Nur mit Verstand und Herz wird der Glaube der Europäer nachhaltig zu stärken sein, dass Europa Ideal und nicht Gefahr, dass Europa nicht das Problem, sondern die Lösung ist. Plädoyer eines österreichischen Europäers.
Als engagierter österreichischer Europäer war ich in den letzten Jahren bei unzähligen Europa-Diskussionen, bin selbst auf Podien gesessen, habe Podien moderiert und etliches zum Thema geschrieben. Ich habe mit unzähligen EU-Befürwortern unzählige Gespräche geführt – vom Präsidenten des europäischen Parlaments bis zum Taxifahrer, von der Managerin bis zur Gemüsefrau.
Ich habe mit Gegnern diskutiert, habe in Gremien, Arbeitskreisen und Denkfabriken mitgearbeitet und an Beiratssitzungen teilgenommen. Ich habe Ideen gehört, Ideen eingebracht, habe kluge und ehrliche, überzeugte und logische, oberflächliche und opportunistische, dumme und richtige, manchmal fast weise Pro- & Kontra-Argumente gehört und dabei ist mir immer deutlicher klar geworden: Es fehlt etwas Entscheidendes.
Keine beseelten Visionen
Ich habe unzählige Abhandlungen, Kommentare und Leserbriefe, Glossen, Werbebroschüren und Statistiken und Dutzende Bücher zum Thema gelesen. Ich habe EU-Werbefilme gesehen und in solchen mitgewirkt, habe Festakte besucht und Reden gehört, europäische und nationale Parlamentsdebatten mitverfolgt, ich habe EU-Wahlaufrufe gelesen und lese sie derzeit wieder. Ich habe Europapolitiker kommen und gehen gesehen, und dabei ist mir immer deutlicher klar geworden: Es fehlt etwas Entscheidendes.
Es mag alles richtig sein, was Europa war, was es werden soll, was es ist, was es sein kann, was es nicht ist und was es noch nicht ist. Es mag richtig sein, was versäumt, verraten, verspielt, was von Kritikern klug und dumm, wahr und widerlegbar, gemeint, gelogen oder verfälscht dargestellt wird.
Es mag richtig sein, was zu den diversen Egoismen, etwa zum anhaltenden Europa-Verrat durch unsere nationalen Kleinhäuslerpolitiker, zum Entstehen der Krisen und ihrer Meisterung gesagt, geschrieben, geforscht, getan und nicht getan wird. Und auch im Europawahlkampf mag alles richtig sein, was behauptet wird, und es mag auch das Gegenteil richtig sein. Und doch fehlt überall etwas Entscheidendes: Es fehlt Leidenschaft, es fehlt Herz, es fehlt Seele. Ich habe noch nie im Zusammenhang mit dem Projekt der europäischen Einigung das Wort Herz gehört oder gelesen. Ich habe nie Leidenschaft gespürt, nie Seele. An den Wahlslogans 2014 lässt es sich wieder ablesen. Und leidenschaftslos, seelenlos waren Visionen, große Ideen und Konzepte noch nie nachhaltig umzusetzen.
Ob mit oder ohne Krise: Es braucht keine neue, keine bessere Union, es braucht zuerst einmal die Zustimmung der Menschen. Aber ohne beseelte Vision, ohne Leidenschaft, ohne Verstand und Herz werden 500 Millionen Menschen nicht nachhaltig zu gewinnen sein, ist keine Krise zu meistern. Weil Menschen ein Bedürfnis haben nach immateriellen emotionalen Bezügen und dieses Bedürfnis keinem Wandel unterliegt. Es ist ungebrochen.
Europa ist work in progress
So viel ein vereintes Europa geben kann und gibt, es ist im Aufbau, ist ein work in progress. Und das ist nun einmal nichts, woran sich die Menschen festhalten können. Dabei geht es derzeit drunter und drüber, und es stimmt an allen Ecken und Enden noch nicht. Deswegen wird nur mit Verstand und Herz der Glaube nachhaltig zu stärken sein, dass Europa Ideal und nicht Gefahr, dass Europa nicht das Problem, sondern die Lösung ist.
Gerade weil es derzeit keinen Grund für Enthusiasmus gibt, gilt es für alle, die Europa nicht nur als Möglichkeit sehen, sondern an Europa mit seinen Schwächen, Schwierigkeiten und Fehlern glauben, trotzdem glauben, diesen Glauben als Auftrag anzunehmen, ihn als Überzeugung zu demonstrieren und mit Emotion und Leidenschaft zu verteidigen, ihn mit Verstand und Herz vorzuleben und beseelt und beherzt ein paar Schritte nur zu tun vom Kopfprojekt zum Herzprojekt.
Nur so werden sich auch die Herzen der Menschen gewinnen lassen und ein Wandel wird sich vollziehen. Denn nur durch innere Wandlung wandelt sich das Außen, auch wenn es noch so langsam nachfolgt.
Ohne dieses Vorbild, ohne Leidenschaft, ohne Herz werden die Bürger die Schwierigkeiten auf der spannenden europäischen Reise nicht nachhaltig mittragen. 500 Millionen Menschen müssen begeistert werden. Und wie sich zeigt, gelingt dies nicht über den Verstand, nicht über das Argument, nicht über Vernunft und Fakten, nicht über Profit und alle Benefits, welche die Vereinigung jetzt schon bietet – und somit auch nicht über die Wirtschaft allein.
Alle Fehler schon gemacht
Ich sage das bewusst naiv und simpel. Man möge mich als realitätsfernen Träumer belächeln, dem die Komplexität nicht bewusst, dem der Ernst der Lage nicht klar ist, der die harten Tatsachen negiert, der keine Ahnung hat von täglicher Realpolitik. Aber ich bin überzeugt, Begeisterungsfähigkeit, Opferbereitschaft, Hingabe, Beseeltheit, Zugehörigkeitsgefühl und Solidarität erwachsen nicht aus dem Verstand, nicht aus dem Kopf.
Sehr wohl wussten und wissen das die Antidemokraten, die Nationalisten bis hin zu den Diktatoren. Gerade dieser Kontinent, in dem jede einzelne Grenze mit Blut gezogen ist, hat dies leidvoll erfahren müssen. Weil Europa alle Fehler schon einmal begangen hat, wissen wir, wie niederträchtig und todbringend in der europäischen Geschichte Emotionen, Leidenschaft, Herz und Pathos schon missbraucht wurden. Die Gefahr dieser Geister scheint dabei heute weniger gebannt zu sein als je.
Wer selbst nicht brennt . . .
Gerade darum aber plädiere ich dafür, Leidenschaft und Emotion nicht all den Rückwärtsgewandten, nicht den Europagegnern, nicht dem Boulevard, nicht den Demagogen und den Populisten, nicht den Verhinderern und antidemokratischen Zündlern zu überlassen. So widerlegbar ihre Argumente auch sein mögen, sie zielen dennoch meist direkt ins Gemüt, ins Herz der Menschen, und genau deswegen beeindrucken sie viele nachhaltig.
Es braucht kein neues Europa jenseits der Krise. Es braucht den Mut, beseelt, ehrlich und offen, mit Emotion, mit Leidenschaft und Herz für das laufende Projekt, für die Vision eines vereinten Europa einzutreten, negativen Emotionen nicht nur mit dem angeblich besseren Argument, sondern mit positiven Emotionen zu begegnen, weil Gefühl, weil Herz und selbst Pathos nur dann von Übel sind, wenn sie bewusst missbraucht werden.
Europa vorleben mit Verstand und Herz von den Parlamenten bis in die Gemeindestuben, von den Universitäten bis in die Volksschulen. Europa vorleben mit Verstand und Herz vom elitärsten Symposium bis zu den Stammtischen.
Ein Mann, dem es allerdings nicht bewusst sein konnte, dass er bis heute einer der großen Europäer ist, der römische Feldherr und Philosophenkaiser Marc Aurel, fasst mein Plädoyer in dem einem Satz zusammen: Wer selbst nicht brennt, kann bei anderen kein Feuer entfachen!
Miguel Herz-Kestranek (* 1948 in St. Gallen) ist Schauspieler, Synchronsprecher und Buchautor. Er hat über 100, zum Teil internationale Fernseh- und Filmrollen und mehrere Dutzend Theaterrollen gespielt. Er engagiert sich in der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik und im BürgerInnenforum Europa 2020. [ APA ]