Von Martin Selmayr und Paul Schmidt
Die EU muss immer auch als soziale Union gesehen werden. Leider kommt diese Sicht nicht immer bei den Bürgerinnen und Bürgern an. Das muss sich ändern.
“Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt”, konstatierte der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors vor dem Start des gemeinsamen europäischen Marktes im Jahr 1993. Er hat die Attraktivität des Projekts unterschätzt: 30 Jahre später wird dem Binnenmarkt bei Jubiläumsfeierlichkeiten große Zuneigung entgegengebracht, und das in erster Linie von Unternehmen, denen er uneingeschränkten Marktzugang von Finnland bis nach Portugal bietet.
Aber nicht nur das. Auch EU-Bürgerinnen und -Bürger freut es, dass sie überall in der Union leben und arbeiten können – und in jedem Mitgliedstaat ein hohes Schutzniveau vorfinden. So regelt die EU-Arbeitszeit-Richtlinie, dass die durchschnittliche Arbeitszeit im Zeitraum von sieben Tagen 48 Stunden einschließlich Überstunden nicht überschreiten darf. 2022 einigten sich die EU-Gesetzgeber auf einen EU-weiten Rahmen für angemessene Mindestlöhne. Kollektivvertragsverhandlungen zwischen den Sozialpartnern, wie sie in Österreich seit Jahren erfolgreich praktiziert werden, gelten dabei als Vorzeigemodell. Das Prinzip “gleicher Lohn für gleiche Arbeit” ist sogar Primärrecht, sprich im EU-Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verankert.
Stiefmütterlich behandelt
Und dennoch wird die Europäische Union in der öffentlichen Debatte oft als reine Wirtschaftsunion wahrgenommen, die soziale Belange stiefmütterlich behandelt. Ein Grund dafür: Vieles, das die Europäische Union tut, kommt nur auf Umwegen bei den Bürgerinnen und Bürgern an – wird also nicht als EU-Initiative wahrgenommen. Die Umsetzung von sozialen EU-Gesetzen erfolgt durch nationale Vorschriften. Die Mittel, welche die EU über diverse Förderprogramme bereitstellt, werden von nationalen oder regionalen Stellen ausbezahlt. Ein Lösungsansatz: Ein verstärktes “Wir-Gefühl” in der europäischen Politik, das auch kommunikativ nach außen getragen wird. Viele Errungenschaften sind nicht Brüssel oder Wien oder St. Pölten zu verdanken, sondern dem Zusammenspiel der europäischen, nationalen und regionalen Ebene.
Gemeinsam gibt es auch noch viel zu tun. Das zeigt etwa die Einkommensschere zwischen Männern und Frauen: EU-weit verdienten Frauen im Durchschnitt zuletzt um 13 Prozent weniger als Männer, in Österreich waren es sogar fast 19 Prozent.
Eine wichtige Rolle kommt bei der Ausgestaltung der Europäischen Union den Sozialpartnern zu. Das hat auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer Rede zur Lage der Union am 13. September prominent hervorgehoben. Gemeinsam mit der belgischen EU-Ratspräsidentschaft wird sie 2024 einen Gipfel mit den Sozialpartnern im belgischen Val Duchesse abhalten.
Vieles in nationaler Hand
Faktum ist, dass bei allen EU-Initiativen soziale Aspekte mitgedacht werden. Prominentes Beispiel ist der europäische Grüne Deal, der Europa bis 2050 klimaneutral machen soll. Um einkommensschwache Gruppen bei der grünen Wende zu unterstützen, hat die EU einen rund 87 Milliarden Euro schweren Klima-Sozialfonds eingerichtet. Und der EU-Aufbauplan hilft hierzulande, den Umstieg von Öl- und Gasheizungen auf klimafreundliche Alternativen zu stemmen. Die vieldiskutierten EU-Unternehmensregeln für die Achtung der Menschenrechte und der Umwelt in globalen Wertschöpfungsketten – kurz EU-Lieferkettengesetz genannt – geben Zeugnis davon, dass Europa über seine Grenzen hinaus Druck für faire Arbeitsbedingungen macht.
Klar ist: Viele Kompetenzen in der Sozialpolitik sind nach wie vor in nationaler Hand. Und einige prominente Forderungen, wie zum Beispiel eine Rückversicherung für die nationalen Arbeitslosenversicherungssysteme, harren seit Jahren ihrer Umsetzung. Dass die Harmonisierung von Sozialvorschriften in der EU vom Rat – dem Gremium der EU-Mitgliedstaaten – in vielen Fällen noch einstimmig beschlossen werden muss, macht die Verabschiedung neuer Regeln nicht leichter. Aber klar ist auch, dass es viel zu kurz greift, die Union als Wirtschaftsunion zu betrachten. Wer das tut, verkennt ihr Wesen. Die Kohäsionspolitik, sprich die Förderung strukturschwacher Regionen, auf die rund ein Drittel des EU-Haushalts entfällt, dient beispielsweise nichts weniger als dem sozialen Ausgleich. Ein starkes, geeintes Europa ist somit eine wichtige Voraussetzung für ein soziales Europa. (Martin Selmayr, Paul Schmidt, 19.9.2023)