Wege für Europa aus der Krise (Gastkommentar Wiener Zeitung)

Die EU muss sich auf Sicherung und Ausbau des “europäischen Modells” einer demokratisch fundierten, wirtschaftlich leistungsfähigen und sozial ausgeglichenen Gemeinschaft konzentrieren.

Das für Europa zentrale Thema ist – für leider nicht absehbare Zeit – der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Es darf aber nicht vergessen werden, dass Europa – und im speziellen die EU – darüber hinaus mittel- und langfristig vor einer Fülle von Problemen steht, die in ihrer Kombination zu krisenhaften Entwicklungen führen können. Es geht um die Bewältigung umfassender geopolitischer Spannungen, die weitere Entwicklung der Globalisierung, Fragen von Energiepolitik und Klimaschutz, die Sicherung von Preisstabilität und demografische Herausforderungen. Es ist wichtig, die einzelnen Elemente dieser Polykrise nicht isoliert, sondern im Zusammenhang der langfristigen Dynamik von Wirtschaft und Gesellschaft zu sehen und sich auch auftretender Zielkonflikte bewusst zu sein.

In dieser Konstellation ist eine klare und realistische Einschätzung der Position und der Möglichkeiten der EU erforderlich. In entsprechend realistischer Analyse ist die globale Position der EU als die einer reichen, mittelgroßen Regionalmacht zu sehen. Unter sicherheitspolitischen Aspekten wird die EU – auch bei einer Verstärkung der militärischen Aufwendungen der Mitgliedstaaten – auf lange Zeit hinaus von den USA abhängig sein. Unter wirtschaftlichen und sozialen Aspekten muss es – nicht zuletzt zur Sicherung des inneren Friedens und der Zustimmung zur europäischen Integration – darum gehen, die erreichten wirtschaftlichen und sozialen Standards zu sichern, auch wenn sich die weltwirtschaftlichen Größenverhältnisse zu Lasten Europas verschieben.

Ausbau des Binnenmarktes und Nachbarschaftspolitik

Für die EU, die ja in wichtigen Bereichen wie Verteidigung und Finanzpolitik (noch?) nicht den Charakter eines einheitlichen Staatswesens aufweist, ergibt sich damit die Herausforderung, sich auf Sicherung und Ausbau des “europäischen Modells” einer demokratisch fundierten, wirtschaftlich leistungsfähigen und sozial ausgeglichenen Gemeinschaft zu konzentrieren. Vorsicht ist geboten gegenüber einer überambitionierten “geopolitischen” Orientierung, die mangels politischer und ökonomischer Tragfähigkeit zu massiver Krisenverschärfung beitragen kann.

Konkret bedeutet das eine Schwerpunktsetzung auf den Ausbau des europäischen Binnenmarktes – in einer Stellungnahme einiger Mitglieder der EU-Kommission kürzlich als das “Kronjuwel” der europäischen Integration bezeichnet. Eine solche Strategie erfordert etwa ein für die gesamte EU funktionierendes Schengen-System und eine Teilnahme sämtlicher EU-Mitglieder an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion.

Unter dem Aspekt der bereits jetzt zunehmenden ökonomischen und politischen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten der EU hat sich die Hoffnung auf einen gleichlaufenden Prozess von Vertiefung und Erweiterung leider per saldo als trügerisch erwiesen. Umso wichtiger ist es für die EU, eine in realistischen Zeiträumen umsetzbare, politisch und wirtschaftlich tragfähige Nachbarschaftspolitik zu entwickeln. Die derzeit bei Beitrittsgesprächen oft als zentral betonten Anforderungen in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung sind zweifellos notwendige, aber bei weitem nicht hinreichende Kriterien für eine für alle Beteiligten erfolgreiche Mitgliedschaft.

Änderungen in den Entscheidungsstrukturen

In Hinblick auf potenzielle Mitglieder geht es hier zentral auch um die Fähigkeit und Bereitschaft, nachhaltig – und für alle Beteiligten nutzbringend – an den Kernaufgaben der europäischen Integration mitzuwirken. Das bedeutet neben dem Bekenntnis zu “rule of law” volle Mitwirkung am europäischen Binnenmarkt und an verwandten Politikbereichen, etwa in Bezug auf Wettbewerb, Klima, Agrarpolitik und Infrastruktur.

In Hinblick auf die EU ist zu bedenken, dass eine Überbelastung der finanziellen und sozialen Tragfähigkeit der “reicheren” Mitgliedstaaten zu Spannungen führen kann, die bis zu existenzbedrohenden Krisen innerhalb der EU führen können. Vor allem aber setzt eine Erweiterung, die nicht die Funktionsfähigkeit der EU selbst gefährdet, wesentliche Änderungen in den Entscheidungsstrukturen der EU voraus. Dies würde Änderungen der EU-Verträge in einem so bedeutsamen Ausmaß erforderlich machen, dass für das Wirksamwerden wohl Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten und in einzelnen Staaten wohl Volksabstimmungen nötig wären. In einer Rede in Prag hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz – dem “genius loci” entsprechend – vor “kafkaesken Konstellationen” gewarnt, die bei einer Erweiterung ohne entsprechende grundlegende Änderungen der Funktionsweise der EU zu erwarten wären.

Spannungsfeld für den gesamten Kontinent

Aus der Kombination von ungelösten Krisen und wohlgemeinten, aber praktisch nicht realistischen Beitrittsversprechen kann sich ein Spannungsfeld entwickeln, das für den gesamten europäischen Kontinent – und damit speziell auch für die EU – zu schweren langfristigen Verwerfungen führen kann. In einer solchen Konstellation ist eine klare strategische Orientierung erforderlich. Diese sollte sich auf folgende wesentlichen Punkte beziehen:

Vertiefung der EU-Integration, speziell in Bezug auf noch nicht voll umgesetzte Integrationsschritte. Das bezieht sich etwa auf die Mobilitätsmöglichkeiten im Rahmen des europäischen Binnenmarktes und die volle Übereinstimmung von Binnenmarkt und Währungsunion.

Im Rahmen des europäischen Binnenmarktes Förderung und Ausbau spezifischer strategischer Investitionsbereiche zur Erhöhung von Krisensicherheit und Entwicklung technischer Zukunftsperspektiven. Wichtig ist dabei, auf gesamteuropäische Initiativen zu setzen und nicht auf einen Subventionswettlauf zwischen den Mitgliedstaaten. In diesem Sinn ist auch auf die Herausforderungen, die sich aus den protektionistischen Aspekten der US-Politik ergeben, zu reagieren.

Konsequente Weiterführung der EU-Klimapolitik, einschließlich Reduzierung der Energieabhängigkeit. Dabei sind die entsprechenden internationalen Entwicklungen zu unterstützen und zu beachten, um zu verhindern, dass es zu einer einseitigen wirtschaftlichen und sozialen Schwächung zu Lasten der Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten kommt.

Entwicklung einer seriösen und nachhaltigen Nachbarschaftspolitik, um differenzierte Formen der Kooperation zu erreichen. Damit soll ermöglicht werden, mit Nachbarstaaten zeitlich und inhaltlich konkrete Kooperationsschritte zu erarbeiten. Gleichzeitig soll die Funktionsfähigkeit – und damit die Attraktivität – der EU gesichert bleiben.

Zweifellos ist die EU heute und noch viel stärker in der Zukunft mit einer Vielzahl von Krisen und Herausforderungen konfrontiert. Mit politischer Entschlossenheit und ökonomischem Realismus ist es aber möglich, diese Krisen zu bewältigen. Dies wird freilich nicht nur das Wissen der Eliten, sondern auch das Engagement der Bürgerinnen und Bürger erfordern. Dieses Engagement zu erreichen, ist selbst wieder eine der größten Herausforderungen.

Eine Langfassung dieses Textes ist als Policy Brief der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik erschienen: www.oegfe.at/policy-briefs

Autor: Ewald Nowotny