Ein EU-Kandidatenstatus für die Ukraine? Ja, aber . . . (Gastkommentar Wiener Zeitung)

Es geht um eine zentrale geopolitische Weichenstellung.

Die Ukraine befindet sich mitten im Krieg. Keiner weiß, wie lange er dauern und wie er ausgehen wird. Gleichzeitig nimmt die Debatte um die EU-Mitgliedschaft des Landes an Fahrt auf, obgleich die Erfüllung der EU-Beitrittskriterien und die schrittweise Übernahme des europäischen Rechtsbestandes beträchtliche Hürden darstellen. Möchte man also nun wirklich Erwartungen schüren, die womöglich nicht mit der Realität in Einklang zu bringen sind? Was ist mit den Ländern des Westbalkans? Und ist die EU überhaupt bereit für eine Erweiterung?

Diese und weitere – berechtigte – Zweifel gibt es. Aber wer weiß schon, was die Zukunft bringen wird? Hier und jetzt geht es jedenfalls um eine zentrale geopolitische Weichenstellung. Um ein Zeichen der Orientierung und Unterstützung, dass die Ukraine Teil Europas ist und nicht fallen gelassen wird. Dass sie eine greifbare europäische Perspektive erhält. Dass ihr in einem existenzbedrohenden Krieg – neben der wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung – auch politisch und moralisch geholfen wird. Der EU-Kandidatenstatus ist dabei ein weiterer, wichtiger Schritt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er ist kein Endpunkt, sondern der Beginn eines Prozesses, der helfen kann, das Land zu transformieren und wiederaufzubauen. Wie erfolgreich dieser Prozess letztlich sein wird, ist heute nicht abschätzbar. Ihn nicht zu starten, wäre jedenfalls keine gute Idee.

Natürlich ist die Situation emotional aufgeladen, die internationale Dimension des Konflikts allgegenwärtig. Von der Geschwindigkeit, mit der in diesen Tagen über den Kandidatenstatus entschieden wird, können andere Länder nur träumen. Aber Ausnahmesituationen verlangen nach außergewöhnlichen Maßnahmen; dafür kann man die Ukraine nur schwer verantwortlich machen. Darüber hinaus steht der Beginn von Beitrittsverhandlungen aktuell nicht zur Debatte, der Prozess selbst könnte Jahrzehnte dauern, denn auch die Ukraine muss die Beitrittskriterien nachhaltig umsetzen. Sollte dies nicht der Fall sein, steht die Annäherung beziehungsweise kann sie sich auch wieder rückwärts bewegen. Eine Abkürzung zur EU-Mitgliedschaft wird es nicht geben.

Jetzt gilt es jedoch eine raschere Annäherung aller Beitrittsanwärter – auch jener am Westbalkan – zu ermöglichen. Eine stufenweise Integration, die sich an Reformfortschritten orientiert und signalisiert, dass sich entsprechende Bemühungen auch in konkreten Resultaten niederschlagen, würde die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik für beide Seiten flexibler und ergebnisorientierter gestalten. Auch die EU muss sich hierbei neu aufstellen, um in ihren Politiken und Strukturen etwaige zukünftige Beitritte – gerade auch, wenn es sich um ein Land mit den Dimensionen der Ukraine handelt – absorbieren zu können.

Ob es dann schlussendlich zu einer Vollmitgliedschaft oder einer anderen Art der Zusammenarbeit kommen wird, ist offen. Fest steht allerdings, dass Europa alles daransetzen muss, dem Vordringen autoritärer Gesellschaftsmodelle Einhalt zu gebieten und diesen eine attraktivere Alternative gegenüberzustellen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten deshalb ganzheitlich denken, fair agieren und vorausschauend entscheiden.