Europa wird’s schon richten – oder doch nicht? (Gastkommentar, Der Standard)

Wird der Europatag am 9. Mai 2021 in ganz besonderer Erinnerung bleiben? Inmitten der Corona-Pandemie, die die Europäische Union weiter fest im Griff hat, startet an diesem Tag die Konferenz zur Zukunft Europas. Diese hätte, laut einem ihrer prominenten Ideengeber, dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, eine zweijährige, europaweite demokratiepolitische Übung werden sollen, die es allen EU-Bürgerinnen und -Bürgern ermöglicht, die künftige Ausrichtung Europas mitzugestalten. Alles sollte schonungslos auf den Tisch gelegt, konkrete und ambitionierte Reformschritte initiiert, kein Thema – auch etwa mögliche EU-Vertragsänderungen bis hin zu einer Neugründung der Union – ausgespart werden.

Von diesen hohen Ansprüchen, so ehrlich muss man sein, ist aktuell nicht viel übrig geblieben. Das Rund-um-die-Uhr-Corona-Krisenmanagement lässt wenig Spielraum für andere Themen, geschweige denn Zukunftsvisionen. Zu groß sind zudem die Meinungsverschiedenheiten zwischen den EU-Hauptstädten bezüglich Fragen der Realpolitik wie auch des weiteren Weges der europäischen Integration.

Keine leichte Übung

Trotzdem will sich die EU nun der Zukunftsdiskussion stellen. Was aber ist realistischerweise von dieser zu erwarten? Auf derKonferenz zur Zukunft Europas wird die Zukunft Europas nicht neu geschrieben werden. In einer reduzierten Laufzeit von zwölf Monaten wird die europäische Welt nur schwer aus den Angeln zu heben sein. Allein schon ihr institutioneller Aufbau zeigt, wie komplex die europäische Zusammenarbeit sein kann. Dass es in Pandemiezeiten kaum zu direkter Begegnung und zum Austausch unter den Menschen kommen wird, macht die Übung nicht leichter.

Darüber hinaus fehlt es bis dato an breiter Unterstützung aus den europäischen Regierungsvierteln, die aber notwendig ist, um größere Veränderungen einzuleiten und umsetzen zu können. Erst im März haben ein Dutzend Mitgliedstaaten, darunter Österreich, eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, in der sie zwar die Zukunftsinitiative begrüßen, gleichzeitig jedoch betonen, dass die Konferenz Reformen des bestehenden Gesetzgebungsprozesses und eine Neuaufteilung der interinstitutionellen Zuständigkeiten außen vor lassen und generell zu keinen neuen rechtlichen Verpflichtungen führen sollte.

Überzogene Forderungen

Europäische Zukunftsdiskussionen leiden darunter, dass sie häufig mit überzogenen politischen Forderungen überfrachtet werden, die an sie gerichteten hohen Erwartungen aber eben nur selten erfüllt werden können. Denn vor wirklich einschneidenden Änderungen verlässt so manche, die öffentlichkeitswirksam gerne Reformen einfordern, dann doch wieder der Mut. Die Diskussion dreht sich im Kreis: Europa soll richten, was es so – ohne ausreichende Kompetenzen und mit begrenztem Mandat – gar nicht richten kann. Enttäuschungen sind somit vorprogrammiert, führen zu weiteren innereuropäischen Dissonanzen, und die europäische Handlungsfähigkeit wird dadurch alles andere als verbessert.

Es ist nun mal, wie es ist: Tatsächliche Erneuerungen können gegen stark divergierende Interessen der Mitgliedstaaten nicht durchgesetzt werden. Wenn es in etlichen EU-Hauptstädten kein gesteigertes Interesse daran gibt, bleibt ein europäischer Integrationssprung bis auf weiteres Wunschdenken. Und trotzdem ist es gut, dass die Zukunftsdebatte nun loslegen kann. Sie ermöglicht jedenfalls, dass außerhalb der gewohnten Komfortzonen mehr über Europa gesprochen wird. Sie hat das Potenzial, Menschen zusammenzubringen, von der Vielfalt an Meinungen zu profitieren und der Zivilgesellschaft als gleichberechtigtem Partner eine stärkere Stimme zu geben. Die europäische Integration lebt von Dialog, Demokratie und dem Wettbewerb konstruktiver Ideen. Neue Impulse wären gerade abseits der Tagespolitik nötig.

Hohe Hürden

Die Konferenz zur Zukunft Europas wird vielleicht keine schöne, neue Welt schaffen. Dafür sind die Hürden zu hoch. Dem ungeachtet sollten so viele Europäerinnen und Europäer wie möglich daran teilnehmen. Je mehr und intensiver debattiert wird, desto besser. Je höher die Beteiligung, desto weniger können die Ergebnisse ignoriert oder verwässert werden. Die Diskussion könnte nicht zuletzt wichtige Impulse für die Europawahlen 2024 geben und den öffentlichen Druck erhöhen, dass zumindest das EU-Wahlrecht rechtzeitig reformiert, das Spitzenkandidatenverfahren zur Wahl des Präsidenten der EU-Kommission neu aufgesetzt wird und auch transnationale Wahllisten das Licht der Welt erblicken.

Mit einer ergebnisorientierten Zukunftsdebatte, die das öffentliche Bewusstsein für das Notwendige und Machbare schärft, wäre schon viel gewonnen. Jeder und jede von uns kann an diesem Prozess mitwirken und ihn letztlich mitbeeinflussen: Indem wir die europäische Verantwortung aller politischen Akteure transparent machen und einfordern. Indem wir diese Zukunftsdiskussion als Chance nützen, vermehrt ins Gespräch zu kommen und indem wir uns auch selbst darum kümmern, dieses Europa mit unseren Ideen schrittweise zu formen und zu verbessern.

Paul Schmidt

Fotocredit: © European Union, 2021. Source EC – Audiovisual Service