Jean-Claude Juncker und Emmanuel Macron haben ihre Vorschläge für eine Reform der EU längst auf den Tisch gelegt. Der eine versucht die unterschiedlichsten Interessen der Mitgliedstaaten unter einen Hut zu bringen, der andere skizziert neue europäische Horizonte scheinbar ohne rote Linien. In Berlin jedoch herrscht – schon seit Beginn des Wahlkampfs im Sommer – Funkstille. Während in den erfolglosen Erstgesprächen von CDU/CSU, Grünen und FDP das Thema Europa unter “ferner liefen” behandelt wurde, kommt ihm im aktuellen Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD immerhin ein höherer Stellenwert zu. Das ist ein Anfang.
Pole-Position verloren
Doch Deutschland wird weiterhin vorgeworfen, sich zu wenig um die EU-weiten Konsequenzen des eigenen Handelns zu kümmern und den Entwicklungen in der europäischen Nachbarschaft nicht gebührend Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Berlin scheint im Ringen um eine neue Regierung vor allem mit sich selbst beschäftigt. In der Debatte um die Zukunft Europas hat es die Pole-Position abgegeben. Paris gibt das Tempo vor. Einer zukünftigen deutschen Regierung bleibt die Möglichkeit, pragmatisch Kompromisse zu suchen, so das Land nicht als Bremser dastehen will.
Mit Macron hat Frankreich jedenfalls europäische Strahlkraft gewonnen und ist derzeit konkurrenzlos. Die liberale Stimme der Briten geht verloren, und das politische Gewicht Spaniens und Italiens ist – auch aufgrund der zu verdauenden Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise – relativ begrenzt. Macron weckt große Erwartungen, die es erst zu erfüllen gilt, während Merkel womöglich vor ihrer letzten Legislaturperiode steht.
Man muss nicht alle seine Ansichten teilen, die Umsetzung seiner ambitionierten Vorschläge verursachen weitere Kosten und auch Bürokratie, aber der Mann im Élysée gibt dem Reformprozess Schwung und versteht es, strategische Allianzen zu schmieden. Geht es nach Paris und Berlin soll vor allem der deutsch-französischen Partnerschaft – gerade nach dem Brexit – wieder eine Schlüsselrolle zukommen. Die oft gegensätzliche Sichtweise der beiden Länder verlangt es ihnen ab, in Kompromissen zu denken. Waren die deutsch-französischen Unterschiede einmal überwunden, dann konnten in der Regel auch andere EU-Mitgliedstaaten den Vorschlägen etwas abgewinnen.
Heterogene Interessen
Einen Automatismus gibt es allerdings nicht. Die deutsch-französische Achse wird heute für die Mehrheitsfähigkeit ihrer Vorschläge Überzeugungsarbeit leisten müssen. Denn die Heterogenität europäischer Interessen und gesellschaftspolitischer Entwicklungsstadien ist eher größer als kleiner geworden. Und die europäische Integration hat ein Stadium erreicht, in dem sie immer stärker in nationalstaatliche Kompetenzbereiche hineinwirkt: Die derzeitige Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion schmälert haushaltspolitische Spielräume, Asyl- und Migrationsfragen warten auf europäische Antworten, der wachsende Standortwettbewerb führt zu Divergenz, und Fragen der sozialen Sicherung und der Steuerpolitik erschweren letztlich den Konsens unter den EU-Mitgliedern.
Daher muss die Debatte über die zentralen Herausforderungen unserer Gesellschaft verstärkt geführt werden. Mit dem Ziel, unterschiedliche nationale Befindlichkeiten – derzeit insbesondere zwischen Ost und West, aber auch zwischen Nord und Süd – besser zu verstehen und auszugleichen. Investitionen in Bildung und nationale Zukunftsdialoge kommt hier eine entscheidende Rolle zu, um schlussendlich der Herausbildung einer europäischen Gesellschaft eine Chance zu geben. Das deutsch-französische Tandem könnte auch hier als Integrationsmotor fungieren.
Das aktuelle Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD kommt dabei einigen französischen Vorschlägen gezielt entgegen. Bemerkenswert ist, dass Berlin und Paris schon jetzt ihre Bereitschaft erklären, die EU finanziell zu stärken, damit sie ihre Aufgaben wahrnehmen kann. Betont wird unisono, dass demokratische wie rechtsstaatliche Werte und Prinzipien noch konsequenter als bisher innerhalb der EU durchgesetzt werden müssen. Auch die soziale Dimension der Zukunftsdebatte wird von Berlin und Paris gemeinsam forciert. In einem Sozialpakt sollen soziale Grundrechte und das Prinzip des gleichen Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Ort in Europa gestärkt werden.
Im Fokus stehen sowohl Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen als auch die Bekämpfung von Lohn- und Sozialdumping, ein Rahmen für Mindestlöhne und die Entwicklung nationaler Grundsicherungssysteme. Mobilität soll fair sein und missbräuchliche Zuwanderung verhindert werden. Steuerdumping, -betrug und -vermeidung sollen unterbunden, Gewinne dort besteuert werden, wo sie anfallen. Gefordert werden eine gemeinsame, konsolidierte Bemessungsgrundlage, Mindestsätze für Unternehmen. Die – jahrelang verhandelte – Einführung einer Finanztransaktionssteuer soll endlich zum Abschluss gebracht werden. In der Flüchtlings- und Migrationspolitik setzen Berlin und Paris auf humanitäre Verantwortung sowie eine bessere Steuerung der Migration. Neben der Bekämpfung der Fluchtursachen steht der Schutz der Außengrenzen ebenso wie die solidarische Verantwortungsteilung in der EU im Mittelpunkt. Beide Seiten erteilen Protektionismus, Isolationismus und Nationalismus eine klare Absage. Dagegen wird ein Fokus auf den Ausbau von EU-Austauschprogrammen gelegt.
Unterschiedliche Richtungen
Während Macron jedoch seine Vorstellung einer europäischen Integration mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten forciert und den Euroraum als Kerneuropa sieht, warnen deutsche Stimmen vor gänzlich unterschiedlichen Integrationsrichtungen. Der französische Präsident betont zwar die Vorteile geteilter Souveränität und fordert transeuropäische Listen für die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament. Die gemeinsame Außenpolitik bleibt dabei aber ausgespart: Beschworen wird der Multilateralismus, produziert werden Alleingänge.
Macron dirigiert dieses euro- päische Zukunftskonzert. Dass sich etliche seiner Reformideen im deutschen Sondierungspapier wiederfinden, ist ein weiterer Beleg dafür. Auch wenn es gelingt, sich wirtschaftspolitisch anzunähern, werden sich die Reibungsflächen zwischen den unterschiedlichen europäischen Integrationsvorstellungen nicht so schnell in Luft auflösen. Eine handlungsfähige und europapolitisch visionäre deutsche Bundesregierung könnte jedoch einen erheblichen Beitrag leisten, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schließen.