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Von Schilling bis Brandstätter: Die EU-Spitzenkandidaten im Überblick (Interview Die Furche, 8.2.2024)

Von Schilling bis Brandstätter: Die EU-Spitzenkandidaten im Überblick

Lena Schilling ist 23 Jahre jung, die jüngste Abgeordnete ist die grüne Spitzenkandidatin bei ihrer Wahl ins Europaparlament aber nicht. Bei den Europawahlen 2019 gewann die dänische Politikerin Kira Marie Peter-Hansen von der Rot-Grünen Sozialistischen Volkspartei mit 21 Jahren, drei Monaten und drei Tagen ein Mandat und ist damit die jüngste jemals gewählte Abgeordnete des EU-Parlaments. Dass Jugend kein Ausschlussgrund für Karriere auf europapolitischer Ebene ist, zeigt sich daran, dass Peter-Hansen als stellvertretende Vorsitzende der grünen Fraktion reüssierte.

Mit der Ansage, sie sei keine „altgediente Berufspolitikerin“, sondern „ein junger politischer Mensch aus der Klimabewegung“, hat Schilling das Thema Alter als Wahlkriterium ins Spiel gebracht. „Alter ist keine Kategorie“, kommentiert Paul Schmidt Schillings Ansage: „Alter und Erfahrung lassen sich genau so wenig schlechtreden, wie man nicht sagen kann, nur weil sie jung ist, habe sie keine Ahnung von nichts“, sagt der Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (OeGfE). Mit Schilling hätten die Grünen laut Schmidt jedenfalls „gut gewählt, für mediale Aufmerksamkeit war gesorgt“. Als Schillings Trümpfe für den Wahlkampf zählt er auf: „Sie ist sympathisch, eine Frau, kann formulieren, spricht urbane Wählergruppen an.“ Ihr Vorteil, als Klimakämpferin bekannt und glaubwürdig zu sein, sei aber gleichzeitig ihr Nachteil, meint Schmidt: „Inhaltlich ist sie sehr monothematisch aufgestellt, Klima und Kampf gegen rechts haben mit Ausnahme der FPÖ alle, das spricht nur einen beschränkten Wählerkuchen an.“ Im Unterschied zu 2019, als die EU-Wahl im deutschsprachigen Raum zur großen Klimawahl ausgerufen worden sei, stünden dieses Mal soziale Themen im Vordergrund.

100.000 Hände schütteln

Noch schwieriger als jene der Grünen bewertet Schmidt die Ausgangsposition der ÖVP, die in den Umfragen weit hinter ihrem 2019er-Ergebnis liegt. Den Vorteil von Reinhold Lopatka als Spitzenkandidaten sieht Schmidt neben dessen Erfahrung vor allem darin, dass er „sehr loyal gegenüber seiner Partei und sehr situationselastisch ist, wenn es darum geht, Positionen der Zentrale zu übernehmen“. Inhaltliche Auseinandersetzungen wie mit Othmar Karas seien bei Lopatka auszuschließen: „Der ist anpassungsfähiger, ein Träger der Message, auch wenn diese vielleicht nicht hundertprozentig seiner Meinung entspricht.“ Hinzu komme, Lopatka sei zwar ein erprobter Wahlkämpfer, „doch er war noch nie an der Spitze, jetzt steht er vorn und muss die Wuchteln raushauen, das hat er noch nie gemacht“. In den schlechten Umfrageergebnisse für die ÖVP sieht Schmidt einen Vorteil für Lopatka, denn der könne nurmehr gewinnen. Schmidts Voraussage: „Der Marathonläufer Lopatka wird durch Österreich laufen, 100.000 Menschen die Hände schütteln, man sollte ihn nicht unterschätzen.“
Unterschätzt werden die FPÖ und Spitzenkandidat Harald Vilimsky bei dieser Wahl keineswegs. Im Gegenteil, der Wahlsieg scheint beiden sicher. Dass Vilimsky „nicht als großer Stimmeneinsammler bekannt ist“, spiele dabei keine Rolle, sagt Schmidt: „Bei der FPÖ ist egal, wer für Europa kandidiert, die EU-Wahlen sind nur eine Etappe am Weg zur  Nationalratswahl, ein Vorlauf für Kickl.“ Laut dem von der OeGfE analysierten Abstimmungsverhalten der EU-Abgeordneten beschreibt Schmidt Vilimskys Arbeitsprogramm mit dem Wort „Totalopposition“. Europapolitisch engagiert zeige sich Vilimsky, wenn es darum gehe, an einem rechtspopulistischen Netzwerk zwischen den europäischen Vaterlandsparteien zu knüpfen: „Sein Ding ist die Internationale der Nationalisten.“ Doch vorrangiges Ziel der Nationalisten, sagt Schmidt, seien Rat und Kommission, „das Europaparlament ist ein Arbeitsparlament, da sind sie nicht sehr zu Hause“. Im Europaparlament angekommen ist Andreas Schieder, der die SPÖ nach 2019 zum zweiten Mal als Spitzenkandidat in die Europawahlen führt. „Er muss den Spagat schaffen zwischen einer sehr innenpolitisch fokussierten SPÖ und seinen außen- und europapolitischen Ansichten“, nennt Schmidt die erste Herausforderung für Schieder. Als zweite, genauso wichtige Aufgabe sieht Schmidt die Abstimmung „mit dem anderen Andi, da braucht es ordentliche Koordinierungsarbeit“. Damit trifft er einen Punkt, denn die Europawahl wird auch der erste große  europäische Lackmustest für Parteichef Andreas Babler. Dazu passend verweist Schmidt auf Umfragen, die zeigen, „dass die SPÖ-Wähler mittlerweile weniger EU-skeptisch als so manche ÖVP-Wähler sind“. Die für das Abschneiden der SPÖ zentrale Frage ist für Schmidt aber: „Kann die SPÖ aus der Opposition heraus Stimmenkapital schlagen, oder geht das alles auf das Konto der FPÖ?“

ORF-Kandidatenreihe

Für EU-Skeptiker keine Wahloption sind die Neos und ihr Spitzenkandidat HelmutBrandstätter. Ihre Vision der Vereinigten Staaten von Europa inklusive einer EU-Armee kommunizieren die Neos sehr klar, sagt Schmidt, „da passt Brandstätter als Frontmann sehr gut“. Dieser setzt die Reihe ehemaliger ORF-Journalisten als EU-Spitzenkandidaten (Hans Kronberger, FPÖ; Ursula Stenzel, ÖVP; Eugen Freund, SPÖ) fort. „Aber Brandstätter war auch Chefredakteur, saß eine Periode im Nationalrat“, sagt Schmidt, „der ist kein Quereinsteiger, der ist ein anderes Kaliber, ein Kommunikator und für die Neos alles andere als eine schlechte Wahl.“ Somit summa summarum eine illustre Runde, die es eventuell schafft, dass die Europawahlen nicht nur zum Vorlauf für die Nationalratswahl degradiert werden.

(Wolfgang Machreich, Die Furche, 08.02.2024)