Wie verändert der Krieg in der Ukraine die EU? (Gastkommentar Die Presse)

Zehn Thesen, was die Europäische Union im Jahr des Krieges gelernt hat und wie sie auf den massiven Einschnitt reagiert.

Vor genau einem Jahr hat Russland mit seinem Angriff auf die Ukraine einen völkerrechtswidrigen Krieg begonnen und damit den größten bewaffneten Konflikt im Europa der Nachkriegszeit ausgelöst. Er hat der Ukraine unermessliches Leid gebracht, eine massive Flüchtlingsbewegung ausgelöst, Nahrungsmittelengpässe verursacht und die Energiekrise verschärft. Die russische Invasion erschüttert die europäische Sicherheits- und Friedensordnung – mit weitreichenden Folgen.

Wie verändert der Krieg in der Ukraine die Europäische Union? Eine Einordnung in zehn Punkten:

1. Die EU hält zusammen. Die Union hat bisher neun umfassende Sanktionspakete geschnürt und bekennt sich dazu, die Ukraine so lang wie notwendig zu unterstützen. Wirtschaftlich, militärisch, humanitär und auch politisch, etwa durch die Zuerkennung des Beitrittskandidatenstatus, das demonstrative Bekenntnis, dass das Land Teil der europäischen Familie ist. Die Ukraine wiederum beschleunigt ihren Reformprozess, um Beitrittsverhandlungen beginnen zu können, und rückt durch konkrete Maßnahmen, wie der Verbindung mit dem kontinentaleuropäischen Stromnetz, dem temporären Aussetzen von Zöllen, Solidaritätskorridoren zum Export von Getreide oder dem geplanten Aus für Roaminggebühren, näher an die EU heran.

2. Europa löst sich von russischer Energieabhängigkeit. Der Anteil von Erdgasimporten aus Russland ist EU-weit von etwa 50 Prozent im Jahr 2021 auf knapp 13 Prozent im November 2022 gesunken. Ein Energienotstand ist ausgeblieben, Diversifizierung wichtiger denn je. Längere Laufzeiten für Kohle- und Atomkraftwerke und massive Investitionen in den grünen Wandel sind geplant und sollten helfen – besonders auch Österreich, das nach wie vor russisches Gas importiert. Der neue EU-Industrieplan sieht beschleunigte Genehmigung und schnelleren Zugang zu Finanzmitteln vor, um Europas Industrie CO2-neutral zu machen. Freihandelsabkommen sollen ausgebaut, Lieferketten widerstandsfähiger werden. Entscheidend ist nun eine zügige Umsetzung.

3. Die EU geht den Weg in Richtung strategischer Unabhängigkeit und lernt Handelspolitik auch als geopolitisches Instrumentarium einzusetzen. Die Kluft zwischen klima-, sozial- und demokratiepolitischen Ansprüchen und außenpolitischen Realitätenwird dabei nicht geringer. Auch wenn die transatlantischen Beziehungen weiter an Stellenwert gewinnen, gilt es Protektionismen zu vermeiden und mittelfristig autonomer zu werden, sicherheits- ebenso wie handelspolitisch etwa im Verhältnis zu China.

4. Die europäische Sicherheitsarchitektur verändert sich von Grund auf. Schweden und Finnland treten der Nato bei, das neutrale Irland bildet ukrainische Soldaten gegen Entminung aus und die Schweiz diskutiert die Ausfuhr von Waffen. Für die europäischen Nato-Mitglieder ist das Zwei-Prozent-Ziel der Verteidigungsausgaben kein Tabu mehr. Rote Linien verschieben sich: Wurden anfangs reine Defensivwaffen geliefert, sind Kampfpanzer für Kiew mittlerweile beschlossene Sache und die Diskussion über Kampfjets voll im Gange. Auch Österreich wird sich einer umfassenden sicherheits- und verteidigungspolitischen Debatte nicht entziehen können.


5. Geostrategische Überlegungen verleihen dem trägen EU-Erweiterungsprozess Flügel.
Der Kandidatenstatus der Ukraine, Moldaus und Bosnien-Herzegowinas, die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien sowie eine EU-Perspektive für Georgien bringen neue Dynamik. Ungeachtet der Zurückhaltung etlicher EU-Hauptstädte sind die politischen Signale nicht zu überhören. Noch fehlt es allerdings an Konsens für künftige Erweiterungen als auch für eine interne EU-Reform, die Grundvoraussetzung für weitere Erweiterungsschritte ist.

6. Eine neue Europäische Politische Gemeinschaft entsteht – oder auch nicht. Im Mai 2022 von Emmanuel Macron vorgeschlagen, ist sie der Versuch, auch Nicht-EU-Länder enger an die Union zu binden und die Nachbarschaftspolitik zu intensivieren. Doch bleibt vage, was dieses neue Konstrukt zu leisten vermag. Ist es ein Gipfeltreffen auf dem roten Teppich, ein informelles Forum ohne strukturellen Unterbau? Noch ist es zu früh, um die Initiative zu bewerten. Eine zweite Mittelmeer-Union, wie jene von Nicolas Sarkozy, wäre jedenfalls wenig attraktiv.


7. Der Kampf gegen Falschinformationen gewinnt weiter an Bedeutung.
Externe Akteure nehmen Einfluss auf westliche Gesellschaften, um das liberale Demokratiemodell zu untergraben. Die Verantwortung für den Krieg soll umgeschrieben, die Wirkung der Sanktionen umgedeutet und der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung abgesprochen werden. Russlandfreundliche Stimmen setzen auf Unsicherheit in der Bevölkerung, um die Unterstützung der Ukraine zu schwächen. Mit Fakten und klaren Ansagen, mit demokratischen Allianzen und lösungsorientierter Politik sollte noch stärker dagegenhalten werden.


8. Kooperation wo möglich, Eigenständigkeit wo nötig.
Europa muss sich auf der Weltbühne behaupten. Aus europäischer Sicht scheint Russland isoliert, andere Kräfte begreifen den Krieg hingegen als lokalen Konflikt und stellen sich nicht offen gegen Moskau. Europäische Werte und Interessen decken sich nicht automatisch mit jenen in anderen Weltregionen, transatlantische Beziehungen wecken Argwohn. Bringt der russische Wirtschaftskrieg für Europa Probleme mit sich, schafft er für weitere Staaten Chancen und Absatzmärkte. Sanktionen werden nach wie vor umgangen, nur 8,5 Prozent der Unternehmen aus EU und G7-Ländern haben sich bisher aus Russland vollständig zurückgezogen. Die EU hat alles Interesse daran, ihre demokratische Erzählung auch international selbstbewusster zu vertreten.

9. Die EU stellt sich auf eine langfristige Unterstützung der Ukraine ein. Je länger der Krieg und seine Folgen andauern, je höher auch die Kosten, desto wichtiger wird es, die Bevölkerung dabei mitzunehmen. Die Wirtschaft muss weiter gestützt, das soziale Gefüge gestärkt und der Lebensstandard gesichert werden. Letztlich muss deutlich vermittelt werden, dass die Maßnahmen gegen Moskau Zeit brauchen, um zu wirken, und die Solidarität mit der Ukraine in unserem eigenen Interesse ist, wenn wir unsere demokratische Gesellschaftsordnung bewahren wollen.

10. Die Rufe nach einem verstärkt gemeinschaftlichen Vorgehen in der EU werden lauter. Sei es beim Kampf gegen den Klimawandel, dem gemeinsamen Einkauf von Energieträgern, der Notwendigkeit eines Fonds für europaweite Investitionen oder der militärischen Beschaffung und der Waffen- und Munitionsproduktion. Es gilt größer zu denken, statt neue Initiativen automatisch zu versenken.

Europa hat immer dann zusammengehalten, wenn die Ausgangslage besonders schwierig war, ist dann über sich hinausgewachsen, wenn es ganz besonders gefordert war. Jetzt ist es wieder so weit. An Herausforderungen mangelt es jedenfalls nicht.