flüchtlingen vor Ort zu helfen. Sobald an der EU-Außengrenze zur Türkei Ordnung vorherrscht, sollte sich die EU großzügig zeigen.

Die europäische Außenpolitik ist noch lange nicht dort, wo sie sein sollte. Mithilfe ihrer wirtschaftlichen Stärke muss es der EU gelingen, Probleme vor Ort zu lösen und ihren Beitrag zur regionalen Konfliktlösung zu leisten. Das geht aber nicht gegen, sondern nur mit der Türkei.