Gefährliche Grenzerfahrungen für den Balkan und die EU (Gastkommentar, Wiener Zeitung)

  • Die Idee der ethnischen Neuaufteilung der Region, für die keiner die Autorenschaft übernehmen möchte, steht plötzlich wieder auf der Agenda.

In den kommenden Wochen wird wieder an den kurzen Krieg in Slowenien, die Kriegsverbrechen und das Leid im kroatischen Vukovar und die Granatenangriffe auf Dubrovnik erinnert werden. Nächstes Jahr sind es dann 30 Jahre nach dem Beginn des Krieges in Bosnien und Herzegowina, der durch massive ethnische Säuberungen und den Völkermord in Srebrenica gekennzeichnet war. In all diesen jugoslawischen Staatszerfallskriegen, bis hin zu jenem in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre im Kosovo, wurde erneut deutlich, wie folgenschwer nationalistische Exzesse und der Wunsch nach ethnisch separierten Territorien enden können. “Nie wieder!”, rief man daher in ganz Europa und bot den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens und Albanien eine friedliche und demokratische Alternative zu Nationalismus und autoritärer Herrschaft an: die Integration in die Europäische Union.

Heute brodelt es am Westbalkan gehörig. Die EU ist nicht mehr jene, die sie noch zu Beginn der 2000er Jahre war. Sie scheint stark mit sich selbst beschäftigt, Partikularinteressen stehen im Vordergrund, und so manche Mitgliedstaaten frönen offen der “illiberalen Demokratie” und einer vermeintlichen nationalen “Wiederauferstehung”. Das Versprechen der Europäisierung des Westbalkans verblasst, der europäische Enthusiasmus in der Region ist pragmatischem Realismus gewichen. Gleichzeitig gewinnt die geopolitische Konkurrenz, allen voran Autokratien wie China und Russland, an Boden. Ihr Einfluss ist Teil der heutigen Realität am Westbalkan. In dieser schon grundsätzlich schwierigen Konstellation und inmitten einer weltweiten Pandemie tauchen nun reihenweise “Non-Papers” auf, in denen über die territoriale und ethnische Neuaufteilung des Balkans sinniert wird. Zuletzt war es ein informelles – aller Voraussicht nach slowenisches – Diskussionspapier, das die Wogen hochgehen ließ.

Gezielt gestreute Grenzziehungsfantasien sorgen nicht nur in den meisten EU-Staaten für einigermaßen viel Unmut, sondern sind allen voran eines: ein offener Angriff auf all jene Prinzipien, denen sich die EU verschrieben hat. Sie sind schlichtweg ein Spiel mit dem Feuer, denn wenngleich man um rasche Distanzierung bemüht war, ist diese Katze damit aus dem Sack, und die Idee der ethnischen Neuaufteilung der Region, für die keiner die Autorenschaft übernehmen möchte, steht plötzlich wieder auf der Agenda. Wie fragil es um die politische Situation in der Region bestellt ist, zeigen die Reaktionen. Jeder Versuch einer auf ethnischen Prinzipien basierenden Neuaufteilung des Balkans und Einflussnahme von außen in territoriale Integritätsfragen kommt – positiv ausgelegt – einer besonderen Fehlleistung oder – realistisch gelesen – einem gefährlichen politischen Versuchsballon gleich.

 

Vedran Dzihic, Senior Researcher am oiip und Lektor an der Universität Wien sowie non-resident Senior Fellow an der Johns Hopkins University

Paul Schmidt, Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik und Koordinator des EU-Projekts WB2EU