Impfung: Hat die EU wirklich versagt? (Gastkommentar, Die Presse)

Zu spät entschieden, zu zögerlich verhandelt, zu wenig bestellt. So oder so ähnlich lautet derzeit die Kritik an der gemeinsamen Impfstoff-Beschaffung der EU und ihrer 27 Mitgliedstaaten. Wurde also alles falsch gemacht? Sicherlich nicht.

Keine Frage: Die Verhandlungen hätten schneller und vorausschauender geführt werden sollen, die Zulassung rascher erfolgen sollen. Aber die EU ist eben kein Nationalstaat. In die Entscheidungsprozesse sind alle 27 Mitglieder involviert, und ob man will oder nicht, diese setzen in der Pandemie unterschiedliche Maßstäbe und Prioritäten.

Die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene ist kein Zielsprint, sondern gleicht eher einem Marathon, bei dem in der Staffel versucht wird, die gesamte Strecke gemeinsam zu bewältigen. Und dass Sicherheit und Vertrauen in die zugelassenen Impfstoffe im impfskeptischen Europa höchstes Gebot sind und daher Notzulassungen wie in anderen Ländern eine Absage erteilt wurde, überrascht nicht.

Hätten wir mehr Impfstoffe bestellen sollen? Nicht wirklich. Die EU hat 2,3 Mrd. Dosen geordert und das Risiko auf ein halbes Dutzend Produzenten verteilt. Das sind mehr als vier Dosen pro Europäerin und Europäer bzw. 25 Prozent der weltweiten Impfstoffbestellungen, während in der EU rund acht Prozent der Weltbevölkerung leben. Eine noch größere Bestellmenge hätte die Produktion auch nicht beschleunigt.

Und wenn wir einfach mehr bezahlt hätten? Auch das hätte am grundsätzlichen Problem wenig geändert. Denn in den Verträgen wurden ja Liefermengen und -zeitpunkt vereinbart. Nicht nur die EU, sondern die ganze Welt kämpft derzeit mit Liefer- und Produktionsengpässen.

Wäre es daher sinnvoll gewesen, mehr auf die Produktionskapazitäten zu achten? Definitiv. Hier war man zu optimistisch. Hier gibt es akuten Handlungsbedarf, denn der Markt allein wird die enorme Nachfrage nicht stemmen können.

Also mehr „Impfegoismus“ als Lösung? Ja und nein. Bei der Produktion innerhalb der EU wäre es zumindest wichtig gewesen, Lieferketten zu sichern und Abhängigkeiten zu reduzieren. Man hat den USA und Großbritannien zu lang zugesehen, als diese Exportverbote verhängt haben. Es kann nicht sein, dass wir nicht wissen, wohin Impfdosen, die in der EU produziert wurden, exportiert werden. Andererseits wäre ein EU-Exportverbot ein falsches Signal und würde den weltweiten Zugang zu Impfstoffen nur noch weiter erschweren.

Falsche Erwartungen

Hätte die Politik anders kommunizieren sollen? Selbstverständlich. Kurz nach Weihnachten war das Stimmungsbild euphorisch. Der Eindruck wurde vermittelt, dass sofort alle geimpft werden könnten. Damit wurden völlig falsche Erwartungen geweckt. Denn noch im Herbst war man von einer späteren Impfphase ab Sommer 2021 ausgegangen. Umsichtige Kommunikation wäre ehrlicher, weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen.

Was wäre aber die Alternative zu einer gemeinsamen Vorgehensweise gewesen? Verhandelt jedes Mitgliedsland für sich und prüft Impfstoffe national, verlieren wir weiter wertvolle Zeit. Ein ineffizienter Flickenteppich an Zulassungen und innereuropäischer Wettbewerb hätte uns eine politische Krise beschert. Ein denkbar schlechter Zeitpunkt inmitten der Pandemie.

Im Nachhinein weiß man vieles besser, und womöglich haben alle Akteure Fehler gemacht. Jetzt müssen wir Nerven bewahren und jedenfalls schneller werden, bei Ausbau von Forschung, Entwicklung und der Impfstoffproduktion. Aber aller Kritik zum Trotz: Der gemeinsame Ansatz war der richtige.