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Europas Grenzen (Gastkommentar Paul Schmidt, Wiener Zeitung)

Es braucht gemeinsame Lösungen anstelle nationaler Alleingänge.
Der Umgang mit der Flüchtlingskrise zeigt Europa seine Grenzen auf. Mitgliedstaaten übergehen EU-weite Rechtsnormen, definieren europäische Werte neu und provozieren einander gegenseitig mit nationalen Reflexen. Die aktuellen Entwicklungen sind dabei Folge eines mangelnden Problembewusstseins und fehlender Geschlossenheit und Entschlossenheit. Die EU-Länder wären jedoch gut beraten, wieder zu einer gemeinsamen Vorgehensweise zu finden. Zu einer europäischen Politik, die menschliche Katastrophen auch als solche wahrnimmt und rechtzeitig darauf reagiert.
Eine der wichtigsten Errungenschaften, die Abschaffung der Grenzen innerhalb der EU, steht derzeit auf der Kippe. “Offene Grenzen” zählten bisher zu den am positivsten bewerteten europäischen Integrationsschritten – vor allem, wenn es um Reisefreiheit und Personenfreizügigkeit geht. Andererseits wurde das grenzenlose Europa – nicht zuletzt in Österreich – auch mit steigender Kriminalität, Lohndumping und eben mit Zuwanderung verbunden. In den vergangenen Monaten wurde zu wenig unternommen, um auf entsprechende Sorgen der Bevölkerung einzugehen. Dabei wäre es gerade in Krisenzeiten wichtig, mit Worten und Bildern zu deeskalieren und klarzumachen, dass vorübergehende Grenzkontrollen nur in Ausnahmefällen möglich und genau geregelt sind. Dass wir uns zum Schutz der Außengrenzen bekennen und dem Sicherheitsbedürfnis der Europäer wie jenem der Menschen auf der Flucht Rechnung tragen. Aber nicht durch den Ausbau der “Festung Europa”, sondern durch ein echtes Engagement in den Krisen- und Nachbarländern. Durch finanzielle und logistische Hilfe vor Ort sowie durch die Schaffung legaler Wege, in der EU um Asyl anzusuchen. Die faire Aufteilung von Asylsuchenden wäre ein weiterer logischer Teil eines ganzheitlichen Asylsystems.
Die Kritik an europäischem Zögern und politischer Impotenz ist selbstverständlich berechtigt. Die jüngsten Entwicklungen, aber auch bereits der Umgang mit der griechischen Schuldenkrise, haben Europas Grenzen aufgezeigt – vor allem jene in unseren Köpfen. Daraus die richtigen Lehren zu ziehen und eine europäische Außen-, Flüchtlings- und Migrationspolitik realpolitisch auch zuzulassen, wäre dringend notwendig. Es ist an der Zeit, deutliche Antworten zu geben: Europäische Werte wie Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität, Nichtdiskriminierung, Toleranz und Wahrung der Menschenrechte geben gerade jetzt Orientierung und sind unverrückbar. Irrationale Vorstellungen von ethnisch homogenen Nationalstaaten gehören der Vergangenheit an und sind weder mit der europäischen Integration noch mit einer globalisierten Welt vereinbar. Und letztlich kann ein alterndes Europa nur dann wachsen, wettbewerbsfähig bleiben und seine Sozialsysteme garantieren, wenn geregelte Migration dazu beiträgt.
Die Balance zwischen europäischer Solidarität und nationaler Souveränität muss wieder zurechtgerückt und es muss über den weiteren Integrationsweg Europas entschieden werden. Mit nationaler Abschottung und immer höheren Grenzzäunen werden wir die aktuelle Krise nicht in den Griff bekommen.