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Europa braucht Ideen statt Polemik (Gastkommentar Die Presse, 13.2.2024)

Die EU auf bürokratische Spitzfindigkeiten zu reduzieren ist ein Trugschluss.

In seiner Rubrik „Schellhorn am Samstag“ („Die Presse“, 3. Februar 2024) kritisiert der Autor vermeintliche Regelungswut und übertriebenes Klein-Klein der EU, während wirkliche Herausforderungen wie Verteidigungsfähigkeit oder Schutz der Außengrenzen unter den Tisch fallen würden, was der Zustimmung zur Union wenig zuträglich sei und in einem Rechtsruck bei den Europawahlen enden könnte.

Kritik ist stets berechtigt. Doch sie allein hilft wenig und ist in diesem Fall alles andere als fair. Die EU auf bürokratische Spitzfindigkeiten zu reduzieren und das vermeintlich Kleine gegen das große Ganze aufzurechnen, ist ein Trugschluss. Gerade in Anbetracht der letzten Krisen – von der Covid-Pandemie bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine – hat die Union sehr wohl konsequent gehandelt, sich klar positioniert und massiv unterstützt, um die Nachwirkungen abzufedern und Abhängigkeiten schrittweise zu reduzieren. Diesem Ziel dient auch der European Green Deal, der angesichts des Klimawandels nicht nur eine dringende Notwendigkeit ist, sondern auch neue Chancen bietet, im globalen Wettbewerb vorn mitzuspielen.

Es ist eben nicht „die EU“

Schellhorn bemängelt, nicht zu Unrecht, die Verteidigungsfähigkeit der EU. Genauso gut ließe sich aber erwähnen, dass sich aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine zuletzt in diesem Bereich mehr getan hat als in den Jahrzehnten davor: Allein im Jahr 2022 haben sich die Verteidigungsausgaben der EU-Mitglieder um 240 Milliarden Euro erhöht, der Europäische Verteidigungsfonds wurde massiv aufgestockt, EU und Mitgliedsländer haben der Ukraine bis dato militärische Ausrüstung in der Größenordnung von 28 Milliarden Euro finanziert. Jüngst hat Binnenmarktkommissar Breton einen 100 Milliarden Euro schweren Fonds zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie vorgeschlagen.

Auch scheint es ein schwer zu unterdrückender Reflex zu sein, bei Kritik an europäischen Entscheidungen sofort und immer „die EU“ zu nennen. Es ist aber eben nicht „die EU“, die über unsere Köpfe hinweg entscheidet. Kein Beschluss wird ohne die Mitgliedsländer, und so auch Österreich, getroffen. Das ist auch der Grund dafür, dass sich eine befriedigende Lösung bei Asyl und Migration sowie dem Außengrenzschutz derart gezogen hat. Es ist auch nicht so, dass unreglementierte Zuwanderung toleriert wird und dass jeder, „der meint, dass die Sicherheit der Grenzen der Grund für die Existenz von Staaten ist, als rechtsradikal gilt“, wie Schellhorn anmerkt. Der frisch aus der Taufe gehobene Asyl- und Migrationspakt stellt explizit den Schutz der Außengrenzen in den Mittelpunkt und wurde von allen 27 Mitgliedstaaten gemeinsam beschlossen – wobei wohl niemand in dieser Runde in Verdacht steht, rechtsradikal zu sein. Am EU-Sondergipfel im Februar wurden übrigens auch zusätzliche zwei Milliarden Euro für Migrations- und Grenzmanagement vereinbart. Vielmehr sind es nationale Eigeninteressen, die allzu oft gemeinschaftliche Lösungen verhindern. Dabei tun sich gerade jene besonders hervor, die kein Interesse an einem starken Europa haben, sondern sich ein Zurück zu mehr nationalstaatlichen Lösungen wünschen – sprich: zum gern kritisierten Klein-Klein.

Damit die EU-Wahlen nicht zu einem massiven Plus für Europaskeptiker führen, sollte man Polemik und inhaltlicher Verkürzung Ideen entgegensetzen, die uns voranbringen. Eben jenen seine Stimme geben, die diese im EU-Parlament auch einbringen, und nicht jenen, die sich durch Neinsagen auszeichnen. Nicht alles ist schwarz oder weiß. Aber die großen Fragen stehen ganz oben auf der europäischen Prioritätenliste. Wer dies nicht sehen will, nimmt die Realität nicht ausreichend zur Kenntnis.

(Paul Schmidt, Die Presse, 13.02.2024)