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EU-Erweiterung: Am Balkan führt kein Weg vorbei (Gastkommentar Paul Schmidt und Vedran Dzihic, Der Standard)

Der neue Bericht der Kommission über die Erweiterung steht an. Was Südeuropa betrifft, muss die EU ehrlich sein. Sie muss sich reformieren und darf die Hoffnungen in den Balkanländern nicht enttäuschen.

Auf dem Balkan erzählt man sich gern folgenden Witz, der zwischen Optimisten und Pessimisten in der EU-Erweiterungsfrage unterscheidet. Pessimisten meinen, dass Albanien während der türkischen EU-Präsidentschaft der Union beitreten wird. Und Optimisten eint die Hoffnung, dass die Türkei während der albanischen EU-Präsidentschaft Vollmitglied werden wird. Heute verschwimmen diese Grenzen – künftige Erweiterungsrunden sind derzeit einfach nicht realistisch oder bestenfalls in weite Ferne gerückt.
Solange die EU von Krisen geschüttelt wird und an den großen Integrationsbaustellen noch gebaut werden muss, wird sich daran auch wenig ändern. Beitrittsverhandlungen werden zwar geführt, aber bei der Aufnahme weiterer Länder wird zumindest in den nächsten fünf Jahren auf die Stopptaste gedrückt. Dies entspricht auch der Stimmungslage in der Bevölkerung: EU-weit sprachen sich im Eurobarometer vom Mai 39 Prozent für neue Mitglieder aus, 49 Prozent zeigten sich ablehnend – besonders in den Ländern der Eurozone und hier wiederum in Deutschland und Österreich. Drei Viertel der Österreicher plädieren in einer Oktober-Umfrage der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik für eine Erweiterungspause.
EU-Erweiterung und Vertiefung sollten ja eigentlich Hand in Hand gehen. Seit 2008 ist die Union allerdings im Dauerkrisenmodus und hauptsächlich mit improvisiertem Krisenmanagement und Haushaltskonsolidierung beschäftigt, ist mehr Getriebene als Akteurin des Geschehens. Die Einbindung der neuen EU-Mitglieder wurde zwar unter anderem mit dem Ausbau des Schengenraums und der Liberalisierung der Arbeitsmärkte forciert. Aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Verwerfungen und der wahrgenommenen ökonomischen Divergenzen – nicht nur, aber vor allem zwischen “Alt- und Neu-Mitgliedern” – wurden diese Schritte in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch vielfach eher als Gefahr denn als Chance betrachtet. Zudem machte der zaghafte und unsichere Umgang mit der griechischen Schuldenkrise und dem Zustrom von Flüchtlingen deutlich, wie schwierig eine Entscheidungsfindung unter 28 EU-Mitgliedsstaaten jetzt schon geworden ist.
Aber welche Effekte haben diese EU-internen Entwicklungen eigentlich auf die Erweiterungskandidaten? Der kroatische Philosoph Boris Buden hat einmal die Demokratisierung der Staaten in Südosteuropa mit einem langen Drücken der Schulbank verglichen. Die bestandene Matura wäre dann gewissermaßen der EU-Beitritt, die Mitgliedschaft im Klub. Bei den Schülern, konkret den Staaten auf dem Westbalkan, also Bosnien-Herzegowina, Serbien, Mazedonien, Kosovo, Montenegro und Albanien, wächst jedoch die Ungeduld. Manche bemühen sich noch, die anderen sind nur noch beim Schummeln. Nicht alle nehmen die Schule ganz ernst, weitere meinen, dass ihnen das Abschlusszeugnis nicht sehr viel bringen wird. Ein lang andauernder Schulbesuch kann auch frustrieren und birgt Risiken in sich.
Die EU hat als großes Vorbild an Strahlkraft eingebüßt, und das liegt sicherlich auch an ihrer Politik gegenüber der Region. Die EU hat lange Zeit – eigentlich bis heute – zu viele Kompromisse mit den herrschenden Eliten gemacht, um Sicherheit und Stabilität der Region zu wahren. Da wählte man oft den konservativen Weg und war im Zweifelsfall aufseiten der politisch Mächtigen. Oft kompromittierte man damit den EU-Integrationsprozess, sich selbst und letztlich auch die eigenen, demokratischen Werte. Die EU betrieb und betreibt in Bezug auf den Balkan schon seit einiger Zeit ein technokratisches Business as usual – ein wenig Reformen, da und dort Druck, gebetsmühlenartiges Wiederholen der Hausaufgaben, die die Staaten zu erledigen haben, und das immer leiser ausgesprochene Versprechen, dass die Zukunft des Balkans in der EU liegt.
Dieser Ansatz hat in der Region zu einem spiegelbildartigen Prozess geführt, wo die alten Eliten an der Macht ebenfalls ein solches Spiel betreiben – sie versprechen Reformen, setzen da und dort welche um, aber nie zu viele; sprechen von Demokratie und konterkarieren sie oft durch ihr Handeln. Machterhalt und eigene Zukunft stehen im Vordergrund.
Ein solches doppeltes Business as usual ist riskant. Die Leidtragenden des realen Stillstands sind die Menschen dieser Staaten. Sie verlieren zunehmend die Geduld und die Lebenskraft – Apathie ist die eine Folge, Denken und Planen von Migration und Flucht aus der Region die zweite. Als Folge davon sind wir Zeugen einer Krise des Vertrauens – man vertraut nicht mehr den Institutionen, kaum den gewählten Politikern, und immer weniger auch der EU.

Nach 15 Jahren der EU-Annäherung liegen für Menschen im mittleren Alter in Bosnien, Kosovo oder in Mazedonien die möglichen Beitrittsdaten fast schon außerhalb ihrer Lebensspanne. Als Folge sinkt die Zustimmung zur EU. Noch unterstützt zwar die Mehrheit den Weg Richtung EU, dieses Vertrauen sollte man aber nicht weiter aufs Spiel setzen.
Was kann und soll die EU nun tun? Sie selbst ist für die Aufnahme von weiteren Ländern derzeit nicht bereit. Zugleich ist aber auch klar, dass an der EU-Integration Südosteuropas kein Weg vorbeiführt. Sie ist ureigenes Interesse der Union. Um Stabilität und Reformbemühungen in den beitrittswilligen Ländern nicht zu gefährden, muss die EU also die Perspektive der Vollmitgliedschaft ernster nehmen und die Kandidatenländer massiver als bisher fordern und fördern. Aufgrund der geografischen Nähe und der wirtschaftlichen Verflechtungen gilt dies insbesondere auch für Österreich.
Zuallererst muss die Union die internen Voraussetzungen schaffen, um ihre aktuellen Probleme lösen zu können. Es braucht Geschlossen- und Entschlossenheit. Verstärkte Möglichkeiten von Mehrheitsentscheidungen, klarere Kompetenzverteilung beziehungsweise einen europäischen Handlungsspielraum für all jene Fragen, die offensichtlich nicht mehr national gelöst werden können. Auch an einer deutlicheren Trennung zwischen Euro- und EU-Mitgliedschaft wird kein Weg vorbeiführen. Erst wenn die EU ihr eigenes Haus in Ordnung bringt und die Vision eines vereinten Europas mit Leben erfüllt, wird sich auch die Stimmungslage in der Bevölkerung verbessern. Dazu sind ein klarer Fahrplan, Fakten statt Vorurteile sowie politische Leadership nötig. So könnte es der EU auch wieder gelingen, jenes positive Vorbild für die Länder in der Nachbarschaft zu sein, das nachhaltige demokratische Veränderungen und Wohlstand initiieren und unterstützen kann.
Der Gastkommentar wurde in Zusammenarbeit mit Vedran Dzihic (Österreichisches Institut für Internationale Politik / oiip) verfasst.