Im Windschatten der US-Wahlen werden in Brüssel heute die diesjährigen Berichte zu den potentiellen EU-Beitrittskandidaten präsentiert. Früher hießen sie Fortschrittsbericht, heute von Fortschritt zu sprechen wäre wohl doch vermessen. Zu sehr steckt Sand im Getriebe der Erweiterungspolitik, angesichts der Hiobsbotschaften aus der Türkei scheint das Getriebe gar schon lahmgelegt.
Die EU-Erweiterung, einst Aushängeschild im Integrationsprozess, ist derzeit zu einem Schattendasein verdammt. Es mangelt ihr an öffentlicher Zustimmung und politischem Willen. Während der erstmalige Austrittsprozess eines Mitgliedslandes groß thematisiert wird, breitet man über die Perspektive neuer Beitritte den Mantel des Schweigens. Zu unpopulär ist die Erweiterung, auch in Österreich, wo laut der neuesten Meinungsumfrage der Gesellschaft für Europapolitik nur zehn Prozent den türkischen und etwa 25 Prozent den EU-Beitritt der Westbalkanstaaten befürworten.
Problem Türkei
Am Beispiel der Türkei sind die Probleme der Erweiterungspolitik – und der EU insgesamt – am besten zu erkennen. “Bei einem Ohr rein und beim anderen wieder raus”, konterte Präsident Erdogan der scharfen EU-Kritik an der neuesten Verhaftungswelle in der Türkei. Autoritäre Staatschefs scheuen sich immer weniger, den europäischen liberal-demokratischen Konsens, dessen zentraler Teil auch die Erweiterungspolitik ist, offen anzugreifen.
Das Modell des liberalen und demokratischen Europa hat global, aber auch in der europäischen Nachbarschaft – und zum Teil innerhalb der EU selbst – illiberale und autoritäre Herausforderer bekommen. Man bediene sich demokratischer Wahlen und geriere sich als großer Demokrat. Diese populär-autoritäre Demokratie-Mimikry hebelt allerdings die Demokratie aus und lässt die EU ratlos zurück. Ja, man kann die EU-Verhandlungen abbrechen, Handelssanktionen ausrufen und Vorbeitrittshilfen kürzen. Aber was dann? Die EU hat noch kein erfolgreiches Rezept gegen “moderne Autokraten” gefunden, die mit der stets vorgeschobenen Legitimierung durch das eigene Volk Kritik zurückweisen. Höchste Zeit, klare Grenzen zu ziehen und nach Alternativen im Denken und Handeln zu suchen.
Schlechte Stimmung am Westbalkan
Die Türkei-Debatte wirkt sich auch negativ auf den Westbalkan aus. Dort wartet man weiterhin auf der langen EU-Beitrittsbank. Zumindest technisch läuft alles nach Plan. Verhandlungen werden geführt, neue Kapitel geöffnet, Beitrittsgesuche angenommen. Gerade in dieser bürokratischen Abwicklung ist allerdings der Hund begraben. Ja, Montenegro macht Fortschritte. Serbien hat neue Verhandlungskapitel geöffnet. Sogar der bosnische Beitrittsantrag wurde akzeptiert.
Gerade am Beispiel Bosnien zeigt sich aber die Paradoxie des derzeitigen Erweiterungsprozesses. Rund um das Referendum in der Republika Srpska war das gesellschaftliche Klima so schlecht wie kaum zuvor. Und just in diesem Moment erfolgt der nächste Integrationsschritt. Hier wird der formale mit dem realen Fortschritt verwechselt. Belohnt werden jene, die Reformen verkünden, innenpolitisch aber trotzdem zunehmend europäische Werte mit Füßen treten.
EU intern angeschlagen
Die innere Verfasstheit der EU lässt aber an eine baldige Erweiterung ohnehin kaum denken. Die Liste der internen Probleme ist einfach zu lang. Die gegenseitige Blockade europäischer wie nationaler Politik trägt zum Vertrauensverlust bei, führt zu Polarisierung und zum Wiedererwachen nationalistischer Kräfte. In dieser Phase der riskanten Desintegrationtendenzen muss die EU ihre ganze Kraft aufwenden, einen Grundkonsens über ihre künftige Ausrichtung herzustellen.
Die Union ist angetreten, um ihren Bürgern Wohlstand, Sicherheit und Frieden zu gewährleisten. Immer mehr Menschen zweifeln daran, dass sie dazu in der Lage sei. Dabei können nur gemeinsame, konkrete und nachhaltige Lösungen die wachsende Unzufriedenheit und Hinwendung zu nationalen Scheinlösungen stoppen und die EU wieder zu einem attraktiven Rolemodel machen. Dafür muss sich die Union aber konsolidieren, Kompetenzen klar definieren – und auch neue Perspektiven entwickeln.
Neuland Brexit
Mit den Brexit-Verhandlungen wird die EU – gezwungenermaßen – Neuland betreten. Auch in der Union selbst ist der Wunsch nach unterschiedlichem Ausmaß der Integration stärker denn je. Warum nicht intensiver über alternative Integrationswege nachdenken? Ein Agreement mit dem Vereinigten Königreich könnte langfristig als Blaupause für das Verhältnis der EU zur Ukraine oder der Türkei dienen. Eine schrittweise Integration könnte auch für die Westbalkanstaaten attraktiv sein, zu realistischeren Erwartungshaltungen führen und den Skeptikern einer allzu frühen Erweiterung den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Erweiterung neu denken
Die EU-Erweiterungspolitik muss sich jedenfalls neu aufstellen. Gerade in Zeiten, in denen sich die Türkei womöglich selbst aus dem Integrationsrennen nimmt, sollten wir kontraintuitiv agieren. Die EU könnte mit einer schnellen, offensiven, bisweilen mutigen, Erweiterungs- und Europäisierungspolitik am Balkan die eigene Funktionalität unter Beweis stellen. Dazu braucht es zuverlässige Partner. Die europäische Idee und jene liberal-demokratische Regierungspraxis, die mit ihr normativ einhergeht, braucht ein gesellschaftliches Substrat, das diese selbst trägt und ihre praktische Verwirklichung begleitet.
Dieses Substrat ist nicht nur in der Türkei, sondern auch auf dem Balkan zunehmend schwächer geworden. Auch hier breiten sich autoritäre Tendenzen aus und schwanken politische Parteien zwischen Pragmatismus und Demokratie- bzw. EU-Rhetorik auf der einen und der harten Hand im Inneren auf der anderen Seite. Die demokratischen Kräfte sind aber weiterhin vorhanden. Der liberal-humanistische Aktivismus in der Region, wie wir ihn in der so genannten “Farbigen Revolution” in Mazedonien oder den jüngsten Protesten in Belgrad sehen, repräsentiert diesen liberalen und emanzipatorischen Geist. Auch jene Menschen, die gegen die Politik von Erdogan eintreten, gehören dazu. Hier muss die EU neue demokratische Allianzen schmieden. Diese werden letztlich den Kern eines revitalisierten Europa bilden, an das wir fest glauben.
Paul Schmidt ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik.