Ja, da war ganz sicher etwas. 2014 wurden erstmals nur Personen, die im Vorfeld als EU-Spitzenkandidaten ihrer Parteien in den Europawahlkampf gezogen waren, vom EU-Parlament für das Amt des Kommissionspräsidenten berücksichtigt.
Jean-Claude Juncker wurde dementsprechend, als Spitzenkandidat der letztlich stimmenstärksten Europäischen Volkspartei, vom Europäischen Rat vorgeschlagen und im EU-Parlament gewählt.
Nach den Europawahlen 2019 war aber wieder alles anders. Weder die zersplitterten parlamentarischen Fraktionen noch die im Europäischen Rat versammelten EU-Staats- und Regierungschefs konnten sich auf einen der im Vorfeld nominierten Spitzenkandidaten einigen. Als Kompromiss schlugen die Mitgliedstaaten – einstimmig – die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen, für das Amt der Kommissionspräsidentin vor.
Trotz dieser Umgehung der Spitzenkandidaten wählten die nunmehr ausgebremsten EU-Abgeordneten von der Leyen schließlich zur ersten Präsidentin der Europäischen Kommission. Um die Wogen zu glätten, machte diese einen Schritt auf die EU-Abgeordneten zu, indem sie sich in ihrer ersten Rede vor dem Plenum des Europäischen Parlaments dezidiert für eine Weiterentwicklung des Spitzenkandidaten-Modells sowie für die Einführung transnationaler Wahllisten bei den Europawahlen aussprach.
Gut eineinhalb Jahre später sollte sich, Corona hin oder her, die in den Startlöchern stehende Konferenz zur Zukunft Europas diesem Thema annehmen und über die zukünftige Ausgestaltung und bessere Funktionsweise der EU nicht nur diskutieren, sondern auch einen weiteren Integrationsfahrplan einfordern.
Die Zukunftsdebatte bietet die notwendige Gelegenheit, die unterschiedlichen Auffassungen, welche bei Fragen der Demokratie, Legitimation und Effizienz der europäischen Entscheidungsverfahren in den letzten Jahren wieder in den Vordergrund gerückt sind, zu klären. Sie bietet aber auch die Chance, Ursula von der Leyen beim Wort zu nehmen und das EU-Wahlrecht endlich zu reformieren sowie das Spitzenkandidaten-Verfahren neu aufzusetzen.
Eine Steigerung der demokratischen Legitimation der EU, eine bessere Sichtbarkeit der Kandidaten und ihrer europäischen Parteien sowie die Stärkung des Wählerwillens sind die Hauptargumente, die dafürsprechen würden.
Spitzenkandidaten, die grenzüberschreitend um Wählerstimmen werben und dazu beitragen, eine europäische Öffentlichkeit entstehen zu lassen, würden die Europawahlen weiter aufwerten und europäisieren. Schließlich macht das Spitzenkandidaten-Verfahren das Wahlprozedere des Kommissionspräsidenten transparenter und verliert dadurch den ihm bislang häufig vorgeworfenen Beigeschmack des Postenschachers hinter verschlossenen Türen.
Die Gegner des Spitzenkandidaten-Modells verweisen hingegen gerne auf dessen Scheitern bei den Europawahlen 2019. Die Hoffnung, dass durch dieses Verfahren mehr Demokratie einziehen werde und die Bevölkerung näher an die europäischen Institutionen herangeführt werden würden, habe sich nicht bewahrheitet.
Ein Grund dafür wird darin gesehen, dass sich das Spitzenkandidaten-Verfahren an den Regeln parlamentarischer Regierungssysteme orientiert. Der Parlamentarismus in der EU aber anders als in nationalstaatlichen Demokratien funktioniert. Somit würde der mit dem Spitzenkandidaten-Verfahrenen eingeschlagene Weg einer engeren Anbindung der Kommission an die Parlamentsmehrheit in die falsche Richtung führen.
Obwohl das Ergebnis der Europawahlen 2019 bei der Ernennung der EU-Kommissionspräsidentin letztlich nicht berücksichtigt wurde, sollte das Spitzenkandidaten-Verfahren nicht aufgegeben werden. Die Grundidee dahinter, nämlich die Europawahlen an die Kommissionspräsidentschaft zu koppeln und damit die demokratische Legitimation der EU als Ganzes zu erhöhen, ist als eine von vielen dringend nötigen und zukunftsweisenden Reformen auf EU-Ebene zu werten.
Fehlende Mehrheiten sind hauptverantwortlich dafür, dass es bis dato keine transnationalen Wahllisten gibt. Diese wären allerdings ein Schlüsselelement der bereits seit längerem geforderten EU-Wahlrechtsreform, welche wiederum unabdinglich ist, um das Spitzenkandidaten-Verfahren auf ein festes Fundament zu stellen. Aber um kompromissfähige Mehrheiten muss in Europa stets neu gerungen werden.
Es wäre an der Zeit, breit für diese Idee zu werben, um sie bis zu den nächsten Europawahlen 2024 auch umsetzen zu können. Der Worte sind zwar nie genug gewechselt, lasst uns trotzdem Taten sehen.
Paul Schmidt
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